Der Anfang vom Ende
Um die aktuelle Krisensituation in ihrer Tragweite adäquat zu begleiten, haben wir uns dazu entschieden, unsere Einordnungen und Analysen in einer ausführlichen Artikelreihe zu sammeln. Vorerst auf drei Teile angelegt, kann die Reihe „Mad Marx – Corona und der Vorschein der Donnerkuppel“ in Zukunft noch erweitert. Mit diesem hier vorliegenden dritten Teil kommt sie aber zu einem zwischenzeitlichen Ende. In Teil 1 haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie allgemein, aber auch im linken Spektrum, auf die bisher einmalige Situation reagiert wird. Fokus war hierbei vor allem das Begreiflichmachen und das Verarbeiten der Vorgänge, was in mehr und oftmals weniger guten Rationalisierungsversuchen mündet. Eine Linke mit einem gesellschaftsverändernden Anspruch darf dabei aber nicht stehenbleiben. Des Weiteren wurde ein Überriss über den Kapitalismus als Wirtschaftssystem gegeben, wo es sich anbot mit Veranschaulichung an der aktuellen Krisensituation. Der zweite Teil konzentrierte sich dann auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Durch eine immer weiter vorangetriebene Blasenökonomie, finanziert durch immer neue Schulden, steht die Weltwirtschaft unmittelbar vor dem Kollaps. Die Krise der Jahre 2008/09 ist im Vergleich nicht so systemgefährdend wie das, was jetzt auf uns zukommt. In Verbindung mit sozialdarwinistischen Forderungen, die Wirtschaft schnellstmöglich wieder anzukurbeln und dabei Millionen Menschen wissentlich dem Tod zu überlassen, wurde dann das drohende Szenario der titelgebenden Donnerkuppel skizziert. Das Recht der Stärkeren soll es richten und den Kapitalismus retten, an eine postkapitalistische Option wird gar nicht erst gedacht.
Was noch fehlt, ist eine Bestandsaufnahme der Krisenmaßnahmen (in Teil 2 bereits als „Krisensozialismus“ definiert) und des linken Spektrums. Außerdem werden Maßnahmen und Betätigungen vorgeschlagen, mit denen die Linke die Krisensituation beantworten sollte. Dabei wird in Akutmaßnahmen und in perspektivisches Agieren unterschieden. Ein Patentrezept ist es nicht und es wäre vermessen zu behaupten, hier würde der Masterplan ausbuchstabiert, der in 30 Jahren die befreite Gesellschaft herbeiführen wird. Dennoch hoffen wir (und sind auch zuversichtlich), einen sinnvollen Debattenbeitrag zu liefern und hoffentlich weitere Diskussionen anzuregen. Es wurde ganz bewusst auch das linke Spektrum jenseits der radikalen und autonomen Linken in die Betrachtungen miteinbezogen, die Gründe dafür werden später ersichtlich. Auch ein Grund ist, dass viele Personen aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien zum Pool unserer Leserschaft gehören und die Probleme in der Linken das gesamte Spektrum betreffen.
Mad Marx oder die befreite Gesellschaft
Während die Welt im Chaos der Ersten Weltkriegs versank und einen Zivilisationsbruch von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes erlebte, schrieb Rosa Luxemburg folgende Zeilen: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: Entweder Übergang zum Sozialismus, oder Barbarei!“ Angesichts der sich entwickelnden Krise stellt sich diese Frage tatsächlich mit erneuter Dringlichkeit. Eigentlich stand die Gesellschaft schon seit den Tagen der Ehrengenossin Luxemburg vor dieser Wahl. Die aktuelle Krise, bei der das Virus tatsächlich nur der Auslöser, nicht aber die Ursache ist, lässt die Widersprüche des Kapitalismus offen zu Tage treten und konfrontiert die Weltgemeinschaft damit: Ist ein System, in dem ein Gesundheitswesen auf die abstrakten Zwänge des Marktes und nicht auf die Rettung von Menschen ausgelegt ist, wirklich das „beste System“? Ist ein System, in dem Krankenhäuser aus Kostengründen sogar noch im Angesicht einer heraufziehenden Pandemie geschlossen werden wirklich „das beste System“? Ist es gerechtfertigt, Menschenleben gegen ein abstraktes System der Wertverwertung aufzuwiegen? Wäre es nicht an der Zeit, sich gesamtgesellschaftlich mit der ganz Grundlegenden Frage zu beschäftigen, ob das so richtig ist? Oder ob nicht eine andere Gesellschaft möglich wäre, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz und Vereinzelung der Subjekte setzt.
Die Antwort, die von der Politik momentan gegeben wird, ist allerdings in diesem Zusammenhang ebenso erschreckend wie vorhersehbar und altbekannt. Die von uns bereits als „Krisensozialismus“ beschriebenen Automatismen greifen. Die Vergesellschaftung privater Verluste durch den Staat hat bereits begonnen. Bis zu 760 Milliarden Euro will alleine der Deutsche Staat an Steuermitteln aufwenden, um vom mittelständischen bis zum Großunternehmen die deutsche Wirtschaft zu stützen. Das geradezu wahnhaft-religiös anmutende Festhalten an der „Schwarzen Null“ ist mit dem lakonischen Hinweis des Finanzministers, dass man ja nur durch diese Austeritätspolitik „Reserven“ zum Einsatz bringen könne, beiseite gewischt worden. Jene, die diese Austeritätspolitik in erster Linie bis zum heutigen Tage getragen haben, waren die lohnabhängig Beschäftigten. Genau diese Gruppe wird aber vom Maßnahmenpaket der Regierung hart getroffen.
