Erich Mühsam – Ein Nachruf

Erich Mühsam – in der Nacht vom 09. auf den 10.07.1934 im KZ Oranienburg von der SS gequält und ermordet.
Unbeugsam bis zum Schluss!
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Als Anarchist lehnte Erich Mühsam jede Herrschaft über sich und die Gesellschaft ab. Er war maßgeblich am Ausruf der Münchner Räterepublik beteiligt und engagierte sich bei der KPD-nahen Organisation Rote Hilfe Deutschlands für politische Gefangene. 1930 wurde er Mitglied der anarcho-syndikalistisch organisierten Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) und 1932 erschien im Fanal, einer anarchistischen Zeitung, deren Herausgeber Mühsam selbst war, seine programmatische Schrift „Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?“.
Er war einer derjenigen, der schon früh immer wieder vor der Gefahr des heraufziehenden Faschismus gewarnt hatte. Für die Nazis war er eine Projektion ihres Hasses sowohl optisch wie auch in seiner Denkweise und seinem Handeln. Ein Jude, der mit seinem zerzausten Bart und der gekrümmten Nase dem nahe kam, was sie in ihrer verblendeten Ideologie der Rassenlehre als das „typisch Jüdische“ gekennzeichnet hatten. Ein Utopist, Intellektueller, Menschenfreund, Staatsfeind, Agitator und Revolutionär. So verkörperte er alles, was die Nazis verabscheuten.
Er gehörte daher zu den frühen Opfern des NS-Regimes. Mit den Worten „Dieses rote Judenaas muss krepieren“, hatte Goebbels selbst Mühsams Ermordung befehligt (Vgl. Maußner, Hanne/Schiewe Jürgen (Hrsg.): Erich Mühsam. Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze. Stuttgart 2003).

Am 27.02.1933 brennt der Berliner Reichstag. Noch vor Ort im brennenden Gebäude wird Marinus van der Lubbe verhaftet. Er erklärt sich für den Brand alleinig verantwortlich mit dem Ziel, die deutsche Arbeiterschaft zum Widerstand gegen die faschistische Machtergreifung mobilisieren. Doch Göring stellt die Brandstiftung als Verschwörung der KPD dar und lässt noch in dieser Nacht eine große Zahl politischer GegnerInnen inhaftieren.
Am Tag darauf wird die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ erlassen, der Freischein für die Verfolgung politischer GegnerInnen des NS-Regimes. Nun entstanden die ersten Konzentrationslager.

Erich Mühsam versuchte zwar noch zu entkommen, doch auch er wurde in der Nacht des Reichstagsbrands verhaftet und in der 16 Monate andauernden „Schutzhaft“ bis zu seinem Tod von den Nazis immer wieder schwer misshandelt, gefoltert und gedemütigt. Sein Tod sollte schließlich als Suizid inszeniert werden, aber Mühsam machte ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Am 06.07. wurde die Leitung des KZs Oranienburg einer anderen SS-Einheit überstellt und am Abend des 09.07. wurde Erich Mühsam zum Gespräch gerufen. Als er zurückkam, teilte er seinen Mithäftlingen mit, es sei von ihm verlangt worden, dass er sich erhängt, doch er weigerte sich. Noch in derselben Nacht holten ihn die SS-Leute ab. Am nächsten Morgen fanden seine Mithäftlinge den grausam verschandelten Leichnam aufgehängt im Abort.
Die Schlagzeilen lauteten: „Der Jude Erich Mühsam hat sich in der Schutzhaft erhängt“.

Seine Mithäftlinge dementierten öffentlich diese Verleumdung, sodass internationale Medien über Erich Mühsams Tod als das berichteten, was er war: Ein politischer Mord des Nazi-Regimes.
Mühsams Tod erregte großes Aufsehen und war ein früher und sehr eindringlicher Fingerzeig auf die terroristischen Taten der Nazis, doch ein gesellschaftlicher Aufschrei war auch schnell wieder vergessen und verhallte im Nichts.

Erinnern wir uns an seine Botschaft:

Freiheit in Ketten

Ich sah der Menschen Angstgehetz;
ich hört der Sklaven Frongekeuch.
Da rief ich laut: Brecht das Gesetz!
Zersprengt den Staat! Habt Mut zu euch!
Was gilt Gesetz?! Was gilt der Staat?!
Der Mensch sei frei! Frei sei das Recht!
Der freie Mensch folgt eignem Rat:
Sprengt das Gesetz! Den Staat zerbrecht! –
Da blickten Augen kühn und klar,
und viel Bedrückte liefen zu:
Die Freiheit lebe! Du sprichst wahr!
Von Staat und Zwang befrei uns du! –
Nicht ich! Ihr müsst euch selbst befrein.
Zerreißt den Gurt, der euch beengt!
Kein andrer darf euch Führer sein.
Brecht das Gesetz! Den Staat zersprengt! –
Nein, du bist klug, und wir sind dumm.
Führ uns zur Freiheit, die du schaust! –
Schon zogen sie die Rücken krumm:
O sieh, schon ballt der Staat die Faust! …
Roh griff die Faust mir ins Genick
des Staats: verletzt sei das Gesetz!
Man stieß mich fort. – Da fiel mein Blick
auf Frongekeuch und Angstgehetz.
Im Sklaventrott zog meine Schar
und schrie mir nach: Mach dein Geschwätz,
du Schwindler, an dir selber wahr!
Jetzt lehrt der Staat dich das Gesetz! —
Ihr Toren! Schlagt mir Arm und Bein
in Ketten, und im Grabverlies
bleibt doch die beste Freiheit mein:
die Freiheit, die ich euch verhieß.
Man schnürt den Leib; man quält das Blut.
Den Geist zwingt nicht Gesetz noch Staat.
Frei, sie zu brechen, bleibt mein Mut –
und freier Mut gebiert die Tat!

(Quelle: Sammlung 1898-1928, J. M. Spaeth Verlag, Berlin, 1928)

Edit: Mühsams Frau Zenzl versuchte seinen politischen, literarischen Nachlass zu retten und flüchtete trotz vorangegangener Warnungen ihres Mannes in die Sowjetunion. Er hatte sie gewarnt, weil Stalin schon zuvor AnarchistInnen als konterrevolutionär verhaften und teilweise umbringen ließ. Und natürlich konnte Stalin mit Mühsams Schriften nichts anfangen. 18 Jahre, bis 1955, verbrachte Zenzl Mühsam im Gulag und starb 1962 in Ost-Berlin. Erich Mühsams Anarchismus wurde von der DDR totgeschwiegen.

So wurde sein Leben grausam beendet von den Nazis, sein Andenken von ihnen beschmutzt und sein Vermächtnis von der DDR missachtet.
Doch wir erinnern uns heute an einen wahren Antifaschisten.

