Sozialismus und die heutige Linke

GASTBEITRAG

Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Klassenkämpfe der Motor des Fortschritts sind. Von den Händlern, welche die feudale Herrschaft umgeworfen haben, somit den Weg für den Kapitalismus ebneten. Sie nutzten den Staat um die bürgerliche Revolution voranzutreiben. Später, als sozialistische Ideen aufkeimten, nutzten die Faschisten, befeuert und unterstützt von der bürgerlichen Klasse, den Staat, um diese „rote Bedrohung“ auszumerzen. Diese offene Terrorherrschaft zeigt deutlich wozu eine Klasse, die einen Staat beherrscht, in der Lage ist. Sie kann ganz Bewegungen vernichten, mit einem Fingerschnippen die unpolitische Bevölkerung zu ihrer Agenda bekehren.

Die Feinde der Revolution nutzen dieses Werkzeug seit nun schon Jahrhunderten um uns kleinzuhalten. Also wann und warum kam der Wandel weg vom Staatssozialismus bis hin zum unverhohlten, fast schon pubertären Antikommunismus?
Als die „rote Bedrohung“ Ende der 80er endgültig gebannt wurde sah sich die bürgerliche Klasse als Sieger des Kampfes. Antikommunistische Propaganda konnte ohne Zwischenrufe in den Massen verbreitet werden. Die Eltern der neuen Generation lehrten vehement, dass es alternativlos sei. Wir hätten die Wahl zwischen malochen bis man mit Ende 60 in Rente geht, oder man steht jeden Morgen um 5 Uhr in der Schlange für ein Laibbrot. Diese Alternativlosigkeit ist in unserer Generation akzeptiert und nicht hinterfragt. Wenn mal jemand aus dieser Hölle ausbricht geht die Person oft den Weg des Anarchismus.

Wieso auch nicht? Ist doch ein schöner Gedanke. Individuelle Freiheit im freien Kollektiv. Gestützt vom Hass gegen jede Autorität, Jahrzehnte langem Antikommunismus und das gute Gefühl im Bauch das richtige für alle zu wollen. Jedoch, dass individuelle Freiheit mit der Freiheit des Kollektivs nicht immer einher geht wird ignoriert. Ebenso, dass kein geschichtlicher Erfolg zu verbuchen ist.

Man kann mich jetzt falsch verstehen und sagen ich würde aktiv gegen den Anarchismus kämpfen und ein Sektentum aufbauen wollen. Das ist durch und durch falsch. Genossen und Genossinnen, egal ob sozialistisch oder anarchistisch sehe ich als Teil des Gerechten Kampfes. Ohne wenn und aber. Jedoch ist Kritikfähigkeit eines der höchsten Güter des Kampfes. Egal bei wem.

Sollte man Anarchismus auf den Müll der Geschichte werfen? Nein! Sollte man den Leninismus auf den Müll der Geschichte werfen? Nein! Alte Ideen machen neue Ideen. Allerdings ist die kritische Hinterfragung von der Sowjetunion genauso wichtig wie das Hinterfragen der CNT-FAI, den so rund wie nieder geschrieben funktioniert es nie.

Also zurück zum Punkt. Wieso sollte die Linke nicht den Staat als Werkzeug des Klassenkampfes benutzen? Weil die Sowjetunion in eine bürokratische Hölle ausgeartet ist die durch die Angst vor der Konterrevolution am Ende genau das herbeirufte, was sie verschrie? Nein. Es ist nicht schwarz und weiss. Es gibt auch lilablassblau. Rosa Luxemburg zum Beispiel war definitiv eine Staatssozialistin die offen gegen den Leninismus Kritik übte. Ein Staat? Ja. Kontrollgremien? Ja. Sowjets? Auf jeden Fall. An diesen Ideen kann man Anschluss finden wenn man vorher dem Sozialismus abgeneigt war aufgrund von den Fehlern der Sowjetunion.

Uns wird ein Werkzeug geboten um die Revolution auszuführen, zu schützen und letztendlich die Konterrevolution zu schlagen um das kollektiv der Arbeiterklasse zu befreien. Das sollten wir auch nutzen. Denn die Befreiung der Arbeiterklasse ist kein Schenkelklopfer, sondern ein Faustschlag gegen die bürgerliche Klasse. Und dieser Faustschlag muss stark sein.

Faschismus, Raumgreifung und Untergangsrhetorik

Faschismus ist eine raumgreifende Ideologie. Er ist total im Anspruch (#nototalitarismustheorie) . Man will alles, voll und ganz. Das Radikale muss noch radikaler werden, das Radikalste nicht radikal genug – so ähnlich lautet eine wiederkehrende Formulierung in Göbbels Tagebüchern, die er dann auch in der Sportpalastrede zum totalen Krieg einbringt. Der totale Anspruch ist auch eines der Elemente, das sehr häufig nicht oder nur unzureichend verstanden wird. Wenn ein Höcke davon redet, dass die AfD von ihren schwachen Elementen bereinigt werden muss, dann ist das ein Zeichen des totalen Anspruchs.

Der totale Anspruch ist es auch, warum man Faschismus allgemein und Faschist*innen im Speziellen nicht mit Diplomatie oder Gesprächen begegnen kann. Wenn der Anspruch total ist, das Ziel ein reiner Volkskörper für die starke Volksnation und die Mission von historischer Wichtigkeit, dann kann ein*e Faschist*in nie mit einem Kompromiss zufrieden sein. Dies manifestiert sich in einem beständigen Raumgreifen. Wenn das Totalste nicht total genug ist (auch diese Formulierung verwendet Göbbels), muss das Radikale radikaler werden. Bekommt ein faschistischer Akteur einen Raum, wird dieser damit nicht zufrieden sein. Von diesem Raum aus wird sofort der nächste in Angriff genommen. Bis dann theoretisch irgendwann alle Räume komplett genommen und unter Kontrolle sind. Raum meint hier nicht ein Zimmer in einem Haus, sondern eine Entfaltungsmöglichkeit. Seien es nun eine Zeitung, Talkshows, Demonstrationen, Parlamente – alles sind Räume, die den politischen Diskurs und damit die Gesellschaft mitbestimmen.

Der drohende Untergang

Aber warum tun Faschist*innen dies? Ein grundlegendes Wesensmerkmal faschistischer Ideologie ist der stetig drohende und unmittelbar bevorstehende Untergang. Genau JETZT ist die letzte Chance, die Nation zu retten. Vor allem in Deutschland wird diese völkisch gedacht, sprich ein imaginierter ethnisch reiner Volkskörper wird als Idealtypus gesehen. Die AfD bringt diese völkische Definition wieder verstärkt auf die öffentliche Bühne. Seien es nun Aussagen über unerwünschte Nachbar*innen oder die angeblich kaum auf der Straße zu sehenden Deutschen, es geht um eine rassifizierte Sicht auf die Bezeichnung „deutsch“. Und dieses „deutsch“ ist angeblich in großer Gefahr.

Faschistische Argumentation seit Beginn durchzieht genau dieser Duktus des bevorstehenden Untergangs. Dabei geht es nicht nur einfach um die Benennung eines Problems, welches man selbst dann am besten lösen könne. Der Faschismus versucht, den vermeintlich drohenden Untergang unmittelbar spürbar zu machen. Mitglieder faschistischer Organisationen sind felsenfest davon überzeugt, dass die große Katastrophe des eigenen Volkes unmittelbar bevorsteht. Der Druck des Untergangs manifestiert sich in Wahnvorstellungen, Verschwörungstheorien und teilweise körperlich spürbarer Verzweiflung. Faschistische Vordenker und Ideolog*innen sind darauf bedacht, dem eigenen Handeln eine historische Dimension zu geben. Nicht ohne Grund wird immer wieder weit in die Geschichte zurückgegriffen. Die Identitäre Bewegung begeht nicht umsonst Jahrestage historischer Schlachten und versucht eine Kontinuität zum eigenen Agieren aufzubauen. Zum Beispiel mit der Befreiung Wiens 1683. Nicht umsonst werden immer Orte besucht, an denen historische Ereignisse stattfanden. In den Berichten darüber wird dann versucht, den Geist dieser Ereignisse lebendig und spürbar werden zu lassen. Auch Höcke tut dies gerne, wie hier in Nürnberg oder vor der Wartburg anlässlich des 200. Jahrestags des Wartburgsfests. Man kann sich in Andacht gegenüber einer großen Vergangenheit üben, sich demütig gegenüber den so empfundenen Großtaten zeigen und sich selbst dann in diese Traditionslinie stellen.

Schrecken aus Prinzip

Mit Blick auf das aktuelle Geschehen wird dann ein Schreckensszenario nach dem nächsten aufgemacht. Das Land gerät außer Kontrolle, Feminismus, Homolobby, Frühsexualisierung, rechtsfreie Stadtteile, drohender Bürgerkrieg, Überfremdung, grassierende Massenvergewaltigungen, Straßenschlachten, Besatzung, Volksaustausch, drohende Auslöschung – keine Formulierung ist zu groß, um Verwendung zu finden. Auch hier sei wieder auf Höcke verwiesen, der unter Zuhilfenahme der UN-Charta zum Völkermord fragt, ob ein solcher nicht auch durch die „Multikulturalisierung eines gewachsenen Volkes“ (gemeint ist natürlich das deutsche) stattfände. Die Identitäre Bewegung sieht sich dagegen als „Verteidiger Europas“ und macht in dem, was sie als Islamisierung sehen, den Untergang der Völker Europas aus.

Diese dystopische Einstellung ist kein Zufall und zieht sich durch die Geschichte faschistischer Bewegungen. Denn die Spürbarmachung der Untergangsangst dient dazu, die Raumgreifung, den totalen Anspruch auf Staat und Gesellschaft, mit den entsprechenden Konsequenzen zu rechtfertigen. Nur eine Wiedergeburt der Nation kann hier Abhilfe verschaffen. In Deutschland ist dies untrennbar mit dem völkischen Gedanken verbunden. Nur ein gesundes deutsches Volk sei ein starkes Volk, so die einhellige Meinung in reaktionären Kreisen. Da dieses aber von vielen Seiten bedroht würde, seien radikale Maßnahmen notwendig. Je stärker der Eifer für die heilige Volksnation ist und je eindringlicher der Untergang empfunden wird, desto drastischer fallen dann die jeweils angedachten Maßnahmen aus. Wenn der Untergang schon in den nächsten fünf Jahren stattfinden soll, hilft halt außer einem Genozid nicht wirklich viel.

Warum ich Anarchokommunist bin ODER Was es heißt links(radikal) zu sein

Warum ich Anarchokommunist bin ODER Was es heißt links(radikal) zu sein

Letztens hatten wir eine kleine Umfrage zu der Frage gestartet, was links sein eigentlich für euch bedeutet (https://www.facebook.com/story.php?story_fbid=1551339901578500&id=933332503379246). Viele Leser*innen haben sich daran beteiligt. Wenn man sich die Kommentare so durchliest, ergibt sich bei allen Unterschieden und Schwerpunkten, die jede*r für sich selbst setzt, ein Gesamtbild. Für die meisten bedeutet links sein sich gegen Diskriminierung jedweder Form einzusetzen. Hört sich erstmal sehr einfach an, ist aber sehr komplex.

Denn Diskriminierung bedeutet nicht nur Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Homophobie, Speziesismus, Ableismus, Sozialchauvinismus, etc. der Faschist*innen zu begegnen. In faschistischen Systemen ist natürlich die Unterdrückung nicht genehmer Gruppen zwar am offensichtlichsten, diese sind aber nicht die einzigen. Auch wenn manche sich davon frei sprechen wollen, sind wir doch alle in einem System der Unterdrückung gefangen. Uns wird gesagt, wir hätten es gut. Vergleicht man dies mit dem 18. Jahrhundert, stimmt das sogar. Tatsächlich frei sind wir dennoch nicht. In einer Welt, in der Privilegien immer noch real sind, geht es dir auch gut, solange du nur in das System reinpasst. Zählst du aber nicht zu der privilegierten Gruppe, wird es sehr schnell sehr schwierig.

Die Gesellschaft hat zwar auch dort einige Fortschritte gemacht. Inzwischen werden Homosexuelle nicht mehr überall verfolgt und wir sind sogar so nett Einkommensschwache nicht mehr verhungern zu lassen. Auch wenn viele der Diskriminierungsformen in anderen Ländern nach wie vor bestehen, malen wir uns weiterhin aus, dass wir ja die Guten sind und unser Bestes tun, um jeder Person ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Auch wenn wir uns davon frei sprechen selbst rassistisch zu sein, gibt es dennoch so etwas wie institutionellen Rassismus. In dieser Welt haben Frauen* nach wie vor nicht die gleichen Chancen wie Männer. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Sich gegen Diskriminierung welcher Form auch immer einzusetzen, kann daher nur der erste Schritt sein.