Eine der ersten umgesetzten Maßnahmen, das Kurzarbeitergeld, soll es Unternehmen erlauben, ihre Lohnkosten drastisch zu reduzieren, in dem sie ihren Angestellten nur noch 60 Prozent ihres üblichen Lohns auszahlen. Für eine nicht unerhebliche Gruppe von Lohnabhängigen bedeutet das unmittelbar ein Fall auf Harz IV-Niveau, bei dem die nächste fällige Miete bereits existenzbedrohend ist. Eine Erkenntnis aus dieser Tatsache ist, dass in einem eigentlich reichen und entwickelten Land wie Deutschland, ein substantieller Teil der abhängig Lohnbeschäftigten permanent nur einen Gehaltscheck von der Privatinsolvenz. Studierende dürfen nicht einmal Hartz IV beantragen. Sofern sie kein volles Bafög bekommen, sind sie aktuell fast ohne Verdienstmöglichkeit. Die einzige Option wäre die Exmatrikulation, womit aber sehr wahrscheinlich langfristige Konsequenzen für das Studium verbunden sind.
Für das Heer der nun durch Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust oder Studiumsplatz existentiell Bedrohten sind das schlechte Aussichten. Da zur gleichen Zeit, bedingt durch die Maßnahemn der Corona-Bekämpfung, die Einreise von vor allem osteuropäischen Erntehelfern verboten wurde und viele Bauern öffentlichkeitswirksam beklagt haben, dass ihnen beträchtliche Ernteausfälle drohen, sollte man keinen Ersatz für die Erntehelfer besorgen, ist nun eine gesellschaftliche Debatte um das utilitaristische Ausnutzen der Notlage von ganz allgemein von Armut bedrohten und marginalisierten Gruppen entbrannt.
Flankiert von dem, was hierzulande als „bürgerliche Presse“ bezeichnet wird, dreht sich diese Debatte nun darum, welche Gruppen von armen Schluckern man zur Spargelernte schicken solle – mal sind es SchülerInnen oder StudentenInnen, dann Asylsuchende, wie von Julia Klöckner vorgeschlagen, oder Arbeitslose. Die AfD will dann gleich Fridays for Future zwangsverpflichten und somit Minderjährige zur Arbeit zwingen. In Bayern ist Klöckner’s Parteikollege und Wirtschaftsminister auf Landesebene zu einer ganz ähnlichen Lösung gekommen und will die nun derart in finanzielle Notlage geratenen KurzarbeiterInnen auf die Felder schicken[1].
Ebenfalls in Bayern sind derweil weitere ArbeitnehmerInnenrechte abgeräumt worden. Im Zuge der Krisenbekämpfung wurde die Höchstarbeitszeit für Angestellte einkassiert[2]. Kurzerhand wurden in einem Zuge das Arbeitsverbot für Sonn- und Feiertage aufgehoben (ohnehin schon Schauplatz einer permanenten Abwehrschlacht gegen das Kapital seitens der Gewerkschaften) sowie die Pausenzeiten für Angestellte in systemrelevanten Betrieben um eine Viertelstunde gekürzt. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeiten wurden ebenfalls aufgehoben. Betriebe können ArbeiterInnen somit länger am Stück arbeiten lassen und müssen ihnen nicht mehr so lange Ruhezeiten gewähren. Schlechte Nachrichten also vor allem für Beschäftigte im Schichtbetrieb.
Nur gut also, dass da das Heer der Lohnsklaven so lange brav den Gürtel enger geschnallt und sich in „Lohnzurückhaltung“ geübt hat – Als Belohnung dürfen einige nun in die Kurzarbeit gehen und sich bei Feldarbeit an der frischen Luft bewegen, um nicht unter das Existenzminimum zu fallen. Profitiert hatten die unteren Lohnschichten von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 15 Jahre nicht. Die Einkommensschere driftet immer weiter auseinander und unten gibt es Reallohneinbußen, während es oben kräftige Zuwächse zu verzeichnen gibt.
Die Devise ist also klar: Der Klassenkampf von oben ist wieder in vollem Gange. Während Unternehmen, mittelständische Betriebe und Selbstständige vom Staat auf finanzielle Hilfe zumindest hoffen dürfen, soll besonders den Lohnabhängigen wieder mittels drastischer Gehaltseinbußen und der de facto weitreichenden Aufhebung von ArbeitnehmerInnenrechten die Kosten der Krise aufgebürdet werden. Ausbaden sollen es also mal wieder diejenigen, die vom mageren Aufschwung seit 2009 wenig bis gar nichts hatten. Der Gipfel des Zynismus ist in diesem Zusammenhang der von der Regierung geradezu staatstragend formulierte Ruf nach „Solidarität untereinander“, mit der man dann bis zur Erschöpfung getriebenes Pflegepersonal in Krankenhäusern mit ein paar Beifall-Klatschern für die geleistete Mehrarbeit abspeisen kann, bevor es für sie wieder zurück in die Verwertungsmühle geht. Auf der anderen Seite werden riesige Summen für Bailouts zur Verfügung gestellt, um verschuldete Unternehmen mit zeitlich begrenzter Staatsbeteiligung vor dem Konkurs zu bewahren. Die Verluste werden dadurch vergesellschaftet, um die Unternehmen dann wieder komplett unter private Führung zu stellen, wenn die finanzielle Situation Richtung Gewinnerzielung geht. Auch wenn für diesen Vorgang der Begriff „Verstaatlichung“ verwendet wird, ist dieser irreführend. Verstaatlichung würde bedeuten, die Unternehmen dauerhaft und unbegrenzt dem Staat zu unterstellen.