[Sophie Rot]

Und ewig grüßt der Elfenbeinturm

2018 und 2019 werden teilweise durch Klimaproteste geprägt. So war es im letzten Jahr die Auseinandersetzung um den Hambacher Forst, welche über Wochen in den landesweiten Medien für Aufmerksamkeit sorgte und eine nicht abzusehende Eigendynamik entwickelte, welche 50.000 Menschen auf die Straße brachte. Parallel dazu ging ab August 2018 eine schwedische Schülerin auf die Straße und ab dem November hatte sich „Fridays For Future“ zu einer weltweiten Protestbewegung entwickelt, welche in den folgenden Monaten sowohl Medienecho als auch Protestpotential vom Hambacher Forst in den Schatten stellen sollte.

Beide Proteste haben einige Gemeinsamkeiten und diese Gemeinsamkeiten geben Hinweise auf zukünftige Proteste und soziale Bewegungen. Beide Bewegungen sind autonom entstanden. Weder finanzstarke noch personell und organisatorisch stark aufgestellte Organisationen haben diese Proteste gestartet. Es stehen weder Gewerkschaften noch Verbände dahinter, es handelt sich um Einzelpersonen oder kleine Gruppen. Der Hambacher Forst wurde zeitweise von Ende Gelände unterstützt, hier handelt es sich aber auch um einen autonomen Klimaprotest. Beide Protestbewegungen befassen sich mit dem gleichen Thema: Klimawandel und das viel zu wenig dagegen getan wird. Es finden sich auch jeweils viele junge Menschen bei den Protesten, FFF zieht seine Leute ausschließlich aus den Bildungseinrichtungen, also vorrangig den Schulen. Und beide Protestbewegungen sind größer geworden als man es erwarten würde.

Die Reaktionen ließen in beiden Fällen nicht lange auf sich warten und sie fallen auch erst einmal erwartungsgemäß aus. FPD, CDU, AfD und alles, was sich als wirtschaftsfreundlich versteht, ist konsequent dagegen und gibt das auch in diversen sprachlichen Härtegraden zu erkennen. Randnotiz: Beim Kohleabbau hat die FDP übrigens kein Problem mit Enteignungen, wie man an der Hambidebatte sehen kann. Die SPD macht mal wieder einen Spagat und blinkt links wie rechts, nur um dann doch in Richtung Wirtschaft abzubiegen, die Grünen und die Linkspartei sind auf Seiten der Proteste, auch wenn den Grünen einige Regierungsbeteiligungen kein so gutes Zeugnis in Sachen Klimapolitik ausstellen.

Geht man von diesen großen Akteuren der Politik mal weg und schaut sich in den Nischen um, wird man vor allem im Bereich der Ideologiekritik oder in dem Sektor, den man mal antideutsch nannte, jede Menge Rotz und Bullshit finden. Ewig winkt der Elfenbeinturm einer sich als kritisch verstehenden Theorie, welche mit Verachtung auf alles herunterschaut, was sich irgendwie für eine neue Form der Klimapolitik einsetzt. Irgendwelche Internetficker wähnen sich besonders schlau und betitulieren die Proteste entweder als konformistisch oder ökofaschistisch, beim Hambacher Forst noch gewürzt mit Barbarei. Mehr als hohle Schlagworte, die man selbst durch inflationäre Benutzung jeder präzisen Bedeutung und Schärfe entledigt hat, kommen selten. Man hat es sich im Elfenbeinturm der kritischen Kritik als kritischer Kritiker (es sind vorrangig Männer) eingerichtet und will sich aus seinem kleinen Nest auch nicht rausbewegen. Dabei überholt einen der Zeitgeist und je abgehängter man ist, desto schriller werden die Vorwürfe. Ein Bahamasautor bezeichnete die Protestierenden beim Hambi als grüne SA, Greta Thunberg wird regelmäßig als Hitlermädchen dargestellt – weil ihre Zöpfe, ist ja klar und kann gar nicht anders sein.

Was diese ganzen elfenbeinturmigen Trauergestalten nicht verstehen ist, dass es nicht weniger wird mit den Klimaprotesten. Warum? Weil in den letzten 30 Jahren einfach viel zu wenig passiert ist und sich die Klimaforschung einig ist, dass wir auf eine sehr große ökologische Katastrophe zusteuern, es wissen und nicht annähernd genug dagegen tun. Die Folgen des Klimawandels sind nicht genau abzuschätzen, die Prognosen sind aber alles andere erfreulich. Möglicherweise kommt es schon bei einer Erwärmung von 1,5 Grad zu Resonanzeffekten, also einem sich selber verstärkenden Treibhauseffekt. Innerhalb von 20 bis 30 Jahren werden wird zwangsläufig hunderte Millionen Klimaflüchtlinge haben. Der Meeresspiegel steigt an und wird dadurch Inseln und Küstenregionen unbewohnbar machen, extreme Wetterlagen nehmen zu. Allein im letzten Jahr gab es in Deutschland massive Ernteausfälle durch Dürre und in diesem Jahr sieht es zumindest im Norden auch nicht so viel besser aus. Von sehr vielen Wissenschaftler*innen wird ein Vergleich mit den uns bekannten großen Artensterben in der Geschichte der Erde gezogen. Dabei sind bis zu 97 Prozent allet Arten ausgestorben – und genau diese Option wird auch hier ins Spiel gebracht. Es sterben also nicht einfach nur ein paar Arten aus, wahrscheinlicher ist es, dass komplette Ökosysteme vernichtet werden. Welche Auswirkungen das widerum auf menschliches Leben haben wird, kann man sich selber denken.

Wer heute 20 ist, hat noch gut und gerne 70 Jahre auf dieser Welt zu leben und wird die Auswirkungen der Erwärmung in vollem Umfang abbekommen. Wer heute 60 ist, wird das nicht mehr mitbekommen, vielleicht aber an einem Hitzeschlag sterben. Und wie es in 150 Jahren aussieht, kann man jetzt noch gar nicht sagen, es kann aber tatsächlich dramatisch für das Gesamtsystem Erde werden. Politik und Wirtschaft agieren trotz wissenschaftlicher Evidenz (und hier kann man dann tatsächlich mal auf das Rezo-Video verweisen, da genau das der wissenschaftliche Konsenz ist) entgegen den Empfehlungen der Leute, die Expertise in Sachen Klimawandel und Auswirkungen haben. Politik und Wirtschaft agieren kontrafaktisch. Und das regt dann Leute auf, die darunter leiden werden. Da es auch nicht den Anschein macht, dass sich in den nächsten Jahren ein radikaler Wechsel der Wirtschaftspolitik vollziehen wird, werden entsprechende Proteste weitergehen und zunehmen.