Was also kann diesen inneren Widerspruch auflösen? Ist dieses System der Verwertung noch zu retten? Während viele sich selbst als links sehende Personen nach wie vor an die Rettung dieses Systems glauben, können wir diese Fragen nur verneinen. Nein, denn ohne Diskriminierung kann dieses System nicht funktionieren. Die Betroffenen der Diskriminierung sind dabei beliebig austauschbar. Sind nicht-weiße Menschen oftmals die am leichtesten zu erkennenden Opfer eines solchen Systems, kann es doch jede*n treffen, der nicht in das Raster der Verwertung passt. Diskriminierungen sind letztlich nur die Symptome eines kranken Systems.

Das System krankt. Die Lösung kann nur die Verwerfung des Verwertungssystems Kapitalismus sein. Marx hatte da ja schon ein paar gute Gegenideen vor ein paar Jahren. Letztlich kann man sich nur diesem System entziehen, wenn der Wert eines Menschen nicht mehr daran bemessen wird, was er für die Wirtschaft leisten kann, sondern einfach weil er ein Mensch ist. Anstatt also Whack-A-Mole mit den Symptomen zu spielen, gilt es die Probleme an der Wurzel zu greifen. Genau da ist auch der Übergang zum Linksradikalen. Wenn man sich Nazis auf Demos entgegenstellt und sich antirassistisch engagiert, kann man sich zwar auch als links bezeichnen, es greift aber eben nicht weit genug. Natürlich ist auch solch ein Engagement aller Ehren wert und sollte zum Grundkanon eine*r jeden Linken gehören.

Durch das Auseinanderbrechen des Verwertungssystems wäre der erste Schritt zur befreiten Gesellschaft getan. Auf diesen Trümmern könnte endlich die herrschaftsfreie, solidarische und egalitäre Gesellschaft errichtet werden. Kein Bekämpfen der Symptome mehr, sondern Mensch sein. Eine Utopie zwar, aber eine erkämpfenswerte. Links sein bedeutet also für mich nicht nur die Diskriminierungen temporär zu bekämpfen, sondern dafür zu sorgen, dass es diese nicht mehr gibt. Mit einem geboxten Nazi hat man zwar kurzzeitig einen Diskriminierungsfaktor beseitigt, aber der wird wiederkommen oder der Staat übernimmt an seiner Stelle durch eine andere Form der Unterdrückung. In diesem jetzigen System werden wir nicht frei sein, aber wir können träumen und weiter daran arbeiten. Vielleicht erleben wir es nicht mehr, vielleicht kommen noch viele Stolpersteine, aber abhalten lassen wir uns ganz sicher nicht.

200 Jahre Wartburgfest und die völkische Rechte

Historischer Kontext

Als am 18. Oktober 1817 etwa 500 Studenten zur Wartburg zogen, bildete dieses Ereignis innerhalb der restriktiven monarchischen Kleinstaatenlandschaft ein revolutionäres Moment. Die Studenten formulierten Forderungen nach Freiheit des Individuums, nach der Einheit einer deutschen Nation, aber auch nach Rede- und Pressefreiheit und der Lockerung der vorherrschenden absolutistischen Herrschaftsweise.

Ein Deutschland ist, und ein Deutschland soll sein und bleiben.

Der Wille des Fürsten ist nicht das Gesetz des Volkes, sondern das Gesetz des Volkes soll der Wille des Fürsten sein.

Das erste und heiligste Menschenrecht, unverlierbar und unveräußerlich, ist die persönliche Freiheit. Die Leibeigenschaft ist das Ungerechteste und Verabscheuungswürdigste, ein Greuel vor Gott und jedem guten Menschen.

Den Leibeigenen muß in der verkündeten Freiheit keine Sklaverei erwachsen. Der Mensch ist nur frei, wenn er auch Mittel hat, sich selbst nach eigenen Zwecken zu bestimmen.

Das Recht, in freier Rede und Schrift seine Meinung über öffentliche Angelegenheiten zu äußern, ist ein unveräußerliches Recht jedes Staatsbürgers.

(aus: 35 Grundsätze des 18. Oktobers 1817)

Das geschah in einer Zeit, in der die Idee einer deutschen Nation, beziehungsweise des „Deutschen“ an sich, noch jung waren. Diese Idee ist keineswegs Teil einer wie auch immer gearteten natürlichen Ordnung und auch nicht zwingende Folge germanischer Geschichte, sondern ergab sich schlicht aus mehreren zusammenfallenden historischen Faktoren, die seit dem 18. Jahrhundert zusammenfielen. [1]

Die Tübinger Historikerin Ute Planert nennt drei Prämissen, die der Ausbildung des deutschen Nationalismus zugrunde liegen:

„Zum einen scheint sicher, dass es sein Gleichheits- und Partizipationsversprechen war, das dem Nationalismus in Deutschland wie anderswo zu seinem einzigartigen Aufstieg verhalf. Zum zweiten erfuhren nationale Vorstellungen in Kriegszeiten die größte Verbreitung. Drittens ging der Anspruch auf Mitwirkung im Innern mit der Abgrenzung gegenüber allen einher, die nicht der nationalen Gemeinschaft zugerechnet wurden. Ausgrenzung fungierte als Bestandteil der Selbstkonstitution. Diese Grenzziehung implizierte in aller Regel Aggressivität – entweder gegenüber einem äußeren Gegner oder gegen einen hypostasierten „Feind“ im Innern.“ [1]

Je nachdem, so Planert, welche dieser drei Tendenzen stärker in den Vordergrund trat, nahm der deutsche Nationalismus andere Gestalt an.

Für das Wartburgfest, kurz nach den Napoleonischen Kriegen stattfindend, war gerade das Versprechen nach Gleichheit prägend, ergänzt durch eine teils aggressive Feindseligkeit gegenüber der Aristokratie – dies äußerte sich beispielsweise in der Verbrennung von Herrschaftssymbolen und – symbolisch – Schriften, die den Adel verteidigten. Allerdings spielte auch der Hass auf vermeintlich Fremdes eine Rolle. Heinrich Heine kommentierte das Wartburgfest wie folgt:

Auf der Wartburg herrschte jener beschränkte Teutomanismus, der viel von Liebe und Glaube greinte, dessen Liebe aber nichts anderes war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand, und der in seiner Unwissenheit nichts Besseres zu erfinden wußte als Bücher zu verbrennen!

(aus: Ludwig Börne. Eine Denkschrift. Viertes Buch, 1840)

Die völkische Rechte und das 200-jährige Jubiläum

In den letzten 200 Jahren hat sich nicht nur die Bedeutung studentischer Verbindungen, allen voran die Burschenschaften, für die Gesellschaft gewandelt, auch ihre Rolle in der Gesellschaft unterlag mehreren Veränderungen. Das wurde an anderer Stelle bereits dargelegt, etwa hier und hier. Hierbei sei erwähnt, dass durchaus auch heute liberale Studentenverbindungen existieren. Diese erheben aber keinen Anspruch auf politischen Einfluss und sollen daher hier nicht Thema sein.

Vielmehr soll der Fokus auf eben jene Burschenschaften gelegt werden, die am vergangenen Wochenende – verspätet – den 200. Jahrestag des Wartburgfestes gefeiert haben. Diese sind heute mehrheitlich dem Spektrum der sogenannten „Neuen Rechten“ zuzuordnen, also jener völkisch, autoritär und zumindest zum Teil faschistisch ausgerichteten Strömung, die, strategisch klug mit dem Label des Konservatismus ausgestattet, Gleichheits- und Freiheitsbestrebungen den Kampf ansagt. Schon daran wird deutlich, wie weit sie sich von den Zielen der 1817er Studentenschaft entfernt haben.

Nicht zuletzt deshalb wurde den Burschenschaften die Nutzung der Wartburg untersagt – was sie allerdings nicht davon abhielt, von ihrem offiziellen Festzelt am Burschenschaftsdenkmal loszuziehen und in einer unangemeldeten Kundgebung zumindest eine Ansprache im Burghof abzuhalten. [2] Die Rede hielt Michael Büge, der wegen seiner Mitgliedschaft in der extrem rechten Berliner Burschenschaft Gothia sein Amt als Staatssekretär verloren hatte. Ende 2016 ist Büge von der CDU in die AfD gewechselt. [3] Corinna Herold, AfD-Abgeordnete im Thüringer Landtag, verlas ein Grußwort. Darin teilte sie ihre „Verbundenheit zur Deutschen Burschenschaft und ihren Idealen“ mit. [4]

Es folgt ein Überblick über bisher bekannte Teilnehmer.

Burschenschaften

Zu jeder aufgeführten Burschenschaft ist ein Artikel verlinkt, der ihre politische Einordnung erleichtern soll.

  • Berliner B! Gothia. Artikel
  • B! Rhenania-Salingia Düsseldorf. Artikel
  • B! Thessalia zu Prag in Bayreuth. Artikel
  • Die Alte Breslauer B! der Raczeks zu Bonn. Artikel
  • Erlanger B! Frankonia. Artikel
  • Marburger B! Rheinfranken. Artikel
  • Marburger B! Germania. Artikel
  • Pennale B! Quercus-Markomannia zu Linz. Artikel
  • Grazer akademische B! Marko-Germania. Artikel
  • Grazer B! Arminia. Artikel
  • B! Brixia Innsbruck. Artikel [Interview]
  • Nationalistische Studentenvereniging Antwerpen. Artikel [Erwähnung]

Die große Beteiligung aus Österreich ist hinsichtlich des auf eine deutsche Nation bezogenen Charakters des Wartburgfestes bemerkenswert.

  • rote Pfeile: Mitglieder der Halle-Leobener B! Germania, darunter Clemens Hauser, Mitglied der Gruppe Kontrakultur Halle. Artikel
Sonstige Teilnehmer
  • AfD Thüringen, Landtagsabgeordnete, v.l.n.r.: Olaf Kießling, Stephan Brandner, Stefan Möller, Wiebke Muhsal, Corinna Herold, Bernd Höcke
  • JN Niedersachsen
  • FPÖ (Bild 3):
    • Wolfgang Jung (FPÖ, ehem. Abgeordneter im Nationalrat & Europäischen Parlament, Autor in der Aula, pennale Verbindung Bad Ischl)
    • Elmar Podgorschek (FPÖ, Landesrat in Oberösterreich, AcSV! Germania zu Ried im Innkreis)
    • Anneliese Kitzmüller (FPÖ, Abgeordnete im Nationalrat)
    • Detlef Wimmer (Chef der FPÖ Linz, Vizebürgermeister in Linz, B! Arminia Czernowitz)
  • FPÖ (Bild 4): Arthur Kroismayr (FPÖ, Vizebürgermeister in Regau)
  • Cuneus Culture: identitärennaher Modeversand von Jannick Brämer und Karsten Vielhaber. Artikel

Gerade angesichts der hier dokumentierten Teilnehmer muss davon ausgegangen werden, dass die Veranstaltung nicht nur der historischen Verklärung und der Legitimation eigener völkischer Ansichten mit eben jenen verklärten Ereignissen diente, sondern gleichzeitig die Funktion eines Vernetzungstreffens der extremen Rechten aus Deutschland, Österreich und selbst aus Belgien inne hatte.

Verweise:

Titelbild: https://www.flickr.com/photos/lukasbeyer/35225130555/in/album-72157681885934914/

[1] http://www.bpb.de/apuz/28089/nation-und-nationalismus-in-der-deutschen-geschichte?p=all

[2] http://www.deutschlandfunk.de/200-jahre-wartburgfest-nationalgedanken-damals-und-heute.691.de.html?dram:article_id=398825

[3] https://www.morgenpost.de/berlin/article208364513/AfD-Parteimitglied-vergleicht-Islam-mit-Nationalsozialismus.html

[4] http://archive.is/yzQm1

Infostände der Identitären Bewegung (Kontra Kultur) in Halle

In Halle hat die Identitäre Bewegung bereits zwei Mal in den letzten Tagen einen Infostand aufgebaut. Einmal vor dem Haus der Kontra Kultur und einmal auf dem Campus der Martin-Luther-Universität. Unterstützung kam dabei auch von Strukturen außerhalb von Halle. Wirklich überraschend ist das nicht, besteht doch eine Zusammenarbeit mit der Germania Burschenschaft am dortigen Campus. Beide Infostände wurden schnell von antifaschistischen Aktivist*innen mit Gegenprotest bedacht.