Leider ist auch davon auszugehen, dass mit diesen angedrohten oder bereits umgesetzten Boshaftigkeiten seitens der Politik das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, sondern dass die Krisendynamik den bereits eingeschlagenen Kurs autoritärer Notverordnungspolitik seitens der Regierenden verschärfen wird. Inwieweit die umfassenden Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte im Rahmen der Corona-Pandemie notwendig war, darüber lässt sich diskutieren. Mit welcher Selbstverständlichkeit diese Freiheiten im Vorbeigehen einkassiert und mit der Ausweitung der anlasslosen Überwachung von BürgerInnen über ihre Handy-Daten begonnen wurde (und das zum Teil unter Beifall gewisser linker Kreise), lässt tief blicken.
Unter diesen Umständen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, dass seitens der Politik Skrupel herrschen würden, den BürgerInnen weitere schmerzhafte Einschnitte wie etwa eine weitere Schröpfung des Sozialstaates zuzumuten. Weitere Kürzungen des Rentenniveaus, weitere Anhebungen des Renteneintrittalters, das alles wurde auch schon vor der Krise hinter verschlossenen Türen diskutiert. Die hereinbrechende Krise kommt gerade recht, um Unappetitlichkeiten unter dem Vorwand instrumenteller Vernunft offen auf die Agenda zu setzen. Auch ist nicht vorauszusagen, wie die Politik angesichts einer Flut neuer Arbeitssuchenden reagieren wird. Die Studie des IFO zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise geht von bis zu 1,8 Millionen Menschen aus, die zusätzlich in die Jobcenter strömen werden [3](zum Vergleich. Arbeitslosenzahl laut Arbeitsagentur im Februar 2020: 2.396.000 [4]). Dass die Überforderung und Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschen in den Jobcentern dieser Republik angesichts dieser anrollenden Flut abnehmen wird, darf bezweifelt werden. Es dürfte eher so sein, dass, da noch mehr Menschen aus dem gleichen Topf versorgt werden müssen, die Leistungen für die/den einzelnen LeistungsbezieherIn drastisch gesenkt werden dürften. Und wie es um den schon vor der Krise bis an die Belastungsgrenze gespannten und durch Privatisierung und Rentabilitätszwänge zugerichteten Gesundheitssektor in unmittelbarer Zukunft bestellt sein wird, wagt niemand zu prognostizieren. Wie angespannt die Situation momentan ist, verdeutlicht ein Aufruf des Vorsitzenden des Verbandes der Krankenhausdirektionen im DLF vom 21. März, in dem er eindringlich, ja geradezu flehend warnt, dass einer ganzen Reihe von Krankenhäusern im Mai die Insolvenz drohe, falls nicht schleunigst mit Notkrediten geholfen wird [5].
Unterm Strich ist das Zukunftsszenario, dass sich unserer Gesellschaft bietet nicht der Vorschein der befreiten Gesellschaft, sondern das krasse Gegenteil. Während substantielle Gesellschaftsschichten vor dem existentiellen Aus stehen und potentiell den Weg ins Prekariat antreten werden müssen, droht den Sozialsystemen eine weiter Schleifung, während der Staat im Sinne der instrumentellen Vernunft immer weiter autoritär durchgreift und sich in den sprichwörtlichen „Leviathan“ von Thomas Hobbes verwandelt – eine staatliche Entität, der jeglicher Sinn für Gemeinwohl abgeht und der seine eigentliche Daseinsberechtigung (Schutz und Garant des Wohlstands für Alle) in sein Gegenteil verkehrt hat und für dessen nun eigentlich überflüssig gewordene Existenz ganze Bevölkerungsschichten geknechtet werden müssen.
Wir stehen also am potentiellen Beginn eines Rückbaus zivilisatorischer Errungenschaften und eines weiteren gesellschaftlichen Zerfalls, der nicht nur die Spaltung in Arm und Reich vorantreiben wird, sondern bei dem eine weitere Verrohung der Gesellschaft vorprogrammiert ist. Die Donnerkuppel aus „Mad Max 3“ als Symbol einer durch die Verhältnisse geknechteten Gesellschaft, die ihre letzten Ansprüche an Menschlichkeit und Aufklärung über Bord geworfen hat und in der die Gemeinschaft der „Vereinzelten Einzelnen“(Karl Marx) zum Synonym für den „Kampf Jeder gegen Jeden“ geworden ist, wirft ihren Schatten voraus.