Den ideologiekritischen Internetficker stört das hingegen kaum, der wissenschaftliche Konsenz ist für ihn in seinem Elfenbeinturm egal und nur mit Mühe kann er sich davon abbringen lautstark gegen die Klimalüge anzuschreiben. Stattdessen bedient man sich der alten Methode, alles als Hitler zu bezeichnen, was einem nicht passt. Da wird dann aus Greta Thunberg ein BDM-Mädchen, da brabbelt man vom Öko- oder Klimafaschismus, da sieht man schon das Vierte Reich am Horizont näher kommen. Was der ideologiekritische Internetficker allerdings gegen den Klimawandel tun will, bleibt er in der Regel schuldig. „Wird schon nicht so schlimm werden“ ist da oftmals das Einzige, was man vernehmen kann. Wie er mit hunderten Millionen Klimaflüchtlingen in den nächsten Jahrzehnten fertig werden will kann er nicht sagen. Solche Prognosen werden gekonnt ignoriert, der Elfenbeinturm darf ja nicht zum Einsturz gebracht werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, es handele sich um eine „konformistische Revolte“, man kratze also nicht an den Grundfesten des Systems sondern bewege sich ausschließlich in einem begrenzten Rahmen, der schlussendlich nur Detailänderungen zulässt, aber an der Gesamtscheiße nichts ändert. Und da ist ja auch was dran. Insbesondere der Forderungskatalog bei FFF liest sich sehr harmlos und ohne Biss. Es fehlt offenbar einem konsensualen Verständnis, dass Kapitalismus und Klimawandel aufs Engste miteinander verknüpft sind. Aber auch das ist nicht überraschend, handelt es sich doch vorrangig um Schüler*innenproteste. Und wie es bei allem Massenprotesten so ist, sind die weder einheitlich noch durch 20 Jahre Marxschule gegangen. Da kann sich der ideologiekritische Internetficker jetzt entspannt zurücklehnen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Adorno und besonders gerne dem späten Horkheimer droppeb like nothing. Alles dumme Kinder, die keine Ahnung von der Welt haben und eh nur in ihrem falschen Bewusstsein schmoren, während man selber ja über den Dingen steht und den vollen Durchblick hat. Dummes Pack, was werden die überhaupt aktiv!

„Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt aber darauf an sie zu verändern.“ Diesen Leitsatz hat Marx seinerzeit jeder emanzipatorischen Bewegung ins Stammbuch geschrieben und dieser Leitsatz wird auch bis in alle Ewigkeit richtig bleiben. Der ideologiekritische Internetficker macht nichts anderes als die Welt zu beschreiben und in der Regel alles schlechtzureden, was einem vor die Kommentarfunktion hüpft. Ändern tut er nichts und will es auch gar nicht, zu bequem ist der Elfenbeinturm, zu sehr bürstet es das eigene Ego, wenn man sich über andere erheben kann. Dabei ist eine Protestbewegung wie Fridays For Future genau das, was eine radikale Linke braucht. Hier stehen Menschen freiwillig auf und artikulieren ihren Unmut auf der Straße. Es ist ein sozialer Protest, der in der Tendenz links ist und der ein Thema anspricht, welches unmittelbar die soziale Frage berührt.

Unter den Auswirkungen des Klimawandels werden nämlich die Armen am meisten leiden. Einmal die ärmeren Länder, welche kaum am Klimawandel Schuld tragen und nur wenige ökonomische Ressourcen besitzen, mit den Änderungen und den Wetterextremen fertig zu werden. Oder sie verschwinden gleich ganz, wie die Inseln im Pazifik. Und es wird die ärmere Bevölkerung in jedem Land treffen, welche nicht die finanziellen Mittel besitzt, sich auf die veränderte Wetterlage einzustellen und nicht einfach mal eben wegziehen kann oder dergleichen. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden solche umfassenden Umwälzungen vor allem auf dem Rücken der Einkommensschwachen ausgetragen. Wenn sich der ideologiekritische Internetficker jetzt also ohne Alternativen anzubieten gegen jede Form des Klimaprotestes stellt, dann wird er zum Reaktionär, der ganz konformistisch das bestehende System stützt und dafür sorgt, dass die Ärmsten darunter leiden müssen. Der Elfenbeinturm ist dann nichts anderes als indirekter Sozialchauvinismus, gepaart mit NS-Verharmlosungen.

Dabei gibt es an Fridays For Future und auch an den Protesten rund um den Hambacher Forst Dinge, die man kritisieren kann und kritisieren sollte. Das Ziel dabei muss aber eine verbesserte Protestbewegung sein, nicht das Ende des Protestes. Letzteres will die ideologiekritische Kartoffel, denn der berechtigte und wissenschaftlich abgesicherte Grund für den Protest und die sozialen Auswirkungen des Klimawandels werden ignoriert. Je mehr solcher Kommentare man liest, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass es vielen dieser Interfickern nur um ein Konservieren des Jetztzustandes ist. Es möge sich bitte nichts großartig ändern und vor allem soll es einen nicht selbst berühren. So was kann man auch gerne als kartoffelige Kleingeistigkeit bezeichnen. Nur kann das gar nicht funktionieren, da der Klimawandel stattfindet und auch jeden Elfenbeinturm der kritischen Kritikkritiker zum Einsturz bringen wird mit seinen realen Auswirkungen. Egal wie oft man Thunberg mit Hitler vergleicht, den Klimawandel interessiert das nicht.

Laura Stern

Gedanken zu dem Mord an Lübcke

Ich bin müde. Müde von dem Aufschreien. Müde davon, dass es trotzdem verhallt.

Immer denkt man „Schlimmer kann es schon nicht kommen“. Es kommt schlimmer. Rechte Todesdrohungen gegen alle, die zu links sind, sind an der Tagesordnung. Selbst wir sind davon betroffen. Wir agieren aber aus einer weitgehenden Anonymität heraus. Aber jede Person, die sich im linksradikalen oder antifaschistischen Spektrum bewegt, kennt diese Drohungen.

Bislang wurden sie oftmals nur belächelt. Die Zeit des Abtuns ist aber lange vorbei. Auch ich hatte schon sehr reale Todesdrohungen. Scharfe Munition im Briefkasten nebst Drohbrief. Das hier ist kein Spiel. Das ist todernst. Linke PolitikerInnen können ein Lied davon singen, noch mehr als wir. Jetzt hat es einen CDU-Politiker (!) getroffen. Weil er flüchtlingsfreundlich war. Weil er sich an die Basics der Menschlichkeit gehalten hat.

In den letzten Jahren sind viele rechte Terrorzellen aufgeflogen, viele andere garantiert nicht. Hunderte von Faschos laufen mit offenen Haftbefehlen frei herum. Sie sind vielleicht auch bereit zu töten. Den Staat juckt das nur bedingt. Da steht auf der Tagesordnung Linke zu drangsalieren. Das Problem von Rechts wird weiter kleingeredet.