Die IB hat versucht Info- bzw. Erstiebeutel zu verteilen. Diese wurden sämtlichst beim Gegenprotest in einem blauen Müllsack abgegeben. Ein IB-Mitglied hat diesen entwendet, was eine Anzeige wegen Diebstahls zur Folge hatte. In beiden Fällen umstellte die Polizei den Stand der IB, der vor dem IB-Haus musste abgebaut werden – er war nicht angemeldet. Die Außenwirkung dadurch kaum gegeben.

Auch wenn die beiden Infostände kein Erfolg waren, ist hier eine bedenkswerte Entwicklung zu verzeichnen. Die Identitäre Bewegung versucht sich aktiv als normaler Teil des universitären Lebens zu etablieren. Faschistisches Gedankengut und Faschist*innen wollen sich damit längerfristig öffentlichen Raum sichern und auf universitäre Strukturen zurückgreifen. Hierbei wird offen nationalkonservativen, reaktionären und faschistischen Burschenschaften kooperiert.

Ähnliches wird in Österreich bereits praktiziert, über den RFS (Ring freiheitlicher Studenten) besteht eine direkte Anbindung an die faschistoide FPÖ und reaktionäre Zirkel. In Berlin bestehen Kontakte zu Burschenschaften der Freien Universität, der Gothia und der Thuringia. Diese Kontakte sind kein Zufall, sondern Teil einer Strategie, nationalistisches, sexistisches, rassistisches und faschistisches Gedankengut über universitäre Kreise aufzuwerten und zu legitimieren.

Daher ist davon auszugehen, dass Aktivitäten wie in Halle in Zukunft öfter zu beobachten sind. Interesse daran haben Gruppierungen wie die IB, die AfD/JA, Kubitschek mit dem IfS und Ein Prozent, Compact sowie diverse nationalistische Burschenschaften. Der Kampf für eine neofaschistische Deutungshoheit soll über die Hörsäle in den wissenschaftlichen Diskurs Einzug halten Seilschaften und Karrierenetzwerke aufbauen.

Quelle Bild: https://twitter.com/valentinhacken_/status/916199193450090496

Infos: https://twitter.com/rumraeubern161

Zeitungsbericht: http://www.mz-web.de/halle-saale/illegaler-infostand-halles-identitaere-bekommen-aerger-mit-der-polizei–28571708?originalReferrer=https://t.co/K5w0IvyWWu&originalReferrer=https://t.co/3LqOFD0qQ8?amp=1

 

 

Volle Konfrontation – Voll gegen die Wand

 
Der spanische Regierungschef, Mariano Rajoy, hat heute in einer vierzigminütigen Rede vor dem spanischen Parlament in Madrid auf die gestrige aufgeschobene Unabhängigkeitserklärung Kataloniens vom katalanischen Regionalpräsidenten, Carles Puigdemont, reagiert.
Bereits gestern Abend direkt nach Puigdemonts mit Spannung erwarteter Rede, hatte ein Sprecher der Zentralregierung verlauten lassen, dass die Unabhängigkeitserklärung Kataloniens inakzeptabel sei. Stimmen aus dem In- und Ausland waren sich indes nicht sicher, was Puigdemont nun tatsächlich gesagt hatte. Hatte er Katalonien für unabhängig erklärt, oder nicht? Wenn ja, hat er auch die Abspaltung erklärt?
Manche hielten seine Formulierung und sein Vorgehen für die verzweifelte Aktion eines Mannes, der mit dem Rücken gegen die Wand steht. Er musste die Regierung in Madrid besänftigen, gleichzeitig aber seine separatistischen Anhänger bei Laune halten. War es ein Zeichen von Schwäche die Unabhängigkeit Kataloniens zu erklären, diese aber direkt wieder auszusetzen?
Andere vermuten eher politisches Kalkül dahinter. Puigdemont hat nicht viel Spielraum und muss sich genau überlegen, was er macht. Ihm nützt vor allem die Konfrontation mit Madrid. Wenn die spanische Regierung weiterhin so repressiv und reaktionär auftritt, wie bisher, kann er sich und seine Anhänger als die Unterdrückten darstellen. Wenn es ein taktischer Schachzug war, ist nun die Frage, wie Mariano Rajoy darauf regiert. 
Dieser trat heute vor das Parlament und schilderte in seiner Rede die Illegalität des Referendums und warum das Ergebnis seiner Ansicht nach nichtig ist. Er sei zwar bereit zum Dialog, lehne jedoch eine internationale Vermittlung, wie sie Puigdemont vorgeschlagen hatte, ab. „Warum sollten Dritte bei uns vermitteln?“ fragte der Ministerpräsident und machte somit deutlich, dass er diesen Konflikt für eine rein interne Angelegenheit Spaniens hält.
Dann fordert er Carles Puigdemont auf, zu erklären, ob er nun Katalonien als einen unabhängigen Staat definierte habe oder nicht. Solle dies der Fall sein, könnte Rajoy den Senat damit beauftragen Artikel 155 der spanischen Verfassung anzuwenden, der es der Zentralregierung gestattet den Präsidenten und die Regierung einer autonomen Gemeinschaft, die gegen Spanien und seine Verfassung handelt, abzusetzen und die Verwaltung zu übernehmen. Im Senat besitzt Rajoys konservative Partido Popular eine absolute Mehrheit. Die Abstimmung über die Anwendung des Artikels wäre nur Formsache.
Es kommt nun darauf an, was Puigdemont genau gemeint hat, als er gestern sagte, dass er als Präsident der katalanischen Regierung das Mandat vom Volk habe, „Katalonien in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik umzuwandeln.“ Wenn er Katalonien als souverän definiert hat, so hat Rajoy die rechtliche Grundlage, um Artikel 155 anzuwenden. Da ist es unwichtig, dass Puigdemont die Unabhängigkeit ausgesetzt hat.
Abschließend bewegte sich Rajoy dann doch tatsächlich einen kleinen Schritt auf seine politischen Gegner zu, indem er sagte, er sei zu einer Verfassungsreform bereit, in der der politische Status Kataloniens geklärt werden solle. Dieser Vorschlag wurde auch von der sozialdemokratischen PSOE und ihrem Parteichef Pedro Sánchez unterstützt. Klar ist jedoch, dass ein Austritt Kataloniens aus dem spanischen Staat nicht zu Debatte stehen würde.
Hohes Risiko 
Mariano Rajoy hat das Angebot zum Dialog von Puigdemont nicht ganz ausgeschlagen, es allerdings auch nicht angenommen. Er hat die internationale Vermittlung abgelehnt und das Problem somit zur Chefsache erklärt. Mit seiner Ankündigung Artikel 155 anzuwenden, sollte Puigdemont Katalonien für unabhängig erklärt haben, hat er den reaktionärsten Weg und die härteste Antwort gewählt. Sollte Carles Puigdemont taktisch vorgehen, wie es einige vermuten, macht Rajoy erneut genau das, was dem Separatisten nützt. Wie in dem Strategiepapier für die Unabhängigkeit Kataloniens, das die Guardia Civil im September sichergestellt hat, beschrieben sucht Puigdemont den Weg der Konfrontation, da nur diese ihm nützt. Er hat keine andere Wahl. Rajoy dagegen hat freie Auswahl an Möglichkeiten. Er könnte und er sollte einen Gang runterschalten und das Angebot zum Dialog annehmen. So könnte er die Separatisten diplomatisch ausmanövrieren. Stattdessen hält er voll drauf. Volle Konfrontation und volles Risiko die Einheit Spaniens mit Anlauf gegen die Wand zu fahren.
Nicht nur die Einheit Spaniens. Auch die Einheit und die Existenz der Europäischen Union stünden auf dem Spiel, sollten es Nationalisten tatsächlich schaffen eine kleine Region abzuspalten. Die nächsten Separatisten in Flandern und Norditalien würden sich beflügelt fühlen und ihrerseits den Druck erhöhen. Rajoy und Puigdemont spielen mit dem Feuer und setzten die Zukunft einer jungen Generation aufs Spiel. Das ist das Resultat, wenn zwei Nationalisten nichts als die volle Konfrontation kennen.
 
Das Problem ist der historische Ballast
Die Reaktion Rajoys und seiner Regierung auf das Referendum vom 1. Oktober und die Forderungen der Separatisten, verdeutlichen, wo Spaniens politisches Hauptproblem liegt. Die Quelle der inneren Konflikte ist die zentralistische Regierung in Madrid. Auch wenn sich viele der Gemeinschaften mittlerweile weitläufige Autonomierechte erkämpft haben, hält die Regierung dennoch an ihrem Zentralismus fest. Dieses Relikt des Franquismus ist ein Indiz für die fehlende Aufarbeitung von fast 40 Jahren faschistischer Diktatur. Heute wird zwar in den Schulen Aufarbeitung betrieben, aber die Generationen der Eltern und Großeltern haben nach dem Tod Francisco Francos die Geschichte genauso totgeschwiegen wie die Menschen in Deutschland in der Nachkriegszeit.
Die Partido Popular von Regierungschef Rajoy ist die Partei der konservativen Eltern und Großeltern. Auch wenn sie politisch etwa wie CDU und CSU einzuordnen ist, trägt diese Partei einen gewaltigen historischen Ballast mit sich herum.
Spanien braucht mehr Aufarbeitung. Nicht nur in den Schulen, sondern vor allem auch im politischen System. Die vorgeschlagene Verfassungsreform von Rajoy wird da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein. Was wirklich nötig ist sind grundlegende Reformen der staatlichen Struktur des Landes. Der Zentralismus muss abgeschafft werden und die dritte Republik muss gegründet werden. Ein Bundesstaat in dem alle Regionen genügend Freiheiten haben. Nur so kann der Postfranquismus der Partido Popular überwunden werden. Nur so hat Spanien eine Zukunft in Einheit.
Denn ob es eine Lösung ist, wenn sich einzelne Regionen der Kleinstaaterei hingeben und somit wieder ein Zeitalter des Nationalismus einläuten, darüber lässt sich streiten. Mit einer grundlegenden Reform kann Spanien seine Probleme gemeinsam überwinden.

Keine Unabhängigkeitserklärung und eine Ansprache gegen Nationalismus

Ganz Spanien hat gespannt auf diesen Moment gewartet. Der Präsident der katalanischen Regionalregierung, Carles Puigdemont, kündigte eine Stellungnahme zum Unabhängigkeitsreferendum und der Situation Kataloniens an. Würde er es wagen die Unabhängigkeit auszurufen?
 
Die Zentralregierung in Madrid hatte bereits vorher mit scharfen Maßnahmen gedroht. Rechtliche Grundlage ist Artikel 155 der spanischen Verfassung, der es gestattet einer autonomen Gemeinschaft die Autonomierechte abzunehmen, sollte diese gegen den spanischen Staat und seine Verfassung agieren. Laut der Verfassung ist Spanien unteilbar. Eine Unilaterale Unabhängigkeitserklärung hätte die Absetzung des katalanischen Parlamentes und des Präsidenten Puigdemont zur Folge. Madrid könnte die Verwaltung Kataloniens übernehmen und Neuwahlen in der Region ausrufen.
 
Dem entsprechend groß war die Spannung vor Puigdemonts Ansprache. Das Parlamentsgebäude wurde aus Sicherheitsgründen weiträumig abgesperrt. Heerscharen von Reportern fanden sich im Sitz der katalanischen Regionalregierung ein. Dann begann Puigdemont seine Ansprache. Er repassierte die Vergangenheit der Beziehungen zwischen Spanien und Katalonien, sprach von Unterdrückung während der Franco-Diktatur und vom Prozess der Autonomiebestrebungen Kataloniens. In diversen Referenden und Abstimmungen hatte die Region sich weitreichende Autonomierechte erkämpft, gegen den Widerstand der konservativen Kräfte Spaniens. Dann kam er auf das Unabhängigkeits-Referendum zu sprechen. Er appellierte an die Regierung an Madrid Gespräche zuzulassen und verurteilte die Polizeigewalt am Tag des Referendums. „Das Katalanische Volk hat das Recht erkämpft sich zu entscheiden,“ erklärte er und schloss dann, dass er als Präsident der Regionalregierung das Mandat vom Volk habe „Katalonien in einen unabhängigen Staat in Form einer Republik umzuwandeln.“
 
Von den Plätzen der Separatisten brandet Applaus auf. Doch Puigdemont setzt die Unabhängigkeitserklärung zur Aufhebung durch das Parlament auf, um den Weg für einen Dialog mit der spanischen Regierung zu öffnen. Er verzichtet also auf die Ausrufung der Unabhängigkeit. Wie Madrid auf dieses Gesprächsangebot reagieren wird, zeigt sich morgen. Ministerpräsident Mariano Rajoy hat für 16 Uhr eine Stellungnahme zur Rede Puigdemonts angekündigt.
 