Im Folgenden wird in drei Abschnitten sukzessive erörtert, was die Linke als gesamtes Spektrum jetzt leisten kann und vor allem leisten sollte. Die Abschnitte sind „Der desolate Zustand der Linken“, „Das Bestehende vor dem Schlimmeren bewahren“ und „Die Systemfrage als Perspektive“. In ihnen werden jeweils die darin abgehandelten Aspekte stichpunktartig vorangestellt, um einen Überblick zu ermöglichen. Wichtig ist auch die Frage, was dafür zur Linken gezählt wird. Die Betrachtungen sind vor allem organisations- und strukturbedingten. Deshalb werden alle Gruppen und Organisationen zur Linken gezählt, die an einer Emanzipation von den aktuellen Verhältnissen arbeiten und im Idealfall postkapitalistisch und postbürgerlich eingestellt sein sollten. Dazu zählen: alle (Struktur-)Gruppen der radikalen Linken, antifaschistische Gruppen und Bündnisse, autonome Gruppen und Strukturen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Interessenverbände diskriminierter Gruppen der verschiedenen Bereiche (Rassismus, Antisemitismus, Feminismus, Ableismus, Antiziganismus usw.), Parteien (Linkspartei und mit starken Abstrichen SPD und Grüne), Zeitungen, Verlage, NGOs, Think Tanks, akademische Zusammenschlüsse und ähnlich gelagerte Bereiche. Es geht hier nicht um ein Reinhalten des Begriffes „links“, um damit möglichst die eigenen Ansichten als den heiligen Gral festzulegen, sondern vielmehr um den theoretischen und praktischen Anspruch der Emanzipation im postkapitalistischen und postbürgerlichen Sinne. Im Idealfall könnten alle diese Gruppen auf unterschiedlichen Wegen gemeinsam und koordiniert am Überwinden der Verhältnisse partizipieren. Es ist klar, dass konkrete Weltanschauungen dies in der Praxis stark einschränken oder verhindern, es geht hier aber um eine ganz grundsätzliche Betrachtung. Ebenso gibt es immer positive Gegenbeispiele für Kritik, welche mitunter auch genannt werden. Da es aber der kommende Abschnitt eine grundsätzliche Betrachtung ist, geht es um das Gesamtbild. Konkrete Vorschläge folgen dann in den beiden Schlussabschnitten des Artikels.
Der desolate Zustand der Linken
Beleuchtet werden die Problembereiche: radikale Linke, Gewerkschaften, soziale Träger und Interessenverbände, Parteien
Bevor es um konkrete und perspektivische Handlungsoptionen geht, muss eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands erfolgen. Und dieser ist desolat, schaut man einmal gesamtgesellschaftlich und mit Fokus auf postkapitalistische Bewegungen. Dabei sind die Voraussetzungen auf dem Zettel gar nicht mal so schlecht, gibt es doch all die Absatz davor genannten Gruppen und Strukturen. Nur sind diese aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Graden ohne vorhandene Wirkungsmacht. Dafür gab es vor der jetzigen Krise etliche Indikatoren, aber auch jetzt ganz unmittelbar zeigt sich eine relative Handlungsohnmacht.So wurden zum Beispiel die Gewerkschaften erst spät und mit Einschränkungen in die Maßnahmenberatungen in Bayern eingebunden, die ArbeitgeberInnen saßen dagegen von Anfang an am Beratungstisch. Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden wurden im Maßnahmenpaket nicht berücksichtigt oder verschwanden vom Verhandlungstisch. Davon betroffen sind unter Anderem die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent und finanzielle Verbesserungen im Pflegesektor. Mehr als Forderungen sind dazu auch noch nicht zu vernehmen, Arbeitskampf (in welcher Form auch immer) wurde bisher nicht ins Spiel gebracht. Von der Linkspartei ist ebenfalls wenig mehr zu vernehmen, als Detailkorrekturen der Maßnahmen oder eine Erweiterung in den unteren Einkommensschichten zu fordern. Die radikale Linke ist sicherlich privat mit nachbarschaftlichen Hilfsaktionen beschäftigt, sie tritt aber gar nicht erst als gesellschaftlich relevanter Faktor auf. Mehr als Apelle, Aufrufe und Texte (ja, auch die Mad Marx-Reihe zählt dazu) gibt es kaum. Insgesamt geht von der Linken kaum eine reale Gefahr aus, bestimmte Maßnahmen der Regierung zu ändern oder eigene Forderungen durchzusetzen, geschweige denn gerade eine gesellschaftliche Debatte zum bestehenden System und seinen Widersprüchen anzustoßen. Weder Streiks noch großangelegte Proteste stehen derzeit als Optionen für jeweils mögliche Zeitpunkte öffentlich breit zur Diskussion, sieht man von Phrasen ab.
Problembereich radikale Linke
Die Strukturprobleme der Linken zeichnen sich mitunter seit Jahrzehnten ab und haben dafür gesorgt, dass man in einer Krisensituation wie der jetzigen nur reagieren kann und keine offensiv agierende Akteurin auf gesellschaftlicher Ebene und der politischen Bühne darstellt, die weitreichende Forderungen stellen und durchsetzen kann. Die radikale Linke hat dabei vor allem ein organisatorisches und ein inhaltliches Problem. Beide bedingen sich gegenseitig. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich grob zwei Richtungen herausgebildet, denen eine organisatorische Vermittlung fehlt. Zum Einen gibt es die Bewegungslinke mit Fokus auf Antifaarbeit und autonome Gruppen. Dies ist insbesondere im Antifabereich nicht wirklich anders zu bewerkstelligen, agiert man hier doch bewusst mit illegalen Mitteln und kann so die Strafverfolgung erschweren. Hier ist man auch noch stärker auf konkrete Aktionen und praktisch umsetzbare Ziele fokussiert. Ein autonomer Hausbesuch ist konkret planbar und durchführbar, die Zerschlagung existierender Nazistrukturen erfordert eine koordiniertes und planvolles Vorgehen. Doch die Erfolgsrate eines solchen Aktivismus ist regional stark unterschiedlich, was auch an den jeweiligen örtlichen Begebenheiten liegt. Leider gibt es keinen flächendeckend erfolgreich und konsequenten Antifaschismus, der wirklich für alle Nazistrukturen eine handfeste Gefahr darstellt. Dem Hannibalnetzwerk hat die radikale Linke nicht viel entgegenzusetzen. Auch ist eine solche sehr eng auf das Thema „Kampf gegen Nazis“ ausgelegte Praxis keine Organisationsform, die auf die anstehenden Aufgaben der Coronakrise übertragbar ist. Es ist eine Erweiterung des Organisationsrepertoires nötig, um auch in Bereichen jenseits des autonomen Kleingruppenantifaschismus Ziele erreichen zu können.