Die Gesellschaft scheint auch weitestgehend ruhig zu sein. Ich war mir gestern so sicher, dass ein Aufschrei durch das Land gehen wird. Natürlich war die Festnahme und dass es sich dabei um einen Rechten handelt überall nachzulesen. Die gesellschaftliche Reaktion blieb aber aus. Im Falle Magnitz war man mit Verurteilungen linker Gewalt ganz schnell bei der Hand. Rechter Terror ist aber anscheinend etwas, was man aushalten muss.

Die Kälte, die wir aktuell spüren, scheint immer schlimmer zu werden. Aus dem NSU wurde nichts gelernt. Jedes Mal geht der rechte Terror für eine Woche durch die Presse. Dann ist er verschwunden. Als ob er nie dagewesen wäre. Der Staat macht die drei Affen und der Rest der Hufeisen-Mitte-Gesellschaft gleich mit.

Wir haben uns an die Scheiße gewöhnt. Die Scheiße wird aber nicht okay, nur weil sie immer wieder passiert. Das macht es nur umso schlimmer. Wenn Faschos wieder Umsturzpläne schmieden, kann es nicht das Ziel sein, empört daneben zu stehen. Die Scheiße muss aufhören.

Auf den Staat ist schon lange kein Verlass mehr. Wir müssen uns selbst schützen. Organisiert den Selbstschutz. Schützt euch und eure Liebsten und alle untereinander.

Wir werden uns verteidigen.

[Erich Schwarz]

Heute ist Weltflüchtlingstag.

Im Oktober 2013 hatte Italien die Operation Mare Nostrum gestartet und so in einem Jahr 150000 Menschen das Leben gerettet. Und der Rest Europas? Der war dankbar und stolz. Dankbar dafür, dass das „Problem Flüchtlinge“ noch weit genug weg war. Und stolz darauf, dass Hilfe geleistet wurde. Selbst daran beteiligen musste man sich zunächst ja noch nicht, denn die Kosten für Mare Nostrum trug Italien allein. Doch irgendwann konnte oder wollte Italien das nicht mehr tun und hat andere Länder um Hilfe gebeten. Aber da hieß es noch „Och nö, die Flüchtlinge sind ja an eurer Grenze. Bezahlt das mal schön selber.“ Dann wurde Mare Nostrum eingestellt und Europa sagte sofort „Ach, kein Problem, wir machen jetzt eine eigene Operation mit unseren tollen Leuten von Frontex. Kostet weniger, werden weniger gerettet. Macht aber nichts. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben weit genug weg. Triton, wie der Meereskönig bei Arielle. Klingt doch nach nem Konzept.“ Menschenleben zu retten, hatte schon damals keine hohe Priorität. Grenzkontrollen waren natürlich das Hauptziel, so damals Innenminister de Maizière. Auf die Nachfrage, ob es nicht vielleicht auch das Ziel sei, Menschen aus Seenot zu retten, antwortete das Innenministerium damals, dazu hätte die Operation „weder das Mandat noch die Ressourcen“. Menschenleben zu retten, war in Europa, einem der reichsten Kontinente der Erde, also zu teuer. Das Mittelmeer zum Massengrab.

Auch konnte Italien die Versorgung für die dort eintreffenden Geflüchteten nicht mehr leisten. Hilfe aus Europa kam nicht und so wurden diese weitergeschickt. Jetzt war das „Problem Flüchtlinge“ direkt vor der Tür. „Aber das geht so doch nicht!“ und „Aber Italien muss sich an geltendes EU-Recht halten!“ und „Aber es gibt doch die Dublin-Regelung!“ usw. Jetzt war das Geschrei von Seiten der Politik und auch aus Teilen der Bevölkerung groß. In der Zivilgesellschaft jedoch etablierte sich zunächst der Wunsch, den Geflüchteten zu helfen. Das, was wir eine Willkommenskultur nannten, war überall in Deutschland zu finden. Der Schreck und die Empörung über das Ertrinken im Mittelmeer waren groß.

Einen Einschnitt bildete der Tod von Aylan Kurdi im September 2015. Ein Tod, der nicht hätte sein müssen und den die EU mit ihrer Politik der geschlossenen Grenzen mit verursacht hat. Geboren wurde Aylan Kurdi 2012. In diesem Jahr wurde der EU der Friedensnobelpreis verliehen. Ich kann hier kaum so viel Zynismus in meine Worte legen, wie es dieser Umstand verdient. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt und berührte viele Menschen und das war kein Einzelschicksal. Der Name Aylan Kurdi wurde ein Sinnbild für das Sterben im Mittelmeer. Er wurde der Fingerzeig auf das Scheitern der EU wie er deutlicher nicht sein konnte.

Daran sollte sich jede/r erinnern. Und Erinnerungen wurden geschaffen wie z.B. das Graffiti am Frankfurter Osthafen. Doch dies wurde bereits damals zweimal mit rechten Schmierereien überdeckt. Denn die Fragen um Deutschlands und Europas Umgang mit den Geflüchteten stieß reaktionäres, nationalistisches Gedankengut, das in der Gesellschaft zwar nie ganz weg war, immer unterschwellig verankert war in der Form von beispielsweise latentem Alltagsrassismus oder institutionellem Rassismus, mit aller Macht an die Oberfläche. AkteurInnen wie die AfD und andere rechte Gruppen, Organisationen und Strukturen, die vorweg gingen, um solche Gedanken wieder sagbar zu machen, trugen es mitten in die sogenannte „Mitte“ hinein.
Man spürte, wie der Wind sich drehte, denn „wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen“ (Gauland, 2016). Viele lernten „die grausamen Bilder aus[zu]halten“ (Gauland, 2016). Mit der Wahl von Sebastian Kurz zum österreichischen Kanzler wurde ein weiterer Schritt in die Richtung getan, Geflüchteten ihren Weg zu verunmöglichen, nämlich mit der Schließung der Balkan-Route.

Heute interessiert viele EuropäerInnen die Seenotrettung und das Schicksal so vieler Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, längst nicht mehr. Wenn in Paris die Notre Dame niederbrennt, kommen am Folgetag mehr Spenden zusammen als für Seawatch in einem ganzen Jahr. Schlimmer noch: Nicht nur, dass Hilfe ausbleibt, die Seenotrettung wird kriminalisiert. Menschen, die sich dort ehrenamtlich einsetzen, um andere zu retten, müssen mit Haftstrafen rechnen. Das alles getragen vom Italien, das einst mit seiner Operation Mare Nostrum eine Vorbildfunktion erfüllt hat. Doch auch in Italien wie in vielen weiteren EU-Ländern weht längst ein anderer Wind.

Aylan Kurdi scheint vergessen. Das Sterben im Mittelmeer ist grausame Realität, an die sich, wie Gauland es sich gewünscht hatte, viele Menschen gewöhnt zu haben scheinen. Doch wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Ich will mich nicht daran gewöhnen und ich werde mich nicht dran gewöhnen. Deshalb sei mit dem noch vor vier Jahren so wirkmächtigen Bild von Aylan Kurdi heute am Weltflüchtlingstag daran erinnert, dass dies ein Schicksal Tausender ist und die Wirkmacht dessen noch genauso sein muss wie vor vier Jahren. Sonst hat die AfD ihr Ziel erreicht.