Ansprache gegen Nationalismus
Deutliche Worte gegen den Nationalismus der katalanischen Separatisten fand die Vorsitzende der liberalen Partei Ciudadanos, Inés Arrimadas, die nach Puigdemont im Parlament sprach. Sie warf der Independistas vor, zu spalten und zu teilen. „Dies war ein angekündigter Schlag gegen Spanien und die Europäische Union,“ sagte sie in Richtung Puigdemonts. Niemand in Europa habe dieses Referendum anerkannt. „Sie repräsentieren den Nationalismus, der Teilung sucht, während Europa Einigkeit bedeutet,“ feuerte sie weiter, „Sie haben sich im Jahrhundert vertan.“ Arrimadas verwies darauf, dass eine Unabhängigkeit Kataloniens das Startsignal für sämtliche anderen Nationalisten in Europa sei, ihrerseits Separatismus und Spaltung zu betreiben. 
Puigdemont schüttelt während Arrimadas Rede die ganze Zeit den Kopf, während immer wieder Applaus aus der Fraktion der Liberalen aufbrandet. 
„Spanien raubt uns nicht aus, unrauben die korrupten Politiker aus,“ fuhr Arrimada fort und nahm damit Bezug auf die Argumente der Katalanen, nach denen sie wirtschaftlich von Spanien ausgesaugt würden. „Die meisten Katalanen fühlen sich als Katalanen, Spanier und Europäer!“ schloss sie und wies somit darauf hin, dass eine Mehrheit der katalanischen Bevölkerung gegen eine Abspaltung sei.
 
Nationalismus gegen Nationalismus
Am Ende der Rede Carles Puigdemonts scheint keine schnelle Lösung des Konfliktes in Sicht zu sein. Die Nationalisten in Katalonien haben auf eine Unabhängigkeitserklärung verzichtet. Nicht aus freien Stücken, sondern eher wegen dem Druck aus In- und Ausland und Wirtschaft. Aufgeben werden sie ihren kleinbürgerlichen Wohlstandsnationalismus und ihre Kleinstaaterei sicherlich nicht. 
Auch die Zentralregierung in Madrid ist kein Hoffnungsträger für eine Entspannung des Konfliktes. Ministerpräsident Mariano Rajoy, König Felipe und andere konservative Kräfte ließen durch Sturheit, Zentralismus und Nationalismus von sich hören. Sie forderten die Separatisten dazu auf sich zu mäßigen und pochten auf die Einigkeit des spanischen Staates. Verhandlungen werde es nicht geben, ließ Rajoy immer wieder verlauten. Ob er das Angebot zum Dialog Puigdemonts annehmen wird, ist fraglich.
Der einzige Weg einer nachhaltigen Lösung wäre eine Reformation des Staates. Der Zentralismus gehört abgeschafft, Madrid muss seine Macht mit den Regionen teilen und eine Republik werden. Wie lange ein solcher Prozess dauern würde, ist ungewiss. Jedenfalls können wir die Probleme unserer Zeit nur gemeinsam lösen. Wir müssen zusammenarbeiten, neue Freundschaften schließen, anstatt neue Grenzen zu errichten. Nationalismus und Separatismus haben in unserer Zeit nichts mehr verloren. Carles Puigdemont und seine Anhänger haben sich im Jahrhundert vertan, da muss man Inés Arrimadas zustimmen.
 
Quellen: Live-Übertragung aus dem katalanischen Parlament (katalanisch/spanisch),
Live-Ticker von rtve (spanisch)

Ein paar ernste Worte zum #nzsbxn

Der Artikel ist ursprünglich im Februar 2017 erschienen
 
In den letzten Tagen – seit dem #punchanazi mit Richard Spencer, wird in der Öffentlichkeit über die Rechtmäßigkeit vom #nzsbxn debattiert. Natürlich auch hier auf bei uns auf der Seite. Bei aller Satire, allem Witz und allem Rumgeblödel müssen aber auch einmal ein paar ernste Worte zu dem Thema fallen.
 
Natürlich kann sich bestens über die bekloppten Nazi-Hoolbirnen bei der Sektion Superkrass amüsiert werden, die Kartoffeldienstage sind ja inzwischen schon eine kleine Institution. Auch sind Memes wie die kleine Anna in der Schule mit einem „Vor dem Schlafen, nach dem Essen – Nazis boxen nicht vergessen!“ lustig. Das darf aber alles nicht darüber hinweg täuschen, dass wir es hier mit Auseinandersetzungen auf Straßenlevel zu tun haben.
 
Glücklicherweise ist die Zahl der Todesopfer durch Faschoeinwirkung in den letzten 15 Jahren stark zurück gegangen und tendiert jetzt gegen null. Das macht Auseinandersetzungen aber nicht weniger gefährlich. So ein Gewaltminion mit Baseballschläger auf irgendeinem Leipziger Parkplatz am Rande der Stadt sieht zwar albern aus, dahinter steht aber eine Haltung. Schauen wir uns nur einmal den Überfall auf Connewitz vor einem Jahr an: Über 200 Faschos, Hools und Rocker aus dem rechten Spektrum verabreden sich und nehmen so viel wie es nur irgendwie geht auseinander, bevor die Cops anrücken. Viele Aktivist*innen waren beim Geburtstag von Legida und nicht im Viertel, aber es grenzt an ein Wunder, dass es keine Schwerverletzten gab.
 
Schauen wir nach Bautzen, wo es rechte Pogrome gibt und wöchentlich Aktivist*innen bedrängt, eingeschüchtert oder angegriffen werden. Das sind reale Auseinandersetzungen, keine Einbildung oder theoretischen Überlegungen. Und solche Auseinandersetzungen sind keine „Haue“ oder „Kloppe“, dass sind Kämpfe und Schlägereien. Oftmals beschränkt es sich auf verbale Attacken und Rumgeschubse. Die Linie von Konfrontation zu Kampf ist aber fließend. Vor allem wenn die Gesichter der Antifaschist*innen bekannt sind.

Waffen sind normal

 
Und es bleibt nicht nur bei Schlägen und Tritten. Es muss sich nur einmal der Materialteppich angeschaut werden, der regelmäßig bei Fußballspielen von den Hooligans geborgen wird. Da findet sich dann alles: Stöcke, Kabuten, Schlagringe, Quarzsandhandschuhe, Messer, Pfefferspray, Elektroschocker, (Schreck)Schusswaffen, Baseballschläger, Teleskopschlagstöcke und dergleichen. Und damit ist bei Auseinandersetzungen mit Faschos IMMER zu rechnen. Und da geht es nicht mal ne Schelle, da geht es ganz schnell um Intensivstation oder nicht.
 
Weiter kommt dazu, dass (auch aus dem Hool-Bereich kommend) viele Faschos Substanzen nicht abgeneigt sind. Klassiker ist dabei Tilidin und Amphetamin (z.B. Speed) in Kombination. Das Tilidin setzt das Schmerzempfinden aus, Speed putscht auf. So kommt es dann auch schon mal vor, dass ein Typ einen brennenden Bengalo mit bloßen Händen unter seine Jacke steckt und damit lachend ausm Fanblock läuft – um sich dann mit schwersten Verbrennungen im Krankenhaus wiederzufinden. Aus Tschechien und dem dortigen Grenzgebiet flutet zunehmend Crystal Meth (aka Pervitin in der NS-Zeit) die Szene und dient als billiger Aufputscher. Berichte von Personen, die auf Nase ins nächste Flüchtlingsheim marschiert sind und mal eben alle gepfeffert haben, die im Weg standen, gibt es.
 
In Leipzig zeigt sich auch um den Kampfsportveriein Imperium Fighting, dass viele Faschos ausgebildete Kampfsportler sind. Verbindungen ins Rockermilieu sind ebenfalls keine Seltenheit. Im Zweifelsfall steht da also nicht „nur“ ein besoffener Rassist vor einem, sondern eine Person mit Kampferfahrung und null Gewissensbissen.
Nicht zu vergessen ist auch, dass wir es hier mit Menschenfeinden zu tun haben. Das reicht von Rassist*innen über homophobe Arschlöcher bis hin zu Neo-Nazis mit Genozidfetisch. Kombiniert mit einer oftmals vorhanden Schlichtheit im Denken ergibt sich hier ein gefährliches Aggressionspotential. Besoffen, bewaffnet, auf Stoff, nicht diskussionsfähig und mit Menschenhass unterwegs – beste Voraussetzungen für ein entspanntes Gespräch.
 
Dementsprechend: Passt auf euch auf! #nzsbxn ist kein Hobby aus Spaß an der Freude. Das ist bitterer Ernst und kann jederzeit richtig ernst werden. Überlegt eurer Handeln gut, Selbstschutz ist hier (über)lebensnotwendig. Und macht es in antifastrukturschwachen Regionen so schwer, Aktivismus auszuüben. Respekt und Dank noch mal an alle, die es machen. Egal ob Lantifa, Stadtrantifa, Nazikiez oder Wohlfühlzone.

„Weder Rächer*innen noch Richter*innen, Befreier*innen wollen wir sein!“

Anarchismus und die Frage der Gewalt

– Ein Gastbeitrag –

„Gewalt gehört nicht in die Politik.“
Diese Maxime hat sich im politischen Diskurs als Totschlagsargument durchgesetzt. Sie diskreditiert ganze politische Gedankenkonstrukte aufgrund der gewählten Mittel zur Umsetzung. Wie also gehen wir als Anarchist*innen mit der Gewaltfrage theoretisch um?
Um einer möglichen Antwort auf diese zugegeben amibvalente Situation näher zu kommen, stellen wir uns im folgenden die Frage ob und wenn wie, Militanz zu begründen ist und beginnen mit der Festellung, dass Gewalt ein probates (= geeignetes) Mittel innerhalb eines Staates darstellt um politische, individuelle und kollektivistische Interessen zu verfolgen. Die Gewaltenteilung bzw. Gewaltenverschränkung soll hierbei eine Konzentration und den damit ermöglichten Machtmissbrauch vorbeugen. Durch die Exekutive (= ausführende Gewalt) wird, im Zweifelsfall in Form der „Kollegen in Uniform“, strukturelle Gewalt (= Gewalt, welche weniger mit direktem psychisch/physischem Druck arbeitet sondern durch Umstände und Gegebenheiten seinen Zwang ermöglicht. Z.B. soziale Ächtung, Angst bei Verstößen gegen allgemein anerkannte Gesetze und Verhaltensweisen) physisch umgesetzt.
Gewalt ist hierbei selbstverständlich wenn es darum geht Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, denn in der letzten Konsequenz muss das Staatsgebilde sicherstellen, dass der Rahmen erhalten bleibt. Gesetze und politische Entscheidungen werden durchgesetzt – egal ob uns das stört oder nicht.
Okey, wir haben den Rahmen abgesteckt. Gewalt wird als staatliches Mittel zum Zweck des Erhaltes der politischen Ordnung anerkannt. Das Gewaltenmonopol soll dabei sicherstellen, dass die einzige legitime Gewalt innerhalb des Staates die bleibt welche das System schützt und stützt.
Sie ist also als eine kollektivistische Gewalt zu betrachten.
Sie wird vom Kollektiv legitimiert und handelt mit der Sinnrichtung das Kollektiv vor dem Individuum zu schützen.
Aber auch eine Art der individualistischen Gewalt ist im Staatskonstrukt verankert, der Selbstschutz. Das Individuum hat das Recht darauf in erster Linie die eigene Person vor physischen und psychischen Angriffen mit Zuhilfenahme angemessener Mittel zu schützen.
Und hier wird es interessant, denn der persönliche Schutz stellt den Knackpunkt anarchistischer Gewaltausübung dar. Denn bisher war die Dissonanz zwischen Worten und Taten verschiedener Anarchist*innen zum Thema Gewalt bestechend und wird fortwährend diskutiert.