Auf der anderen Seite hat sich die radikale Linke, was die Beschäftigung mit den Verhältnissen im Kapitalismus angeht, vor allem auf Theorie und Analyse der eben genannten Verhältnisse versteift. Daraus ist aber keine irgendwie geartete Praxis erwachsen, die dazu geneigt wäre, eine Verbesserung des Bestehenden auch nur irgendwie perspektivisch realistisch erscheinen zu lassen. Containern mag zwar eine wirksame Praxis zum Durchbrechen kapitalistischer Verhältnisse im ganz Kleinen sein, den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung und Organisationsform der Produktion wird man damit nicht besiegen. Das Ganze nimmt sich eher aus, wie die sprichwörtliche Maus, die versucht dem Elefanten auf den Fuß zu treten, wie es Wolfgang Pohrt mal treffend beschrieb. Das sich Zurückziehen auf den makropolitischen Theorie-Elfenbeinturm hat zwar dazu geführt, die aktuelle Krise recht gut erklären zu können. Eine Praxis ist indes aber nicht vorhanden, wie man in dieser Krisensituation landesweit effektiv agieren und gestalten könnte. Und das, obwohl die letzte Systemkrise von 2008/9 das gleiche Problem offenbart hat. So nimmt sich das Ergehen in (pseudo-)intellektuellem Theorie-Geflexe zum Teil selbst nur als Phrasendrescherei aus. Marx hat das Problem in der Deutschen Ideologie gleich zu Beginn in Bezug auf Junghegelianer auf den Punkt gebracht:
„Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich „welterschütternden“ Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen „Phrasen“ zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“
Der Anspruch und die Haltung lassen sich exemplarisch mit einer Formulierung darstellen: Es geht ums Ganze. (Der Text vom Bündnis „Ums Ganze“ zur Coronakrise sei hier empfohlen, er arbeitet mit weniger Umfang etliche Punkte ab, die auch in dieser Reihe hier zur Sprache kommen.) Und damit ist dann wirklich der ganz große Wurf gemeint. Mit groß klingenden Kampfansagen und selbstversichernden Phrasen holt man zum verbalen Generalangriff auf alles und jeden, am liebsten aber Staat, Gesellschaft, Patriarchat und Kapitalismus, aus. Da wird dann teilweise mit Worthülsen um sich geschossen, als gäbe es kein Morgen mehr. „Die Kämpfe müssen radikalisiert und zugespitzt werden“, „gegen die Gesamtscheiße“, „deutsche Zustände angreifen“, „den nationalen Konsens brechen“ und noch viele, viele Formulierungen mehr sind fester Bestandteil des Textbaukastens der radikalen Linken. Zum Teil lässt sich das nicht vermeiden, es darf aber nicht dabei bleiben. Wer sich ausschließlich auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene bewegt, wird damit außer einer Selbstbespaßung und dem Signalisieren einer Haltung höchstens noch eine grundlegende Einstellung beim geneigten Publikum erreichen können. Eine auf konkrete Erfolge zielende Praxis ist das aber nicht und sie wird in den meisten Fällen auch gar nicht erst skizziert. Es bleibt beim Appell zur Aktion, zur Verschärfung, zum Widerstand. Wie das aber genau aussehen soll, welche Handlungen man dafür vollziehen kann und welche realistisch erreichbaren Ziele angestrebt werden, bleibt oft das Geheimnis der Autor*innen. Außer wohlformulierter und maximalistischer Phrasen hat man der Realität in den meisten Fällen nichts entgegenzusetzen. Antikapitalistische Phrasen gegen bürgerliche Realität.
Und so verbleiben sehr viele Einzelgruppen und Freiräume organisatorisch mehr oder weniger für sich alleine und können dadurch keinerlei transformatorische Politik über ihren kleinen Bereich hinaus betreiben, während sie mit viel Pathos und Getöse zum Gefecht rufen. Projekte auf der Mikroebene treffen auf makropolitisch (gesamtgesellschaftlich) formulierte Ansprüche, ohne das es einen Mittelbau gäbe, der das Aktionspotential im Kleinen für eine Wirkmacht im Großen bündeln könnte.