[Sophie Rot]

Die Sache mit der Identitätspolitik

Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich auch im deutschsprachigen Raum zusehends der Einfluss sogenannten Identitätspolitik bemerkbar gemacht. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat der zur Identitätspolitik zählende intersektionelle Ansatz, auch gerne in Form des intersektionellen Queerfeminismus, in der (radikalen) Linken an Popularität gewonnen. In der Zeit ist jetzt ein Artikel erschienen, der eine Kritik der Identitätspolitik von links vornimmt. Der Artikel ist empfehlenswert, bedarf aber einiger zum Teil kritischer Ergängzungen. Für eine ausführlichere Kritik an Identitätspolitik sei zudem dieses Essay von Nancy Fraser empfohlen: https://newleftreview.org/…/nancy-fraser-rethinking-recogni…

Identitätspolitik kommt nicht einfach so aus dem Nichts und die Gründe für ihr Entstehen Erzwingen ihr Entstehen förmlich. Die Geschichte der Bewegungslinken und der antikapitalisitischen Bewegung ist stark von weißen Männern geprägt gewesen. Dies ist nicht überraschend, waren diese doch damals noch viel stärker als heute sozioökonomisch bevorteilt und hatten einfacheren Zugang zu Bildung und Politik. Personen wie Emma Goldman, Rosa Luxemburg oder Clara Zetkin waren die Ausnahme, auch wenn in der Linken bedeutend mehr Frauen aktiv und einflussreich waren als in anderen politischen Strömungen. (Ausnahme hier erstaunlicherweise die rechtsradikale DNVP, die Hitler zur Kanzlerschaft verhalf und einen überraschend hohen Anteil an weiblichen Mitgliedern hatte.)

Die Arbeiter*innenbewegung hat sich auch schon immer als antirassistisch verstanden, Marx und Engels selber formulierten einen proletarischen Universalismus, den sie mit dem Satz „Der Proletarier hat kein Vaterland.“ für alle Ewigkeit in das Stammbuch linker Bewegungen schrieben. Dennoch ist auch die linke Geschichte durch einen starken Eurozentrismus geprägt, teils durch das Fehlen von heute selbstverständlichen Kommunikationsmitteln und im Vergleich sehr viel weniger Migration zu erklären. Mit dem Aufkommen der Bürger*innenrechtsbewegung in den USA in den 50ern und 60ern mit Personen wie Martin Luther King, dem Ende des unmittelbaren Kolonialismus und der Second Wave des Feminismus in den 60ern und 70ern wurde die Dominanz weißer Männer entschieden in Frage gestellt. Frauen wollten nicht mehr auf die Weltrevolution warten, bei der mit dem Fall des Kapitalismus auch das Patriarchat fallen würde. Man wollte nicht mehr nur Nebenwidersrpruch sein und forderte mehr Teilhabe im Hier und Jetzt. Es gibt auch innerhalb der Arbeiter*innenbewegung einige dokumentierte Frauenstreiks, welche unterschiedliche Erfolgsgrade vorzuweisen hatten.

Es gibt viele Schilderungen von PoCs und Frauen, die in Diskussionen untergebuttert wurden oder schlichtweg übergangen, weil es einzig und allein um das Ende des Kapitalismus ging. Mit diesem Ende wären dann auch alle anderen Diskriminierungsformen passe und deshalb muss man jetzt nicht auf solche Kleinigkeiten Rücksicht nehmen oder gar die eigenen Verhaltensweisen hinterfragen. Wenn die Interessen Gruppen, welche nachweislich ökonomisch und sozial benachteiligt sind, konstant ignoriert werden, muss zwangsläufig eine eigenständige Interessensbekundung erfolgen. Diese wurde und wird nicht immer begrüßt, bis heute kann man Aussagen vernehmen, nach denen man das Proletariat nicht mit feministischen Forderungen spalten dürfe. Für entsprechendes Verhalten wurde im Englischen das Wort Brocialist geschaffen. Ab den 70ern ist das Wort Identitätspolitik gebräuchlich und bestimmte Kämpfe wie der Feminismus, der Antirassismus oder auch die LGBT-Interessen haben sich größtenteils unabhängig von der radikalen Linken organisiert – und damit eben auch oftmals mit einem Unverständnis für den Kapitalismus und dessen Einflüsse auf die jeweiligen Unterdrückungsmechanismen.

Wer sich antirassistisch engagiert oder feministischen Aktivismus betreibt muss noch lange kein Ende des Kapitalismus wollen. So gab es schon seit spätestens dem Ende des 19. Jahrhunderts zwei verschiedene feministische Strömungen: den bürgerlichen Feminismus und den sozialistischen/anarchistischen. Der erste zielte auf eine rechtliche Gleichstellung und die Möglichkeit frei zu arbeiten ab, der zweite wollte über die bürgerliche Gesellschaft hinaus, das Geschlechterverhältnis allgemein stürzen und die Lohnarbeit überwinden. Der eine Feminismus stützt die bürgerliche Gesellschaft, der andere steht in Gegnerschaft zu ihr. Der Fehler, der im Laufe der Jahrzehnte auf linker Seite gemacht und in unterschiedlichen Härtegraden gemacht wurde, ist, dass die Interessen jenseits der proletarischen Revolution vernachlässigt hat und somit die bürgerlichen Auslegungen die Oberhand gewonnen haben. An der Wichtigkeit der jeweiligen Kämpfe ändert das aber freilich gar nichts. Ein Aktivismus, welcher sich ausschließlich dem Antikapitalismus als Arbeitskampf verschrieben hat, grenzt automatisch viele Gruppen aus und wird vorhandene Diskriminierungen reproduzieren.

Problematisch wird die ganze Angelegenheit dann, wenn über all die Partikularinteressen, welche sich dann noch weiter auffächern und aufsplitten lassen, die Fähigkeit zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse verloren geht und man im schlimmsten Fall ein atomistisches Weltbild bekommt. Was ist damit gemeint? Ende der 80er wurde das Konzept der Intersektionalität entwickelt. Intersection ist das englische Wort für Kreuzung. Die Grundzüge sind einfach zu verstehen. Nehmen wir vier Eigenschaften: männlich, weiblich, weiß, farbig. Welche Personengruppe wird hier statistisch betrachtet die meisten sozioökonomischen Vorteile haben? Männliche Weiße. Und welche die meisten Nachteile? Farbige Frauen. Baut man das Konzept der zusammen wirkenden Diskriminierungseigenschaften konsequent aus, fächert die Diskriminierungen immer weiter auf und denkt das alles bis zum Ende durch, erhält man lauter individuelle Diskriminierungserfahrungen, welche schwer bis gar nicht in Relation zu setzen sind. Und verliert die Möglichkeit für Theorien und Analysen auf der Makroebene. Alles besteht im schlimmsten Fall nur noch aus Einzelerfahrungen. Und da ist kein Platz für Antikapitalismus oder universalistischen Feminismus, da diese Makrokategorien nicht mehr existieren.