„Müßte man, um zu siegen, auf öffentlichen Plätzen Galgen errichten, so will ich lieber untergehen.“
– (Errico Malatesta)

  1. Wie lässt es sich vereinbaren bewaffnete Aufstände zu führen aber gleichzeitig in seinen Schriften an der Theorie der zwingenden Vereinbarkeit von Mittel und Ziel festzuhalten, laut der die genutzten Mittel niemals konträr zum gewünschten Ziel gewählt werden sollten?
    Dem gehen wir jetzt auf den Grund.
    Der Anarchismus stützt sich auf selbstbestimmte Individuen deren ureigenstes Recht darauf beruht, dass ihm als Mensch kein anderer Mensch etwas gegen den eigenen Willen antut. Das Individuum ist sowohl psychisch als auch physisch nicht zu verletzten. Bereits Kant hat festgestellt, dass „die Freheit des Menschen dort endet wo die des anderen beginnt“ und der Selbstschutz mit verhältnismäßigen Mitteln ist die stringente (= logische) Konsequenz dieser Idee.
    In einer Gesellschaft in der strukturelle Gewalt die Rahmenbedingungen stellt wird die Dilemmasituation bewusst, denn durch Gesetze und den gesellschaftlichen Rahmen entsteht eine Situation von unpersonalisierter Gewalt (= Gewalt, welche nicht direkt zwischen zwei Individuen entsteht sondern ohne konkreten persönlichen Konflikt, obligatorisch gegenüber allen ausgeübt wird). Diese Gewalt wiederum kann ausgeübt werden, ohne dass der geschädigte Mensch direkte Verteidigungshandlungen vornehmen kann. Die strukturelle, unpersönliche Gewalt verhindert bzw. erschwert die Selbstverteidigungshandlung zu gunsten des zu erhaltenden Staatskonstruktes.
    Was nun tun?
    Wie schützt sich das anarchistische Individuum ohne die Mittel/Ziel Kongruenz (=Deckungsgleichheit, bzw. Entsprechung) zu verletzen? In unserer Analyse nimmt der Sachverhalt der strukturellen Gewalt den besonderen Wendepunkt ein.
    Stellen wir uns vor, eine protofaschistische Partei ist im Begriff den politischen Diskurs derart zu beeinflussen, dass die strukturelle Gewalt beginnt die persönliche Unversehrtheit zu tangieren. Faschistische Tendenzen steigen an, Rassismus und anderes diskriminierendes Gedankengut wird in Gesetzen verankert und obwohl die angesprochene Partei möglicherweise niemals selber personalisierte Gewalt ausgeübt hat, ist die Selbstverteidigungshandlung nicht mehr möglich wenn der Diskurs bereits verschoben wurde. Um also angemessen und verhältnismäßig auf die Angriffe gegenüber der persönlichen Freiheit reagieren zu können, muss in diesem Falle vorgebeugt werden. Dabei darf nie vergessen werden, dass Gewalt niemals Selbstzweck sein darf.
    Nazis boxen ist im anarchistischen Modell keine Angriffshandlung sondern eine Form der Verteidigung in der die Gewalt darauf gerichtet sein muss die eigene Freiheit bis zum Rande der Freiheit des Gegenübers zu verteidigen und keinen Schritt weiter.
    Malatesta machte einst klar, dass wir als Anarchist*innen nie den Anspruch haben können zu richten, es muss unsere Aufgabe sein durch große Taten auf zu zeigen was möglich ist. Die große Tat besteht hier darin eine klare Grenze zu ziehen.
    Wir sollten uns nicht dazu erheben über Menschen und ihre Lebensentwürfe zu richten aber mit allen MItteln unsere persönliche Freiheit vor Eingriffen gegen unseren Willen zu schützen.
    Gewalt ist nicht schön, ich verachte Gewalt.
    Aber die Ausübung der selbigen ist legitim. Dies zu verneinen wäre eine Lüge.

Die Mär vom Linksruck

Im Laufe der Jahre ist immer wieder zu hören gewesen, dass die Gesellschaft nach links gerückt sei. Angela Merkel habe die Union mehr in der Mitte platziert und so die SPD kaputt gemacht. Vor allem im aktuellen AfD-Cluster zur Bundestagswahl wird überall offen darüber diskutiert, dass dieser vermeintliche Linksruck korrigiert werden müsse. Die rechte Flanke soll geschlossen werden. Dieser ganzen Annahme liegen aber mehrere gravierende Fehler zugrunde.

Inhaltslos dank Extremismustheorie

Der erste Punkt ist ein fundamentaler, welcher den komplette politischen Diskurs in Deutschland bestimmt. Es wird davon ausgegangen, dass es rechts und links als sich gegenüberstehende Außenpositionen gibt, die sich in  die jeweils andere Richtung von der Mitte entfernen würden. Diese Mitte sei der natürliche Ausgleich zwischen Beiden. Und weil es Mitte heißt, wird gleichzeitig impliziert, dass hier die richtige und vernünftige Position läge. Wie falsch diese Betrachtung ist, kann nicht oft genug betont werden. Denn sie schaut nicht auf inhaltliche Positionen, sondern auf eine extrem vereinfachte Positionszuschreibung. Sie scheitert schon daran, politische Religiösität einzuordnen. Sind radikaler Buddhismus, Islamismus und christliche Fundis jetzt rechts oder links oder Mitte? Eine fehlende inhaltliche Orientierung führt dann auch dazu, dass alles und nichts „die Mitte“ sein kann. Die sah 1950 anders als 1980 als heute aus. Und wertet auch nicht, ob eine als links angesehene Position nicht eventuell einfach richtig ist und Homosexualität nicht wieder unter Strafe gestellt werden muss.

Wirtschaftssituation und Parteien

Im Vorfeld der Wahl gab es zu lesen, dass mit Ausnahme der Grünen alle Parteien inhaltlich nach links gerückt seien. Auch hier haben wir das Problem des eindimensionalen links-rechts-Schemas. Diese Studie wird nun aber als Beweis dafür genommen, dass das Land ja nach links gerückt worden sei. Wenn das alle Programme aussagen, muss es ja stimmen. Dabei sind Parteiprogramme doch nur Reaktionen auf die Situation im Land. Und die wirtschaftliche Situation ist nun alles andere als in Richtung Überwindung des Kapitalismus gerückt. Die Reallöhne stagnierten im Zeitraum 1991 bis 2012, während der Lebenskostenindex um über 50 Prozent angestiegen ist. Sämtliche Lohnsteigerungen haben also nicht dazu geführt, dass den Arbeitenden real gesehen mehr Geld zur Verfügung steht.

Auch die Verteilung von Lohngewinnen klafft weiter auseinander. So haben die unteren 40 Prozent der Einkommen real gesehen 2015 weniger Kaufkraft als 1995 zur Verfügung. Zudem hat die immer wieder angepriesene Flexibilisierung des Arbeitsmarktes dazu geführt, dass Mini- und Teilzeitjobs stark an. In den letzten Jahren gab es jeweils Höchststände in diesen Beschäftigungsverhältnissen. Insgesamt hat das, was als atypische Arbeit bezeichnet wird, einen Anteil von über 20 Prozent am Arbeitsmarkt. So atypisch scheint sie dann ja nicht mehr zu sein. Eine massive Verschlechterung hat es auch im Bereich der befristeten Angestelltenverhältnisse gegeben. Vor allem die Gruppe der Unter-25-Jährigen ist betroffen. Bei den Frauen hat sich der Anteil seit 1991 fast verdreifacht, bei den Männern fast verdoppelt. Die Höchststände mit teilweise 30 Prozent gab es dabei von 2005 bis 2011. Auch bei den Unter-35-Jährigen hat sich die Quote auf etwa 14 Prozent verdoppelt.

Der Arbeitsmarkt ist also mitnichten „linker“ bzw. gerechter geworden. Im Gegenteil, es profitieren breite Schichten nicht von einem Aufschwung und werden in schlechtere kapitalistische Lohnarbeit gezwungen, da mit der Agenda 2010 auch gleich ein Teil vom sozialen Netz weggebrochen ist. Diese ganzen Zahlen bleiben auch von den Parteien nicht unbemerkt und müssen dementsprechend Auswirkungen auf sie haben. Denn wir reden hier von vielen potentiellen Stimmen. Wenn die Parteiprogramme (nach welcher Methode jetzt auch immer) nach links gerutscht sein sollen, dann ist das möglicherweise die logische Konsequenz darauf, dass es wirtschaftlich genau in die andere Ecke ging und jetzt zumindest ein Minimalstandard eingehalten werden soll, den man im Moment nicht bereit ist zu unterschreiten.

Volkstod und gesellschaftlicher Linksruck

Ein fast schon ewiges Mantra ist auch, dass die Gesellschaft nach links gerutscht sei. Was genau damit gemeint ist, wird aber oft nicht genau ausformuliert. Denn dahinter stecken menschenfeindliche und diskriminierende Aussagen. Vieles ist nämlich kein massiver Aufbruch hin zur Anarchie, sondern einfach normales Geichstellungsbestreben innerhalb des bestehenden Systems. Aber gut, welche Uhr soll denn wieder zurückgedreht werden? Sollen die Gesetzesänderungen im Sexualstrafrecht wieder zurückgenommen und die Vergewaltigung in der Ehe wieder wie bis 1997 straffrei bleiben? Sollen Homosexuelle und queere Menschen wieder massiv gesetzlich benachteiligt werden? Unterstützung und Rechte von Alleinerziehenden wieder beschnitten? Der Ausbau der Kindergärten wieder rückgebaut werden?

Viele Stimmen fordern jetzt wieder ein gesundes Maß an Patriotismus und Nationalstolz. Und ignorieren dabei, was seit 1990 fast 200 Tote durch rechte Gewalt verursacht hat. An zu wenig Nationalstolz lag das sicherlich nicht. Die AfD spielt hier wieder einmal die Vorreiterrolle für den völkischen Rassismus und bringt von höchster Ebene immer wieder die arische Linie in der Frage „Wer ist deutsch?“ ins Spiel. Das ist kein Zufall, ist doch ein integraler Bestandteil der rechtsradikalen Propaganda der Untergang der volksdeutschen Nation, die das einzig wahre Deutschland darstelle. Was von solchen Leuten als „Linksruck“ identifiziert wird, sind einfach weniger diskriminierende und menschenfeindliche Positionen. Es ist aber auch ein Jammer, dass Frauen nicht mehr vom Mann vergewaltigt werden können, ohne das er dafür in Knast gehen kann.

Schwierige Zeiten

Im Zuge dessen wird jetzt immer wieder so getan, als müsse etwas korrigiert werden. Dabei gibt es hier nichts zu korrigieren. In der Wirtschaft hat sich nun wirklich gar nichts in den letzten 20 Jahren in Richtung Überwindung des Kapitalismus getan, es wird einfach mehr schlecht als recht verwaltet. Arbeitskämpfe in Deutschland sind out, betriebliche Mitbestimmung eher uncool und halbwegs okaye Umverteilung ist in Weite ferne gerückt. Deutschland ist im Moment nicht mal mehr sozialdemokratisch orientiert. Und gesellschaftlich hat sich in der Tat ein bisschen was getan – aber eben auch nur ein bisschen. Vor allem wurden Gesetze den realen Erfordernissen angepasst und man hat sich auf den teilweise sehr scheinheiligen Kompromiss eingelassen, Rassismus und Sexismus zumindest offiziell nicht so geilo zu finden.

Aber das Bild eines Linksrucks muss immer und immer wieder betont werden, gerne von Medien und Personen aus dem reaktionären und faschistischen Lager. Denn je dringlicher die Situation dargestellt wird, desto drastischere Maßnahmen können zur Bekämpfung (in diesem Fall von Menschen) gefordert werden. Dabei wird auch keine Korrektur zur vermeintlichen Mitte hin angestrebt (von 1950? 1980? 2000?), sondern ein reaktionärer Backlash. Die Reaktionären wollen eben nicht nur ein bisschen Kurskorrektur, sie wollen komplett auf den völkischen Nationalismus umschwenken. Und genau deshalb ist falsch, hier irgendeine Form von Verständnis aufzubringen.

Wir müssen sämtliche emanzipatorischen Fortschritte, die es gibt, radikal verteidigen. Die bürgerliche Gesellschaft ist dazu im Moment nicht gewillt und beginnt mit einer Normalisierung der AfD und Teilen ihrer Positionen. Eben als „natürlicher Ausgleich“, wie es von reaktionärer Seite immer gerne propagiert wird. Während die deutsche Gesellschaft sich jetzt auch auf allen Ebenen in den reaktionären Rutsch der anderen Industrienationen einreiht, muss unsere Kritik scharf und exakt sein, die Kämpfe müssen militant geführt werden. Die Zustände dürfen nicht schlechter werden als sie es jetzt sind. Und auch die sind alles andere als akzeptabel. Die radikale Linke muss die bürgerliche Gesellschaft also vor ihrer Auflösung durch sich selbst bewahren und gleichzeitig unaufhörlich an ihrer Überwindung arbeiten.

Recherche Ulrichsbergtreffen 2017

In Österreich findet jedes Jahr das Ulrichsbergtreffen der Ulrichsberggemeinschaft statt. Hier wird in völkisch-nationalistischer Tradition den Soldaten des 1. und 2. Weltkrieges gedacht und ihr angeblich gutes Andenken hochgehalten. Diese Treffen sind ein Sammelbecken der neofaschistischen Szene Österreichs und Personen wie Jörg Haider und ehemalige SS-Soldaten haben dort schon Reden gehalten. Hier jetzt ein paar Rechercheergebnisse zum diesjährigen Treffen, welche wir auf Anfrage mitveröffentlichen. Auf Facebook sind sie bei der Autonome Antifa Kärnten/Koroška erschienen.