Problembereich Gewerkschaften
Einen entsprechenden Mittelbau stellen Gewerkschaften für ihre jeweiligen Bereiche dar. Die Gewerkschaften sind ursprünglich als organisierte (Arbeits-)Kampforganisationen gegründet worden, was im 19. Jahrhundert tatsächlich sehr oft physische Kämpfe und Waffengewalt beinhaltete. Die Staatsgewalt und die Industriellen waren nicht gerade zimperlich, wenn es um das Zerschlagen organisierter Gegenwehr ging. Im Laufe der letzten ca. 150 Jahre haben die Gewerkschaften viele Erfolge erkämpft und sind seit Langem staatlicherseits anerkannt und fest verankert. Mit fortschreitendem Erfolg und mit wachsender Anerkennung haben sich die Gewerkschaften im deutschsprachigen Raum immer weiter entradikalsiert. Der Anspruch wurde immer bescheidener, inzwischen sind sie staatstragend und systemstabilisierend geworden. Wer bringt mit dem DGB in Deutschland oder mit dem ÖGB in Österreich den Kampf zur vollständigen Überwindung des Kapitalismus in Verbindung? Die Integration der Gewerkschaften in den akzeptierten Interessenaustausch hat sie Stück für Stück entschärft.
In Österreich hat man dem Ganzen dann auch vor 100 Jahren das passende Unwort gegeben: Sozialpartnerschaft. Hier sollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vom offenen Konflikt abrücken und in einem Dialog Konsenslösungen finden. Die Konfliktparteien des Arbeitskampfes und der Klassengesellschaft sollen möglichst so miteinander ausgesöhnt werden, dass sie den Staat nicht gefährden. Ein Überwinden der Verhältnisse ist damit von vornherein ausgeschlossen. Mit der Sozialpartnerschaft sagt man nicht nur einem revolutionärem Umsturz auf Wiedersehen (in Österreich hat es die Sozialdemokratie zum Beispiel auch verpasst, zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Coup aufzurufen, obwohl man dafür gerüstet war), man verabschiedet sich auch von einem syndikalistischen Ansatz, durch transformatorische Politik und das Aufbauen eigener Strukturen den Kapitalismus durch praktisches Handeln zu überwinden. Auch bei dieser Taktik wird auf die Wirtschaftsseite nicht eingegangen, man schaut lediglich, wie man unter aktuellen Bedingungen am besten Wirtschaft und Gesellschaft zum Sozialismus bringen kann – der immer und bei jedem erzielten Erfolg das Ziel bleibt und die Wahl der Mittel und Methoden bestimmt.
In Deutschland setzte man ab den 20ern auf die soziale Marktwirtschaft, die SPD-Führung hat mehrere Gelegenheiten zum revolutionären Umsturz konterrevolutionär beantwortet und die Gewerkschaftsarbeit damit nachhaltig entradikalisiert. Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft sind zwei Ausprägungen des selben Grundkonzepts. Wer sich zur sozialen Marktwirtschaft bekennt, will den Kapitalismus nicht überwinden. Der DGB-Vorsitzende Rainer Hoffmann bekennt sich ausdrücklich zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Sozialpartnerschaft und bekommt dafür Gratulationen aus der CDU. Eine bessere Veranschaulichung des staatstragenden, systemkonformen Elends der Gewerkschaftsentwicklung gibt es wohl kaum. (https://jungle.world/index.php/artikel/2018/49/hauptsache-stabilitaet ) Man muss der Realität ins Auge sehen und feststellen, dass die Gewerkschaften kein Teil der radikalen Linken sind und inzwischen dermaßen in das System eingehegt wurden, dass sie als Beruhigungstropfen für die fungieren, deren Interessen sie idealerweise radikal vertreten sollten.
Problembereich soziale Träger und Interessenverbände
Ein ähnliches System mit der Integration und Einhegung in das bestehende System haben soziale TrägerInnen und Interessenvertretungen wie zum Beispiel Frauenverbände oder antirassistische Gruppen. Der Staat und die Wirtschaft verlassen sich zum Teil bewusst darauf, dass Einrichtungen wie die Volkssolidarität oder die Tafeln Versorgungsaufgaben übernehmen, die eigentlich von der öffentlichen Hand geleistet werden sollten. Der Staat, welcher aktuell eben die öffentliche Hand darstellt, überlässt Teile der Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsteile der Hilfsbereitschaft und Organisation von Privatpersonen, spart sich also die entsprechenden Kosten. Bei Hartz 4 sieht man aktuell, dass die Politik aktiv darauf setzt. Die FDP! forderte eine zeitweise Anhebung der Mindestsicherung, da durch den Wegfall der Tafeln viele nicht mehr über die Runden kämen. Man weiß also, dass die Tafeln überlebensnotwendig sind, tut aber nichts, um die Grundversorgung staatlich abzusichern.
Was soziale TrägerInnen, Interessenverbände und NGOs (z.B. Stiftungen) gemein haben, ist ihre Abhängigkeit vom Staat. Viele Projekte werden staatlich gefördert oder profitieren von Steuerbefreiungen im Vereinsrecht. Auch werden oft Räumlichkeiten gestellt oder zumindest teilfinanziert. Ein großes Programm wäre hier zum Beispiel das Programm „Demokratie fördern“, bei dem zivilgesellschaftliche Projekte gegen Rechts mit Mitteln versorgt werden. Alle Bereiche, die sich gegen Rechts engagieren, soziale Aufgaben übernehmen und diskriminierte Gruppen und Minderheiten vertreten, würden von einer postkapitalistischen, postbürgerlichen Gesellschaft profitieren. (Hier wieder der Hinweis, dass es um eine grundsätzliche Betrachtung geht und es einige Ausnahmen gibt.) Da sie im Gegensatz zu Gewerkschaften aber selten über ausreichend Eigenmittel verfügen, um völlig unabhängig von Staat und Wirtschaft zu bestehen, sind sie auf finanzielle und logistische Unterstützung angewiesen. Das bereits angesprochene Programm „Demokratie fördern“ integriert Projekte dann wieder so in das bestehende System, weil die Mittel an eine Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekoppelt sind. Je nach aktueller politischer Lage können ausschließlich auf Rechtsradikalismus spezialisierte Projekte unter Druck geraten, sich zumindest öffentlich gegen die radikale Linke zu positionieren, um die Förderung nicht zu verlieren. Die Gefahr einer linksradikalen Orientierung, welche perspektivisch systemgefährdend werden könnte, wird in der Breite effektiv entschärft.