Wenn solche Theorieansätze aus einer nicht linksradikalen Schule dann in linksradikale Zusammenhängen kommen und keine linksradikale Anpassung erfahren, haben wir bürgerliche, systemstützende Ansätze, welche von Linksradikalen vertreten werden. Dabei geht es unweigerlich um eine Abwägungsfrage. Um diese kommt niemand herum, egal wie sehr man Kämpfe miteinander verbinden will und egal wie gesamtheitlich intersektional man zu denken meint. Je kleinteiliger man analysiert und argumentiert, desto weniger ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz möglich. Es stellt sich die Frage, ob man eine Anerkennung und/oder Gleichstellung wirtschaftlicher und/oder sozialer Art in dem bestehenden System verwirklichen möchte – oder überhaupt kann – ober ob man das gesamte überwinden will – und dabei dann diverse Probleme zu beheben versucht.

(K)Ein Frauenkampftag

Ich bin den 8. März leid.
Ich bin es leid, in diesen 24 Stunden in meiner Timeline mit #empowermentund #feminism überhäuft zu werden.
Ich bin es leid, dass mein Emailpostfach mit Glückwünschen und Sonderangeboten zum Weltfrauentag geflutet wird.
Ich bin es leid, zu hören „Frauen haben ihre Stimmen entdeckt“ oder „Frauen erheben ihre Stimmen“.
Ich bin den 8. März leid.

Viele Männer sonnen sich immer noch allzu gerne im Schein ihres patriarchalen Männlichkeitskonstrukts. Gleichzeitig merken sie jedoch, wie an den Grundfesten des Gerüsts der Geschlechterbilder und damit an ihrer Selbst gerüttelt wird. Wie ihre Privilegien ins Wanken geraten. Wie Männlichkeit neu definiert wird. Wie gut, dass es den Weltfrauentag gibt. Ein Tag, an dem die nervigen Frauen mal all ihre Sorgen auf den Tisch packen können, man redet ein bisschen darüber und danach ist wieder Ruhe.
Der Weltfrauentag ist das Zugeständnis einer Gesellschaft, die sich einen speziellen Tag als Symbol geben muss, um sich der Ungerechtigkeit zu erinnern, die sie in Kooperation mit einem aus zum Großteil mit Männern besetztem Staatsapparat ihren Untertanen zweiter Klasse – uns Frauen – antut. Sie gibt sich einen symbolischen Tag für Inhalte, die bis in den kleinsten Winkel der Gesellschaft hinein Thema der Tagesgeschäfte sein müssten.

Am 8. März werden jährlich die gleichen Forderungen in endloser Manier vorgetragen, platziert zwischen Glückwunschrufen und verteilten Blumen. Forderungen nach guter Kinderbetreuung, gleichen Gehältern, Frauenquoten, dem Recht auf Abtreibung usw. Forderungen, die richtig und wichtig sind. Forderungen, die dennoch nicht weit genug gehen. Auf das „Warum?“ gäbe es hier zahlreiche Antworten. Eine davon ist, dass die feministische Bewegung, falls man in Deutschland überhaupt noch von einer solchen sprechen möchte, gespalten ist. Die feministisch Solidarität unter Frauen ist leider recht dürftig. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass der Forderungskatalog bestimmte Themen konsequent ausspart.
Jedes Jahr werden die gleichen Listen an Forderungen in den Raum gestellt. Bei manchen findet man auch mal zumindest die Erwähnung von sexueller oder häuslicher Gewalt, konkretisiert wird dies jedoch selten. In der Detail-Diskussion stellt sich dann leicht raus, dass es mit der Frauensolidarität leider nicht von so weit her ist. Dabei ist vor allem der Blick auf das nicht Vorhandene interessant, der Blick auf all das, was in den Forderungskatalogen und Aufrufen fehlt:
An der Stelle muss eins klar gesagt werden: Wer sich gegen Sexismus, Rassismus und Kapitalismus stellt, muss sich auch gegen Prostitution und Pornografie stellen. Ein Großteil der Frauen, die in Deutschland und anderen Ländern in diesen Bereichen ausgebeutet werden, gehört ethnischen Minderheiten an, stammt aus dem Ausland und lebt in prekären Verhältnissen. (Die Ausnahme bestätigt die Regel).
Im Kontext der Institutionalisierung haben autonome Frauenprojekte oftmals ihren radikalen Kern verloren. Ihre harten Kämpfe der 70er/80er Jahre sind in den Hintergrund getreten oder wurden ganz vergessen. Sozialeinrichtungen sind entstanden mit professionellem Personal, das jedoch häufig zu den Frauenkämpfen keinen Bezug hat. Ausreichend ist die Qualifikation für den Job, nicht noch die Überzeugung vom feministischen Kampf. Ein radikalfeministisches Selbstverständnis ist nicht vonnöten.

Der Diskurs wird verwässert. In den Vordergrund treten die individuellen Wünsche, nicht die Betrachtung der Frau als Klasse, als Kollektiv, die einem ebenso kollektiven Unterdrückungsmechanismus ausgesetzt ist. Brotkrumen, die uns zugeworfen werden in Form von ein paar Reförmchen werden als vermeintlicher Fortschritt gefeiert. Weite Teile der Frauenbewegung werden in das kapitalistische Gesamtkonstrukt integriert und Herrschaftsverhältnisse zementiert, indem man sich im Patriarchat häuslich einrichtet, anstatt diese radikal infrage zu stellen. Dafür wird sich artig bedankt und dies anschließend als „Empowerment“ gefeiert.