Wer nahm am diesjährigen Ulrichsbergtreffen teil?

Nils Larisch: Der Leipziger Neonazi Larisch arbeitete für die NPD-Fraktion im Landtag, ist Neonazi-Versand-Betreiber („Hermannsland“) und Fußballhooligan vom Verein Lokomotive Leipzig. Er nahm schon mehrmals am Treffen teil, beispielsweise 2014 und 2015.

Riccardo Sturm: Der bekannte Neonazi-Kader aus Leipzig ist fest verankert in der deutschen Neonazi-Szene (NPD, JN, „Freien Kräften“) und war auch beim LEGIDA-Aufmarsch zu Adolf Hitlers-Geburtstag aufmarschiert. Er ist seit über 25 Jahren aktiver, gewalttätiger und notorisch gerichtsbekannter Neonazi. Besuchte den Neonazi-Kongress “Wahrheit macht frei” in München im April 1990. Überfiel 1992 mit anderen Neonazis besetzte Häuser in Leipzig und 2009 Spieler und Fans des Roten Stern Leipzig in Brandis. Er beteiligte sich auch am Naziangriff auf Connewitz am 11. Januar 2016. Riccardo Sturm besucht Naziaufmärsche und Nazikonzerte und verdient sein Geld im Sicherheits- und Baugewerbe. Beispielsweise arbeitete er als Security beim Konzert der Neonazi-Band „Kategorie C“ in Moskau. Er nahm bereits 2014 und 2015 bei den Feierlichkeiten teil. Fotos zeigen ihn auch beim Ulrichsbergtreffen neben dem inhaftierten Neonaziführer und Holocaustleugner Gottfried Küssel.

Herbert Bellschan von Mildenburg: Ebenfalls anwesend war Herbert Bellschan von Mildenburg, Freiwilliger der Waffen-SS (Im Nürnberger Prozess 1946 erklärte der Internationale Militärgerichtshof die Waffen-SS wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur verbrecherischen Organisation) und 2012 Festredner am Ulrichsberg. Er hat dieses Jahr auch offen bei einem von der NPD organisiertem Vortrag für das Ulrichsbergtreffen geworben, wie man hier in diesem Video ab Minute 40:30 sehen kann: https://youtu.be/Y0vHM7_C8Bc?t=2429

Karlheinz Klement: 2008 wurde er bereits zum dritten Mal aus der FPÖ ausgeschlossen. Er schwadronierte über „Gender-Wahnsinn“ und bezeichnete Homosexualität als „Kultur des Todes“. 
Schon wenige Tage nach Jörg Haiders Tod wurden erste Verschwörungstheorien geäußert. Klement stellte in diesem Zusammenhang auf seiner Website die Frage, ob der israelische Geheimdienst Mossad ein Attentat verübt haben könnte Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) brachte darauf bei der Staatsanwaltschaft Klagenfurt Anzeige wegen des Verdachtes der Verhetzung gegen Klement ein. Klement wurde jedoch wegen eines antisemitischen Artikels auf seiner Website angeklagt. Er hatte laut Anklage einen antisemitischen Artikel veröffentlicht, der zwar nicht von ihm selbst geschrieben wurde, aber bewusst ausgewählt habe. Das Originalzitat laut Staatsanwaltschaft:
„Das jüdische Volk hätte aus dem Holocaust nichts gelernt und braucht eine zweite Lektion. Wenig Trauer würde es hervorrufen, wenn alle Juden auf einem Schlag gleichzeitig von der Welt scheiden würden.“
Am 23. September 2009 wurde Klement wegen Verhetzung zu einer Bewährungsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Das Oberlandesgericht Graz bestätigte am 9. April 2010 den Schuldspruch und änderte das Strafmaß auf eine bedingte Freiheitsstrafe von vier Monaten sowie eine Geldstrafe von 1.800 Euro. Das Urteil ist rechtskräftig(14).

(14) https://de.wikipedia.org/wiki/Karlheinz_Klement

Martin Rutter: Der vor kurzem aus dem „Team Kärnten“ ausgeschlossene rechtsextreme Verschwörungstheoretiker hielt trotz seiner Ausladung eine Rede beim Treffen. Nach seiner Rede gibt Rutter einem Haufen deutscher Neonazis die Hand, unter anderem Connie (die Frau von Nils Larisch),und lässt sich mit ihnen ablichten. In seiner Rede glorifizierte er Massenmörder und Kriegsverbrecher.

Star Trek: Discovery und das #nzsbxn

Star Trek nahm schon immer Bezug auf aktuelle politische Themenfelder. Konzipiert als eine Art Fully Luxury Automated Gay Space Communism hat die Menschheit das kapitalistische Wirtschaftssystem überwunden und auch Religion spielt keine Rolle mehr. Mit Commander Uhura nahm eine schwarze Frau völlig normal eine zentrale Rolle in der ersten Serie ein und es gab eine der ersten Kussszenen über ethnische Grenzen hinweg im amerikanischen TV zu sehen. Mit Checkov war auch ein Russe an Bord – mitten im Kalten Krieg. Am 24. September ist nun der neuen Serienteil Discovery angelaufen. Und macht perfekte Werbung für #nzsbxn

Spoileralarm: Es wird ein paar Dinge aus den ersten beiden Folgen zu lesen geben, die zumindest die Rahmenhandlung vorwegnehmen.

Der klingonische Faschismus

Angesiedelt 10 Jahre vor der Original Series, beginnt die Serie mit dem Startevent des großen Kriegs zwischen der Föderation und den Klingonen. Und bei den Klingonen wird die volle Ladung Faschismus geliefert. Die Grundlagen dafür waren ja schon immer gegeben: Eine kriegerisches Volk, welches aggressiv mit seinen Nachbarn umgeht, die Männer im Kampf, die Frauen im Haushalt, Größe, Stärke, Ehre, Militarismus. Nach kanonischer Storyline ist das klingonische Reich im Jahr 2256 ein totlitäres Regime. In den ersten beiden Folgen von Discovery wird das nun komplett zu waschechtem Faschismus ausgebaut. Schauen wir uns dazu einmal kurz die zusammenfassende Faschismusdefinition von Matthew Lyons an:

„Faschismus ist eine Form rechtsextremer Ideologie, die die Nation oder Rasse als organische Gemeinschaft, die alle anderen Loyalitäten übersteigt, verherrlicht. Er betont einen Mythos von nationaler oder rassischer Wiedergeburt nach einer Periode des Niedergangs und Zerfalls. Zu diesem Zweck ruft Faschismus nach einer ‚spirituellen Revolution‘ gegen Zeichen des moralischen Niedergangs wie Individualismus und Materialismus und zielt darauf, die organische Gemeinschaft von ‚andersartigen‘ Kräften und Gruppen, die sie bedrohen, zu reinigen. Faschismus tendiert dazu, Männlichkeit, Jugend, mystische Einheit und die regenerative Kraft von Gewalt zu verherrlichen. Oft – aber nicht immer – unterstützt er Lehren rassischer Überlegenheit, ethnische Verfolgung, imperialistische Ausdehnung und Völkermord. Faschismus kann zeitgleich eine Form von Internationalismus annehmen, die entweder auf rassischer oder ideologischer Solidarität über nationale Grenzen hinweg beruht. Normalerweise verschreibt sich Faschismus offener männlicher Vorherrschaft, obwohl er manchmal auch weibliche Solidarität und neue Möglichkeiten für Frauen einer privilegierten Nation oder Rasse unterstützen kann.“

Rasse als organische Gemeinschaft: check
anderen überlegen: check
verherrlicht: check
nationale Wiedergeburt nach vermeintlichem Zerfall: check (die Stämme sollen vereint werden)
spirituelle Revolution: check (der Wille Kahless‘ soll neu erwachen)
gegen Individualismus: check (die Gemeinschaft zählt)
Reinigung der Rasse: check
Bedrohung von außen besiegen: check
Männlichkeit: check
mystische Einheit: check
regenerative Kraft von Gewalt verherrlichen: check (im Kampf wird es die Erlösung geben)
rassische Überlegenheit: check (es wird mehrfach betont, dass die Klingonen rein im Blut sind)
imperialistische Ausdehnung: wird angestrebt
Völkermord: es soll alles vernichtet werden, was nicht klingonisch ist
offene Männliche Vorherrschaft: check

Nehmen wir dann noch die klingonische Mystifizierung von Kampf und Tod sowie den Ahnenkult mit dazu (verstorbene Klingonen werden mit Sarkophagen an den Schiffshüllen befestigt, um so im Geiste weiter mitzukämpfen), dann haben wir hier eine volle Packung faschistischer Ideologie am werkeln. Und das auch relativ akkurat rübergebracht, sieht man von der notwendigen Plakativität ab, dies alles in zwei Folgen als Nebenschauplatz darzustellen.

#klngnnbxn – die Hilflosigkeit der Föderation

Die Föderation steht in Folge 1 und 2 vor der Frage, wie jetzt mit diesem faschistischen Feind umzugehen. Michael Burnham, die zentrale Figur der Serie, hat eine jahrelange Ausbildung bei den Vulkaniern hinter sich und wendet sich nach Entdeckung des Klingonenschiffs an ihren Mentor. Dieser erzählt vom Umgang der Vulkanier mit den Klingonen. Nach einem erfolglosen diplomatischen Kontaktversuch, welcher sofort mit einem klingonischen Angriff beantwortet wurde, wird ohne Nachsicht und umgehend bei jeglichem Kontakt #klngnnbxn betrieben. Sie haben verstanden, dass einer faschistischen Ideologie nicht friedlich oder diplomatisch zu begegnen ist. Es hilft nur konsequente und radikale Feindschaft, wo immer man sie und ihre Träger*innen trifft.

Die Föderation hingegen ist auf Diplomatie und Verhandlungen aus und hat auch die Maxime, niemals als erstes zu feuern. In den ersten beiden Folgen wird auch deutlich, dass jegliches Verständnis dafür fehlt, wie umfassend der Aggressionswille von Faschist*innen ist. Man kann mit ihnen nicht reden. Und so kommt es dann, wie es kommen muss: Die Klingonen greifen die Föderation an, in der Schlacht gibt es große Verluste auf beiden Seiten. Der Pazifismus der Föderation ist im Angesicht eines faschistischen Akteurs zum Scheitern verurteilt. Den ein faschistischer Akteur ist IMMER aggressiv.

Die Metapher

Damit spiegeln die ersten beiden Folgen von Star Trek: Discovery sehr akkurat die derzeitige Lage mehr oder weniger weltweit dar. Während reaktionäre und faschistische Kräfte auf dem Vormarsch sind, halten Liberale und aufrechte Demokrat*innen den Pazifismus und die Dialogbereitschaft hoch. Aus der Vergangenheit wurde nichts gelernt, die dem Faschismus elementare Aggressivität wird geleugnet oder übersehen. Statt konsequent und ohne wenn und aber mit faschistischem Gedankengut aufzuräumen, wird beschwichtigt und die rechte Flanke zugemacht. Wenn sich Leute dann aktiv gegen Faschos stellen und die Suppe auslöffeln wollen, die der Rest der Gesellschaft ihnen eingebrockt hat, gibt es Repression und Verfolgung.

Auch die amerikanische Gesellschaft zeigt sich im Angesicht von Trump in weiten Teilen machtlos. Man vertraut einerseits auf die Verfassung mit den „checks and balances“, andererseits wird darauf gehofft, dass er das doch alles nicht ernst meinen könne. Doch kann er. Genauso wie es rechte Kräfte immer ernst meinen mit dem, was sie sagen und tun. Faschos und Neonazis sowieso. Mit solchen Personen lässt sich kein konstruktiver Dialog führen, denn sie wollen nicht an einem teilnehmen. Es ist absurd in Anbetracht der AfD im Bundestag auf irgendeine Form der Normalisierung zu hoffen, damit die ruhiger werden. Diese schöne Vorstellung wird nicht klappen. Mit einem religiösen Spinner wie Osama bin Laden kann auch nicht verhandelt werden. Und die klare Kante muss dann auch genauso hart und konsequent gegen nationalistischen und völkischen Spinner gezeigt werden.

AfD drittstärkste Kraft – wie geht’s weiter?