In der Gesamtbetrachtung fällt auf, dass soziale TrägerInnen und Interessenorgas als eigentlich realpolitischer Mittelbau entweder über Finanzierungsprobleme vom Staat eingehegt werden und von ihm abhängig sind, oder sich durch bestimmte inhaltliche Problemstellen nicht in eine radikal linke Politik der Transformation einfügen können. Zudem wird hier oft eine passive Rolle gesetzt, die sich um das Abmildern der schlimmsten Zustände bemüht, aber nicht den Horizont zur radikalen Gesellschaftstransformation aufweist, um sich im besten Falle selbst überflüssig zu machen. Die Tafeln und andere Wohlfahrtsverbände müssten eigentlich postkapitalistisch eingestellt sein, sollten sie dem Anspruch ihrer Tätigkeit konsequent nachkommen.
Problembereich Parteien
Zu den linken Parteien zählt man gemeinhin die Linkspartei, die SPD und die Grünen. Schaut man sich die tatsächlichen Positionen an, ist einzig die Linkspartei als klassisch sozialdemokratisch zu sehen. Ein reformistischer Flügel steht im ständigen Clinch mit einem transformatorischen Flügel und es gibt auch tendenziell revolutionär ausgerichtete Grüppchen, die in Teilen offen davon sprechen, den Kapitalismus zu überwinden. Die SPD hat sich seit der vorletzten Jahrhundertwende immer weiter weg vom Anspruch des eigenen Parteiprogramms (demokratischer Sozialismus) hin zu einer staatstragenden Partei der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Eine tatsächliche Transformation des Bestehenden hin zu einem Aussetzen der Marktwirtschaft will niemand dort, unter Gerhard Schröder hat man einen radikalen Sozialabbau durchgezogen, den die CDU niemals hätte durchsetzen können. Dies führte letztlich zum Bruch mit den Gewerkschaften (die sich selbst schon vom Sozialismus verabschiedet hatten), weil man nicht mal mehr sozialdemokratisch agierte. In den letzten Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Flügel der SPD zusehends mit Erfolg, den Einfluss des Seeheimer Kreises und der Nachwehen der Schröder-Gang zurückzudrängen und die neue SPD-Spitze ist tatsächlich eine, die man als im weitesten Sinne links bezeichnen könnte. Aber die SPD war über 100 Jahre bereit, sich selbst aufs Schafott zu schleifen und das Fallbeil auszulösen, wenn es nur darum ging, staatstragend Deutschland zu retten. Man sollte also selbst im sozialdemokratischen Sinne nicht zu viele Hoffnungen haben. Die Grünen sind inzwischen von einer sozialliberalen Partei in Teilen schnurstracks ins konservative Lager gewandert. Die antikapitalistischen Kräfte sind bereits um 1990 herum aus der Partei ausgetreten, die nächste GroKo dürfte auch nicht die SPD beinhalten und auf Landesebene versteht man sich teilweise blendend mit der CDU in den Regierungen. Hier ist man Fair Trade-bürgerlich, nicht antikapitalistisch.
Da man unter den gegebenen Umständen nicht umhin kommt, sich auch mit dem Staat als Akteur und möglichen Kampfplatz für transformatorische Politik auseinanderzusetzen, sind Parteien in jedem Fall ein wichtiger Faktor. Selbst anarcho-syndikalische Ansätzen profitierten davon, wenn die Linkspartei die Kanzlerin stellte. Parteien sind allerdings als Organisation an das Parteienrecht gebunden und unterliegen somit der Gefahr, bei realer Wirkmacht zur Systemveränderung vom Verfassungsschutz beobachtet und möglicherweise als verfassungsfeindlich eingestuft zu werden, was dann wiederum ein Parteiverbot nach sich ziehen würde. Dieses Verbot ist nach aktueller Rechtslage in der BRD an die Wirkmacht gebunden, die sogenannte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ ernsthaft zu stören und zu gefährden. Ab dem Moment, ab dem eine Partei anfangen könnte, die Systemfage zu stellen, wird sie verboten. Damit fällt der alte marxistische Ansatz in Teilen weg, mit der Kaderpartei auf Massenbasis staatsfeindlich zu agitieren, die Revolution herbeizuführen und diese dann zu gewinnen.