Mit Brotkrumen dürfen wir uns aber nicht zufrieden geben. Es ist an der Zeit, die Kämpfe unserer Mütter fortzuführen, Forderungen radikaler äußern und durchzusetzen.
In den letzten Jahren sind in anderen Ländern Massen von Frauen für ihre Rechte auf die Straße gegangen. Dieses Jahr wird auch in Deutschland von diversen Gruppen und Initiativen zu Streiks aufgerufen. Frauenstreiks haben in der Geschichte eine lange Tradition, beginnend in der antiken Erzählung „Lysistrata“ von Aristophanes, in der Frauen in Sex- und demzufolge zwangsläufig Gebärstreiks traten und somit die Schicksale Spartas und Athens beeinflussten, weil so kein weiteres Kanonenfutter für die Kriege „produziert“ werden konnte.
Streiks von Frauen gab es in den letzten 150 Jahren immer wieder, so beispielsweise 1975 in Island, als ca. 90% der Frauen ihre Arbeit niederlegten, um gegen Benachteiligung am Arbeitsplatz einzutreten. Bereits ein Jahr später wurde selbige gesetzlich verboten und dies ist nur ein(!) Beispiel, bei dem ein Frauenstreik den gewünschten Erfolg bescherte.
Die vermeintlich typische Frauenarbeit wird auch in Deutschland immer noch als geringwertiger betrachtet (Studie, 2010: http://ekvv.uni-bielefeld.de/…/mit_zweierlei_ma%C3%9F_gemes… ) Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung. Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland seine (Ex-)Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung wird eingeschränkt. Regressive Kräfte sind auf dem Vormarsch. Heute, am symbolträchtigen 8. März, formieren sich überall auf der Welt Streikbewegungen gegen alle Formen der Unterdrückung gegen uns und wir können Regierungen in die Knie zwingen, denn zu wichtig sind sowohl unsere bezahlte wie unbezahlte Arbeit, damit dieses ausbeuterische System funktioniert. Zu wichtig sind wir, denn wir sind über 50% der Bevölkerung.
Ein Streik am Weltfrauentag darf jedoch nicht das Einzige bleiben, was wir tun.
Ziviler Ungehorsam ist in unserer Zeit fast schon verpönt und die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, ist sehr gering geworden, bedenkt man auch die Tatsache, dass die neuen PolGs die Situation noch verschärft haben. So besteht selbst vermeintlich militanter Antifaschismus bei Demos oftmals nur noch darin, hinter einer Absperrung der Staatsmacht zu stehen und ein paar Parolen zu brüllen.
Feminismus kommt heute mit Einhornschildern um die Ecke, die das Patriarchat wegglitzern sollen. Frauen werden heute nicht mehr befreit, sondern „empowert“, damit sie es sich im Patriarchat schön gemütlich machen, sich vom kapitalistischen System ausbeuten lassen und lernen, noch „Danke“ zu sagen für die Unterdrückung, die sie erfahren, weil es „choice“ ist. Das Patriarchat wird nicht mehr bekämpft, sondern legitimiert – mit Hilfe eines Feminismus, der keiner ist.

Dass wir vergebens auf wirklich Veränderungen warten, wurde uns am Beispiel der Diskussion um den §219a eindrucksvoll bewiesen. Eine lange Diskussion. Am Ende viel Wirbel um nichts. Um etwas zu bewegen, brauchen wir wieder mehr selbst verwaltete Räume und Projekte, in denen diskutiert und Lösungen entwickelt werden können. Mehr, lautere und deutlichere Aktionen – wie auch immer diese aussehen mögen -, die unsere Anliegen in die Gesellschaft tragen.

Frauen haben ihre Stimme nicht entdeckt. Sie war schon immer da. Ich bin den 8. März leid, denn er ist nichts weiter als ein Deckmantel des Patriarchats, das wir beseitigen wollen.

 

[Sophie Rot]

Social Media hat die radikale Linke ruiniert!

Seit fast 15 Jahren bewege ich mich in der radikalen Linken. Mal mehr, mal weniger. Auch mit ein paar Unterbrechungen. Seit 2015 bin ich wieder stärker dabei nach einer etwas längeren Pause. Was sich wohl am stärksten verändert hat ist der Einfluss des Internets. Vor allem die sozialen Medien haben die linksradikale Szene verändert.

 

Früher traf man sich noch im Plenum. Natürlich wurde auch mal kontrovers diskutiert und man ging sich verbal gegenseitig an. Aber am Ende des Tages hatte man dann doch das gemeinsame Ziel im Auge. Egal ob das jetzt gemeinsam gegen Nazis zu demonstrieren, Veranstaltungen/Lesungen organisieren, sich an Plena beteiligen oder auch mal was Handfestes.

 

Ich will gar nicht über die gute alte Zeit jammern. Es war auch verdammt anstrengend alles ohne so einfache Kommunikationsmöglichkeiten wie heute zu organisieren. Heutzutage kann man innerhalb von Sekunden über die richtigen Kanäle Tausende von Leuten mobilisieren, informieren, diskutieren und ähnliches. Das ist echt ein Vorteil gegenüber früher.

 

Was heutzutage stark auffällt ist, dass sich große Teile der radikalen Linken nur noch in ihrem Spannungsfeld des Internet-Aktivismus bewegen. Viele kennen sogar Aktivismus gar nicht mehr groß außerhalb des Internets. Es wird nicht mehr als Werkzeug des Aktivismus verstanden, sondern als Selbstzweck. Ewige Diskussionen in FB-Gruppen, Rumhängen in der eigenen Bubble als Circle-Jerk-Selbstzweck, etc. Das ist nicht das, was Social Media mal für den Aktivismus interessant gemacht hat. Kritik an anderen zu üben ist richtig und wichtig. Inzwischen wird aber sich in vielen Teilen nur noch an Empörung und gegenseitigem Hochschaukeln sowie Bestärkung der eigenen Bubble geübt. Eine substanzielle Kritik wird entbehrlich.

 

Es ist häufig das Phänomen anzutreffen, dass bei KonsumentInnen „leichtverdauliche“ Dinge deutlich besser ankommen als thematisch komplexere Dinge. Memes sind schnell gebastelt, bekommen aber deutlich mehr Resonanz als Texte, an denen man deutlich länger sitzt. Es geht nicht darum nicht auch mal ein wenig Abwechslung genießen zu dürfen. Es ist eher ein Symptom dessen was mit den sozialen Netzwerken falsch läuft. Die Verteilung der Resonanz dürfte nicht dauerhaft so sein. Sie müsste andersherum sein.

 

Natürlich sind auch wir nicht von der Kritik auszunehmen. Wir evaluieren uns auch immer wieder selbst. In der Vergangenheit haben auch wir uns immer wieder in unnötigen Diskussionen verstrickt, sind zum Selbstzweck verkommen, haben nicht die Reichweite für Dinge wie Mobi genutzt, etc. Das wollen wir auch besser machen.

 

Vielleicht ist es an der Zeit, dass man sich einfach mal hinterfragt. Soziale Netzwerke haben uns als radikale Linke verändert, nicht immer zum Besten. Aber noch ist die radikale Linke nicht vollständig durch die sozialen Medien ruiniert. Es ist an der Zeit sich auf die Stärken dieses Mediums zu besinnen anstatt es als Werkzeug der Spaltung zu nutzen. Weniger FB-Gruppen, weniger Twitter-Bubble, weniger Drumherum. Mehr Nazis boxen, soziale Netzwerke mehr als Werkzeug nutzen, mehr befreite Gesellschaft. 