Ein Gastbeitrag von Oliver Kube

Nach dem Wahlerfolg der AfD überschlagen sich die Reaktionen im Alltag, in der Politik und in den sozialen Medien. Während die einen sich schon halb im „Vierten Reich“ wähnen, setzen andere darauf, dass sich die AfD schon „irgendwie von selbst“ erledigen würde. Doch Hysterie hilft nicht, Verharmlosung auch nicht. Der Abgang von Frauke Petry und Markus Pretzell sowie die Spaltung der AfD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern mögen zu Spott und Häme einladen, sind aber noch gewiss kein Grund zu jubeln. In der Vergangenheit hat weder die Abspaltung des national-marktradikalen Flügels um Bernd Lucke noch die zeitweilige Spaltung der Landtagsfraktion in Baden-Württemberg der AfD geschadet. Ganz im Gegenteil, sie hat letztlich davon profitiert – und sitzt nun als drittstärkste Kraft im Bundestag. Das beschert ihr nicht nur Einfluss im Parlament, sondern auch Geld, Angestellte und Wahlkreisbüros sowie mehr Selbstvertrauen für ihre menschenfeindliche Politik in Wort und Tat.

Mit AfDlern diskutieren?

Soll man mit AfD-Anhänger*innen, Rassist*innen, Antisemit*innen, Sexist*innen diskutieren? AfD-Gegner*innen debattieren diese Frage sehr kontrovers. Ich beantworte sie mit einem klaren „Kommt drauf an“. Zunächst muss klar sein, was mit „diskutieren“ gemeint ist: Wir verhandeln nie und nirgends „ergebnisoffen“, ob Flüchtlingsunterkünfte anzuzünden oder den Schießbefehl nicht vielleicht doch in Ordnung wäre. Sondern wenn wir überhaupt mit einem AfDler diskutieren, dann erklären und begründen wir, warum wir seine Ansichten für grundverkehrt halten. Diskutieren kann sich hier nur lohnen, wenn die andere Person offen für Argumente ist. Wir werden – selbst mit den besten Argumenten – nur eine begrenzte Zahl an Personen erreichen oder gar überzeugen können. Das sind meist Menschen, die ideologisch noch nicht zu tief im blau-braunen Sumpf stecken. Zudem stößt jede Aufklärung dort an ihre Grenzen, wo sie auf ein wirtschaftliches oder politisches Interesse prallt. Funktionär*innen, Mandatsträger*innen und Kandidat*innen der AfD werden kaum ein Interesse daran haben, sich überzeugen zu lassen, denn sie profitieren von ihrer politischen Funktion in der AfD. Es kann auch auf die konkrete Situation ankommen: Wer auf eine Demo geht, möchte seine Ansichten nicht ändern, sondern sie aktiv nach außen tragen. In einer anderen Alltagssituation ist es jedoch zumindest theoretisch denkbar, dass eine Person für inhaltliche Kritik zugänglicher ist. Wenn wir das im persönlichen Gespräch feststellen, dann kann es sich durchaus lohnen, sich auf die Diskussion einzulassen. Denn wenn wir es schaffen, jemanden von seinen rassistischen, antisemitischen und/oder sexistischen Ressentiments abzubringen, dann ist der*die Rassist*in, Antisemit*in und Sexist*in nämlich wirklich weg – und nicht nur woanders.

Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, man könne die AfD bekämpfen, indem man mit ihr gemeinsam auf Podiumsdiskussionen oder in Talkshows geht, um sie dort zu „demaskieren“ zu können.

  1. Es gibt es bei der AfD nichts mehr zu demaskieren, sie haut ihre Ideologie und Absichten ja ständig selbst raus.
  2. Stärkt, normalisiert und legitimiert man die AfD, wenn man ihr eine öffentliche Plattform für ihre Hetze bietet.
  3. Podiumsdiskussionen und Talkshows sind nicht dafür geeignet, eine fundierte Kritik anzubringen. Die Zeit reicht höchstens für Parolen und polemische Zuspitzungen.
  4. Menschen, die wirklich eine fundierte Kritik an der AfD formulieren könnten, werden kaum auf’s Podium oder vor die Kamera gesetzt.
  5. Wir haben am Wahlabend gesehen, wohin diese Strategie des „Integrierens“ der AfD durch die Medien im Wahlkampf geführt hat.

Falsche Argumente weglassen, richtige Argumente verwenden

Das Paradebeispiel für ein falsches Argument gegen die AfD ist die Aussage: „Die AfD ist eine Schande für Deutschland“. Wer so redet, nimmt einen nationalistischen Standpunkt ein und beurteilt die AfD nach dem Kriterium, was sie zum Ansehen der Nation beiträgt. Im Umkehrschluss heißt das: Rassismus, der dem Ruf Deutschlands nicht schadet, wäre in Ordnung. Und so sieht auch die herrschende Politik aus: Unterkünfte anzünden schadet dem nationalen Ansehen, die Leichen im Mittelmeer (offenbar) nicht.

Ein richtiges Argument gegen Nationalismus, also die Grundlage für die Ideologie der AfD (ob auch anderer Parteien, dürfen die Leser*innen selbst beurteilen) wäre: Der Erfolg Deutschland basiert vor allem auf dem wirtschaftlichen Erfolg (Profit) deutscher Unternehmen. Dieser wiederum setzt die möglichst effiziente Ausbeutung der abhängig Beschäftigten voraus, denn je niedriger die Löhne und Gehälter, desto höher der Profit, von welchem alles andere (z.B. auch die Steuereinnahmen des Staats) abhängt. Rente, Arbeitslosengeld und andere „Sozialleistungen“ belasten den Staatshaushalt unmittelbar. Das heißt, der Erfolg der erwerbsabhängigen und erwerbslosen Bevölkerung mindert den Erfolg der Nation. Wer – als „Nicht-Eigentümer“ von Produktionsmitteln – den Erfolg Deutschlands zu seinem persönlichen Anliegen macht, treibt also letztlich seine eigene Schädigung voran.

Der Gegenpol zum Nationalismus der AfD ist keineswegs ein angeblich „bunter Patriotismus“ (der genauso die Einteilung in das nationale „Wir“ und „die anderen“ kennt, auch wenn er in freundlicherem Gewand daherkommt), sondern eine Absage an die Nation selbst.

Widerstand ist notwendig

Doch der Staat ist kein Debattierclub, sondern politische Gewalt. Die AfD gewinnt immer mehr Einfluss darin, während die anderen Parteien dabei sind, ihre asylpolitischen Forderungen zum Teil schon in die Tat umzusetzen (Abschiebe- und Abschottungspolitik). Täglich sind Migrant*innen, Menschen muslimischen oder jüdischen Glaubens, Homosexuelle, Transmenschen*, Geflüchtete und auch Linke Angriffen von rechts ausgesetzt. Diese Situation verschärft sich, je weiter der gesellschaftliche Rechtsruck fortschreitet und je stärker die AfD ist. Unabdingbar ist die strömungsübergreifende Solidarität bei solchen Angriffen, ohne wenn und aber. Umso erschreckender, dass dies leider nicht selbstverständlich ist, wie der Fall Sarah Rambatz zeigt.

Wenn die politische Linke in Deutschland das nicht gebacken bekommt, kann sie gleich kapitulieren. Ebenso wichtig ist, im Zuge konkreter Aktionen gegen die AfD die Streitigkeiten untereinander für einen Tag ruhen zu lassen und sich weder von der Polizei, noch von der Presse und schon gleich gar nicht von der AfD selbst gegeneinander aufhetzen lassen – etwa in der Frage nach der geeigneten Aktionsform. Doch selbstverständlich müssen wir über Strategien und Aktionsformen diskutieren. Ob man nun die Hälfte oder „nur“ ein Drittel der künftigen AfD-Bundestagsfraktion als Nazis bezeichnen kann und wie weit die AfD auf dem Weg hin zu einer faschistischen Partei schon fortgeschritten ist, sei an dieser Stelle mal offen gelassen: So oder so können wir es uns nicht leisten, dass jeder sein identitätspolitisches Selbstbestätigungs-Süppchen kocht, sondern wir müssen in Fragen der Analyse und Strategie um die besten und wirkungsvollsten Ansätze streiten.

Ich sehe den zivilen Ungehorsam als eine der wirksamsten Methoden zur Bekämpfung von rechtsradikalen Umtrieben, ob Nazis, AfD oder Pegida. Warum? Ganz einfach, weil er Wirkung zeigt. Der jährliche Nazi-Aufmarsch in Dresden ist dank mehrerer erfolgreicher Blockaden innerhalb weniger Jahre in sich zusammengeschrumpft. Mehrere lokale Pegida-Bündnisse haben sich aufgelöst – ebenfalls nachdem Gegendemonstrant*innen die rechten Aufmärsche blockiert hatten. Ein AfD-Landesparteitag in Esslingen wurde gar abgesagt, nachdem einerseits ein großes, bunt gemischtes Bündnis zur Gegendemonstration rief und die Stadt andererseits militante Antifa-Aktionen befürchtete. In Heidelberg haben sich Aktivist*innen in eine AfD-Veranstaltung geschleust und diese durch kontinuierliche Sprechchöre schlichtweg unmöglich gemacht.

Dort, wo der AfD entschlossener und breiter Widerstand entgegenschlägt, fällt es ihr schwerer, Strukturen aufzubauen und sich breit zu machen. Dort wo man sie unter dem Deckmantel der Toleranz „einfach machen lässt“ (wie manche besonders geschichtsvergessene Zeitgenoss*innen ja propagieren), breiten sie sich ungehindert aus und machen denen, die in ihr Feindbild passen, das Leben zur Hölle.

Natürlich ist ziviler Ungehorsam nicht das Allheilmittel, sondern muss Teil einer Gesamtstrategie sein, zu der beispielsweise auch Zivilcourage und Solidarität im Alltag sowie Öffentlichkeitsarbeit gehören müssen. In dem Vortrag „AfD drittstärkste Kraft – wie geht’s weiter?“ werden die in diesem Artikel genannten Punkte vertieft, weitere Argumente und strategische Ansätze beleuchtet und natürlich anschließend zur Diskussion gestellt.

 

No Border, No Nation

Auf den Demos hört man immer wieder den Ruf „No Border, No Nation – Stop Deportation“. Für viele mag das nur eine Parole sein, dahinter verbirgt sich aber mehr.  Es enthält Kernaussagen anarchistischer Denkweise. Natürlich ist diese Parole nicht der Weisheit letzter Schluss, aber schauen wir uns doch mal an, was genau damit gemeint ist.

 

Wir beginnen mit dem letzten Teil der Parole: „Stop Deportation“ Eigentlich recht simpel: hier wird die Abschaffung aller Abschiebungen gefordert. Dies ist der wohl praktischste Teil des Slogans. Immer noch werden „illegale“ Menschen abgeschoben. Immer noch werden Länder willkürlich zu „sicheren“ Staaten erklärt. Immer noch sterben Menschen. Nur weil ein Innenminister Afghanistan für sicher befindet, werden in dieses kriegsgebeutelte Land Menschen abgeschoben. Aus einer privilegierten Lage heraus wird entschieden wer es verdient hat in diesem Land zu bleiben und wer nicht. Die praktische Umsetzung solcher Forderungen sind immer öfter zu beobachten: Leute aus dem Umfeld, die sich für von Abschiebung bedrohte Menschen einsetzen; Blockierung von Abschiebeflügen; öffentlichkeitswirksame Initiativen vom Flüchtlingsrat oder ähnlichen Institutionen. Solche Aktionen sind notwendig in diesen heutigen Zeiten, in einer Welt in der „No Border, No Nations“ gilt, wären sie aber überflüssig.

 

Alle Grenzen weg! Sofort! Es wäre zu schön, wenn  diese Forderung sofort umgesetzt werden könnte. Aus Sicht des Staatsapparats sind Grenzen aber zur eigenen Machtsicherung unerlässlich. Dabei muss man auch im Hinterkopf behalten, dass blutige Kriege geführt wurden, um Grenzen zu sichern und zu erhalten. Grenzen waren schon immer ein wichtiger Faktor bei der Selbstbestimmung selbsternannter Patriot*innen. Der Stolz auf sein Heimatland ist eine zutiefst irrationale Angelegenheit, vor allem vor dem Hintergrund der kulturellen und sprachlichen Unterschiede. Schwaben und Rheinländer*innen sind zwar per definitionem beides Deutsche, könnten aber nicht unterschiedlich sein. Als zwangskollektivierender Faktor muss deshalb die Nationalität herhalten. Es wird sich auf vermeintlich positive Dinge bezogen, die kulturellen Errungenschaften hervorgehoben (Das Land der Dichter und Denker) und negative Dinge einfach ausgeblendet (Das Land der Richter und Henker).