Trotz allem gibt es aber Möglichkeiten, sich mit Sozialverbänden, Gewerkschaften, Interessensgruppen und außerparlamentarischer Linker auf erreichbare Ziel, koordiniertes Handeln und Aktionskonzepte zu verständigen. Die Möglichkeiten, in einem offensiven Zusammenspiel von parlamentarischem und außerparlamentarischen Druck Forderungen durchzusetzen, wäre gegeben – man müsste nur aggressiver auftreten und einen aktionsorientierten Anspruch formulieren. Eine ohne Frage schwierige Aufgabe, aber eine machbare und angesichts der aktuellen Machtlosigkeit eine erforderliche. Deshalb wird in den folgenden beiden Parts beleuchtet, was die Linke jetzt trotz ihrer Struktur- und Organisationsprobleme machen kann und vor allem sollte.
Zwischenspiel: Die Interventionistische Linke als Versuch, aus der Wirkungslosigkeit auszubrechen
Die Problemstellen der radikalen Linken im Kontext des linken Spektrums im Speziellen und der Gesellschaft allgemein sind nicht neu. Verschiedene Organisationsmodelle sind im Laufe der Jahrzehnte gescheitert oder aufgegeben worden, der Kampf hat sich zusehends entradikalisiert und der Ruf der Krawalllinken ist weit schlimmer als es die Realität hergibt. Staat und bürgerliche Gesellschaft werden vor allem im Kleinen herausgefordert, ohne sich damit aber jemals dem Ganzen entziehen zu können. Aber ob vor der Rigaer 94 eine Barrikade brennt oder nicht, ändert nichts an den Verhältnissen jenseits des Kleinen. Die Interventionistische Linke verfolgt daher einen klar mesopolitischen Ansatz. Man setzt auf Ortsgruppen im ganzen Bundesgebiet, man kann sich auf der Website nach Möglichkeiten in der (relativen) Nähe umschauen. Die Ortsgruppen agieren dann als Strukturgruppen, während man sich überregional auf einige Schwerpunktereignisse im Jahr konzentriert. G20, Ende Gelände, Pflegestreik, Rojava, Rheinmetall – man wählt die Projekte mit Bedacht und arbeitet dann Aktionsstrategien aus.
Hier geht es jetzt nicht um die inhaltliche Ausrichtung der IL und einzelner Ortsgruppen, im Fokus steht hier der Aufbau und die damit gegebenen Möglichkeiten. Durch die überregionale Struktur kann man sich Aktionen im ganzen Bundesgebiet zur Aufgabe machen. Dabei zerfleddert sich die IL aber nicht in viel zu viele Einzelthemen, sondern fährt teilweise über Jahre hinweg strukturiert und planvoll Kampagnen zu ihren Schwerpunkten. Durch die größere Anzahl an Mitgliedern und die Vernetzung zu anderen Gruppen hat man auch größere finanzielle und logistische Möglichkeiten als die Autonome Antifa Demmin mit fünf Leuten. Man hat presseerfahrene Personen, Kontakte und Erfahrungen, die alle für das Planen und Durchführen zukünftiger Kampagnen und Großaktionen hilfreich sind. Die Problematik vor allem der radikalen Linken, keine Vermittlung zwischen Kleingruppenaktivismus und radikalem Anspruch an die Gesellschaft zu haben, wird hier im Rahmen der Möglichkeiten der IL gelöst.
Ein Knackpunkt wird aber auch die IL vor eine Entscheidung stellen. Wenn sie tatsächlich einen transformatorischen Anspruch umsetzen will, muss sie sowohl zahlenmäßig als auch kampagnenbezogen größer werden. Ende Gelände ist richtig und wichtig, hat seinen Hauptimpact vermutlich aber schon gehabt. Hier ist jetzt eine Art Feedbackschleife notwendig, um die einzelnen Kampagnen auf ihren jeweiligen Status Quo abzuklopfen und zu schauen, wo man Veränderungen vornehmen muss, um dem transformatorischen Anspruch gerecht zu werden. Nicht nur Wachstum, sondern auf Schwerpunktverschiebungen hin zum Sozialismus sind notwendig. Hier wird die IL aber zwangsläufig in einen Bereich kommen, der für den Staat verbotswürdig ist. Eine radikale Linke kann nicht die BRD als bürgerlichen Staat erhalten, sondern steht ihr per Definition feindlich gegenüber. Ob und wie die IL diese Gratwanderung meistern wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Denn was ihren bisherigen Aktionsradius angeht, läuft sie Gefahr, es sich in ihrer (im Vergleich mit anderen Gruppen relativ großen) Nische gemütlich zu machen und in eine Stagnation zu verfallen.
Das Bestehende vor dem Schlimmen bewahren
- Wir sitzen nicht alle im selben Boot
- Mindestforderung der Wiederherstellung aller Arbeitsschutzvorschriften auf den Stand vom 1. März
- Jede Verschlechterung von Arbeitsschutzbestimmungen und -rechten dokumentieren und mit unmissverständlichen Gegenforderungen im Sinne der Angestellten verbinden.
- Agitation der Beschäftigten in den gerade als „systemrelevant“ bezeichneten Bereichen mit dem Ziel sie für gewerkschaftliche Arbeit und/oder Arbeitskampf zu gewinnen
- bestehende Stadtteilhilfen der Krisensituation anpassen und miteinander vernetzen, um eine koordinierte Struktur auf regionaler und perspektivisch landesweiter Ebene zu gewinnen
- die bisherigen Ausnahmen für die Wirtschaft offenlegen und die Schließung aller nicht erforderlichen Betriebe anstreben
- Wer als Lohnabhängige/r von den Maßnahmen (z.B. Kurzarbeit) betroffen ist, soll sich organisieren.
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