Künstlich geschaffene Grenzen in einer globalisierten Welt sind jedoch ein Paradigma. Während es für reiche Menschen kein Problem ist Grenzen zu überwinden, trifft es vor allem arme und marginalisierte Menschen. Während Deutsche in der Türkei Urlaub machen, ist es Flüchtlingen untersagt die Türkei zu verlassen. Jede Person, die ihnen hilft, wird mit strenger Strafe bedroht. Deshalb müssen Flüchtlinge auf gefährliche und oftmals tödliche Routen zurückgreifen. Schlepper*innen verdienen sich eine goldene Nase daran und nehmen den Tod von Menschen lächelnd in Kauf. Sie sind das Produkt einer Abschottungspolitik, die auf kapitalistischer Verwertungslogik basiert. Hast du Geld, darfst du rein; bist du arm, bleibst du draußen. Die Grenzen dienen heute also vor allem als Sicherung des eigenen Wohlstands und nicht mehr zur Sicherung von äußeren Feinden.

Es gibt bekanntlich Ausnahmen. Das prominenteste Beispiel dürfte wohl Israel sein. Denn dort sind tatsächlich noch äußere Feinden vorhanden, die seine Bewohner am liebsten heute statt gestern tot sehen wollen würden. Aus der anarchistischen Perspektive ist auch diese Grenze eine künstlich geschaffene und trennende Einheit, sie ist jedoch in der heutigen Zeit, in der (Vernichtungs)antisemitismus immer noch existiert, leider (noch) eine reine Notwendigkeit als Schutzmaßnahme. Wir hoffen, dass diese irrige Weltanschauung irgendwann verschwindet und auch diese Grenzen nicht mehr existieren muss. Die Solidarität gilt hier also den Menschen als marginalisierte Gruppe, die ohne den Schutzraum Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies ist eine direkte Konsequenz aus der Shoa.

Natürlich können wir nicht darauf hoffen, dass morgen alle Grenzen verschwinden. Aber für unsere Träume lohnt es sich zu kämpfen. Auf dass das Morden an den Außengrenzen aufhört, jede*r seinen Wohnort selbst wählen kann und Herr*in über sein eigenes Schicksal wird.

 

Der letzte Teil der Demoparole fordert, dass es keine Staaten mehr gibt? Wie soll das gehen? Wir leben doch in Deutschland und können doch nicht behaupten, dass es  keinen Unterschied zu bspw. Saudi-Arabien gibt? Natürlich will niemand Saudi-Arabien und Deutschland heute noch verschmelzen lassen (Islamisierung!). Bestimmte kulturelle und sprachliche Unterschiede lassen sich nicht von heute auf morgen auflösen. Ob es gewollt ist ALLE Unterschiede aufzulösen, ist auch noch eine andere Frage. Als allererstes geht es darum Staatskonstrukte aufzulösen. Diese sind, ebenso wie Grenzen, zur Machterhaltung und -erweiterung gedacht. Wir erleben es gerade in Katalonien. Fühlt sich der Staat bedroht, schickt er seine Prügelcops vor, um nicht seine Herrschaftsansprüche zu verlieren. Die Staaten an sich sind nicht faschistisch, doch ein Rückfall in die dunkelsten Zeiten kann immer wieder vorkommen, wenn der Staat sich bedroht sieht.

Viele werden hier einwerfen, dass man ohne Exekutive, Judikative und Legislative nicht überleben kann.  Dass es ohne bestimmte Regeln nicht geht, versteht sich von selbst. Auch dass es eine bestimmte Art von Verwaltung geben muss, ist klar. Wir sind aber dann doch so daran gewöhnt, dass es einen Staatsapparat gibt, der all das vorgibt. Zwar sind wir in der parlamentarischen Demokratie an der Willensbildung beteiligt, dies beschränkt sich jedoch auf das Wählen bestimmter Parteien. Zwar kann jeder in einer Demokratie sich miteinbringen, der Erfolg hängt jedoch von wesentlich mehr ab als dem eigenen Programm. Radikale linke Politik wird sich kaum durch die parlamentarische Demokratie durchsetzen.

Wie sieht also die Alternative aus? Anarchosyndikalistische Gruppen wie in Katalonien unter der CNT oder in Deutschland nach der Novemberrevolution beantworten dies mit einem revolutionären Konzept. Selbstverwaltung, direkte Einflussnahme in Entscheidungen, Basisdemokratie,  Reformen zum Wohle aller stellen dabei die Hauptpfeiler dar. Leider waren diese Konzepte nicht von allzulanger Dauer, wurden sie doch von außen zerschlagen. Zumindest zeigt uns dies aber, dass es eine probate Alternative gibt.

Ein Staatsapparat ist nicht zwangsläufig nötig. Vielleicht hängen wir auch nur zu sehr an dem Konzept der parlamentarischen Demokratie fest, da uns dies von klein auf beigebracht wurde. Es stellt ja auch eine gewisse Erleichterung dar, wenn man weiß, dass sich Papa Staat um alles kümmert. Nur wenn man sich aktiv mit dem auseinandersetzt, was den Staat ausmacht und was für ein Gesicht er zeigt wenn er herausgefordert wird, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass die Ansprüche des Staats nicht der Realität hinterherkommen.

 

Es bleibt erstmal eine Utopie, ein Wunschtraum: „No Border, No Nation.“ Aber alles war erstmal ein Traum, bis es Realität wurde. Wir träumen und kämpfen weiter. Das Ziel ist eine Welt, in der Staatsgrenzen und Staaten in ihrer heutigen Form und Definition nicht mehr notwendig sind. Man darf nicht so blauäuigig sein und denken, wenn wir sofort alle Staaten und Grenzen auflösen, wäre das Ziel erreicht. Im Gegenteil, „no border, no nation“ meint etwas viel Größeres. Es meint eine Welt und künstliche und trennende Kollektivzuschreibungen, eine Welt ohne Diskriminierungen, seien sie nun direkt oder strukturell. Es ist der Traum von der befreiten Gesellschaft, in der wir alle gleichgestellt sind und Staaten und Grenzen schlichtweg nicht mehr brauchen. Diese Parole soll nicht nur auf Demos erklingen, sondern praktisch werden. Wir zeigen uns solidarisch mit allen, die Geflüchteten helfen Grenzen zu überwinden; jede*m, der/die Alternativen zu diesem System entwickelt; jeder Person, die nicht nur die Parole brüllt, sondern dies im Bewusstsein tut mehr erreichen zu wollen. In einer Welt, in der Menschen immer noch dank Frontex sterben oder dank staatlich-kapitalistischer Interessen marginalisiert werden, gilt es praktische Alternativen zu entwickeln und umzusetzen. Es gilt sämtliche diskriminierenden Strukturen anzugreifen – auch bei sich selbst. Der Kampf für die befreite Gesellschaft ist kein einfacher, im Gegenteil. Aber was sollen wir tun, wenn nicht die Utopie aufzeigen, wie es sein könnte? Und uns dafür einsetzen, dass sie ein Stück näher kommt

Gemischte Gefühle zum katalanischen Referendum – ein Bericht aus Spanien von Tom Lewis

Der 1. Oktober wurde in Spanien mit gemischten Gefühlen erwartet. Während viele Menschen in Katalonien euphorisch dem Referendum entgegenblickten, sahen viele im Rest Spaniens die anstehende Wahl eher kritisch. Was alle gemeinsam hatten: Unsicherheit. Wie würde sich die spanische Regierung verhalten? Was kommt nach dem Referendum?
 
Der gestrige Tag hat zumindest einmal die erste Frage beantwortet. 761 Verletzte vermeldet das katalanische Gesundheitsministerium. Die Bilder, die den ganzen Tag in den Nachrichten zu sehen waren, zeigten äußerste Brutalität und Polizeigewalt gegen Menschen, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen wollten. Als befände man sich im Bürgerkrieg ging die Guardia Civil in voller Kampfmontur mit Knüppeln und Gummigeschossen auf einfache Bürger los. Wahllokale wurden blockiert und Wahlurnen sichergestellt, die Menschen antworteten mit Sitzblockaden und Sprechchören.

Am Ende herrschte mehr Verunsicherung als vorher. Wie es weiter geht, weiß nun niemand. Die Gräben zwischen Barcelona und Madrid dürften nun aber so tief sein wie seit dem Ende des Franco-Faschismus nicht mehr. Das Land ist gespalten.
 
Die Schuldigen sind auf beiden Seiten zu suchen. Die zentralistische politische Ordnung Spaniens sorgt gerade in den autonomen Regionen des Landes immer wieder für Ärger und der seit 2011 amtierende Ministerpräsident Mariano Rajoy und seine konservative Partei Partido Popular (PP) haben abermals bewiesen, dass sie aus den vergangenen Jahren nichts gelernt haben.
Katalonien ist die reichste Region Spaniens und hat eine starke Wirtschaft. Trotzdem sind 30% der jungen Menschen in der autonomen Region arbeitslos und die Löhne stagnieren. Denn Katalonien zahlt mehr an Madrid, als es bekommt. Ärmere Regionen wie die Extremadura werden mit dem katalanischen Geld unterstützt. Das ist dasselbe Solidaritätsprinzip, wie wir es aus Deutschland mit dem Länderfinanzausgleich kennen. Die Finanzen sind auch das Hauptargument der Separatisten in Katalonien. Man wünscht sich mehr Reichtum und will nicht andauernd teilen. Das Solidaritätsprinzip wurde hier nicht verstanden.
 
Dieser katalanische Nationalismus hat also durchaus etwas von einem kleinbürgerlichen Wohlstandsnationalismus und von Futterneid. Andererseits ist es verständlich, dass sich Katalonien wünscht, mehr Verfügungsgewalt über die eigenen Finanzen zu haben. Dieses Recht fordert man seit Jahren bei der spanischen Regierung ein. Doch Rajoy und die PP bleiben stur und weichen keinen Millimeter von ihrer Position ab, was die Katalanen dazu bewegt hat, innerhalb von drei Jahren zwei Unabhängigkeitsreferenden abzuhalten.
 
Doch statt die Leine wenigstens mal für einen Moment loszulassen, zieht Rajoy immer fester, je fester auch die andere Seite zieht. Er lässt das Referendum bereits eine Woche vorher für illegal erklären und fährt härteste repressive Maßnahmen auf. Katalanische Politiker werden festgenommen und hunderte Beamte der Bundespolizei Guardia Civil werden nach Katalonien geschickt. Menschen werden bei der Ausübung ihrer demokratischen Rechte mit äußerster Gewalt attackiert und verletzt. 
 
Die katalanische Regierung hat derweil alles dafür getan, dass dieses Referendum einen entscheidenden „Stunde Null“-Charakter bekommt. Volle Konfrontation mit Madrid. Beide Seiten ziehen wild an der Leine und keiner ist bereit auch nur ein Stück nachzugeben und zu versuchen gemeinsam an einem Strang zu ziehen.
Anstatt sich gleich abspalten zu wollen, sollte man wieder konstruktive Gespräche suchen. Statt die katalanischen Forderungen zu ignorieren sollte Rajoy die Tür für Verhandlungen öffnen. Und statt Zivilisten verprügeln zu lassen, sollte er die Menschen in Ruhe wählen lassen. Wie man danach mit dem Ergebnis umgeht, hätte man dann in Ruhe besprechen können. Jetzt haben die Separatisten dank der Bilder aus Barcelona, Girona etc. den moralischen Vorteil. Denn sie sind wieder die Unterdrückten.
 
Wir haben also auf der einen Seite einen regionalen Nationalismus, der sich gegen einen zentralistischen Staat richtet und für eine Unabhängigkeit aus wirtschaftlichen Gründen kämpft. Auf der anderen Seite einen spanischen Nationalismus, dessen Ziel es ist den Zentralismus und die Herrschaft Madrids über den Rest des Königreiches aufrecht zu erhalten.
 
Ich selber befinde mich in Spanien und durfte mir in Granada ein Bild der Lage in Spanien machen. Die Verkaufszahlen von spanischen Nationalflaggen ist einer Zeitung nach explodiert. Das lässt sich recht gut daran erkennen, dass beinahe jeder dritte Balkon mit einer rot-gelb-roten Flagge geschmückt ist, auf der noch die Falten zu erkennen sind. Bereits am Tag vor dem Referendum hat man hin und wieder Leute in den Straßen gesehen, die eine spanische Flagge mit sich herumtrugen. Laut hupend fuhr ein ganz in Flaggen gehülltes Auto herum dessen Insassen spanische Flaggen aus den Fenstern schwenkten. Gestern dann fand eine Demonstration mit einigen hundert Teilnehmern statt, die allesamt mit Flaggen erschienen waren, um gegen das Referendum und für die Einheit Spaniens zu demonstrieren. 
Wie gesagt, die Gräben sind nun tiefer als vorher. Die spanische Gesellschaft ist gespalten. Während die einen ihre Unabhängigkeit wollen, fordern die anderen Einheit. Nach dem gestrigen Tag steht Spanien eine schwere innere Krise bevor.