Interview zum Stand der Gilets Jaunes

Seit fast vier Monaten gibt es in Frankreich die Proteste der Gilets Jaunes. Für die meisten Menschen außerhalb Frankreichs kamen die Proteste völlig unerwartet und die ersten Reaktionen waren sehr verhalten. Die Proteste sind dezentral über das gesamte Land verteilt, rechte und linke Aktivist*innen geraten immer wieder in handgreifliche Auseinandersetzungen und in den Facebookgruppen der Gilets Jaunes geht es hoch her. Erschwerend kommen die Sprachbarriere und die oftmals nicht vorhandene Kenntnis über die politische und gesellschaftliche Gemengelage in Frankreich hinzu. Über den aktuellen Stand der Bewegung haben wir ein Interview mit Sébastien de Beauvoir geführt. Er verfolgt diese seit ihrem Beginn und ist in den Gruppen aktiv. Für Ficko hat er im Dezember und im Januar zwei ausführliche Artikel über die Gilets Jaunes verfasst.

Die Proteste der Gilets Jaunes gehen nun bereits fast drei Monate. Wann gab es zuletzt eine solche Protestbewegung in Frankreich?

Eine ähnlich starke Mobilisierung hatte es zuletzt im Kampf gegen die Loi Travail (« Loi El Khomri ») unter Hollande (PS) 2016 gegeben, die allerdings gewerkschaftlich organisiert waren. Der organisierte Widerstand gegen die Loi Travail 2 (« Loi Pénicaud ») kurz nach Amtseinführung des neuen Präsidenten Macron (LREM, Ex-PS) war dagegen bereits viel schwächer ausgefallen. Erfolgreich waren beide nicht – anders als noch die noch größeren Massenproteste 2006 gegen den « Contrat première embauche ». Da sie wesentlich von den Gewerkschaften getragen wurden, sind sie aber mit der dezentralen Massenbewegung der Gilets Jaunes nicht vergleichbar. Einen solch dezentralen Massenaufstand hat es zuletzt im legendären Mai 1968 gegeben.

Dieser qualitative Unterschied erschwert es aber auch, die Bewegung der Gilets Jaunes quantitativ zu fassen. Es ist nichts neues, dass die Behörden Teilnehmerzahlen oppositioneller Bewegungen systematisch zu niedrig angeben. Im Falle der Gilets Jaunes gibt es nicht nur keine zentrale Organisation, die ihre Teilnehmerzahlen selbst angibt – die dezentralen Aktionsformen selbst machen herkömmliche Zählmethoden schlicht nicht mehr anwendbar. Proteste und Blockaden treten außerhalb der Großdemonstrationen in den Großstädten (und in Paris teilweise innerhalb dieser, was die Polizei immer wieder vor taktische Probleme stellt) oftmals spontan und an unvorhergesehenen Orten auf.

Wie sieht die regionale Verteilung aus? Gibt es abseits von Paris Schwerpunktregionen?

Die Bewegung ist ganz wesentlich in den Regionen verwurzelt. Abseits von Paris sind vor allem Toulouse, Marseille und Bordeaux wichtige Zentren der Bewegung. Insbesondere das kämpferische Toulouse hat sich in den letzten Monaten zu einer Hochburg des radikalen Flügels der Bewegung entwickelt, mit hohem Mobilisierungsgrad, interner Strukturarbeit und frühzeitigen Schulterschlüssen mit anderen sozialen Kämpfen. In der Region haben sich auch die Gewerkschaften frühzeitig mit der Bewegung solidarisiert, der Regionalverband Haute-Garonne ist auch eine der Kräfte an der Basis der CGT, die die Gewerkschaftsführung um Generalsekretär Martinez von links unter Druck setzt. Beim landesweiten, branchenübergreifenden Streik letzte Woche sollen sich in Marseille laut CGT 55000 Menschen am gemeinsamen Demonstrationszug von Gewerkschaften, Gilets Jaunes und Studierenden beteiligt haben. Ohne die Repression auszublenden, die die Gilets Jaunes auch außerhalb der Hauptstadt erfahren, kann man aber auch feststellen, dass die Aktionen in Paris tendenziell einen anderen Charakter haben, da sie in unmittelbarer Nähe der Zentren der Macht stattfinden, die seitens der Staatsgewalt mit exzessiver Brutalität verteidigt werden.

Aus organisatorischer Sicht ist die Gilets Jaunes-Bewegung sehr interessant. Viel läuft über Facebook ab. Wie genau sieht die Dynamik in diesen Gruppen aus?

Es geht drunter und drüber und meistens sehr schnell. Es gibt grob zwei Arten von Gruppen, einmal die regionalen, die für die lokale Organisation bedeutsam sind, und dann die großen landesweiten Gruppen mit mehreren hunderttausend Mitgliedern. Zieht in einer dieser Riesengruppen ein Thema Aufmerksamkeit auf sich, prasseln Kommentare teilweise im Sekundentakt ein, sodass an eine strukturierte Diskussion nicht zu denken ist. Das bedeutet aber nicht, dass sich nicht deutliche Stimmungsbilder abzeichnen können, die ihrerseits natürlich auch auf die Meinungsbildung zurückwirken. Will man dort intervenieren, muss es knapp und einprägsam sein. Sowohl aus antifaschistischer als auch sozialistischer Sicht bedeutet das, die Lust an endlosen Textwüsten mal ablegen und auf andere, massenkompatible Formen zurückgreifen zu müssen und sich den Eigenheiten dieser Diskursformation anzupassen.

In diesen Gruppen ist man typischerweise auch sehr darauf bedacht, die Aktionseinheit zu wahren, was bedeutet, dass prinzipielle Differenzen tendenziell eher gemieden als ausdiskutiert werden. Außerdem legt man großen Wert darauf, »unpolitisch« zu sein, was in dem Kontext vor allem bedeutet, nichts mit Parteien und anderen politischen Organisationen zu tun haben zu wollen. Das heißt konkret, dass wenn jemand ankommt und Verschwörungstheorien über die vermeintliche Macht der Rothschilds verbreitet und der Rassemblement National einmal aufräumen muss, es wenig Sinn ergibt, endlos mit dieser Person über Antisemitismus zu diskutieren, sondern dass es viel mehr bringt, für die Mitleserschaft auf eingängige Weise auf den korrekten Feind umzulenken: Macron und Le Pen? Zwei Seiten der selben Medaille. Der eine will, dass ihr euch vom europäischen Kapital ausbeuten lasst, die andere will, dass ihr euch vom französischen Kapital ausbeuten lasst. Weg mit beiden, Scheiß auf die Ausbeutung! Da kann man schon mal multitrack-driften. Memes, einprägsame Parolen, Parodien, zum wiederholten Einsatz – Mut zum Plakativen ist angesagt. Positiv aufgefallen ist mir in letzter Zeit, dass auch in den großen Gruppen Postings, in denen auf Le Pen oder Dieudonné Bezug genommen wird, ziemlich schnell kommentarlos gelöscht werden.

Wo stößt diese Organisationsform an ihre Grenzen und wie wird versucht damit umzugehen?

Gut ist diese Organisationsform darin, vereinzelte Menschen in großer Zahl zusammenzubringen, nicht nur online, sondern auch offline an physischen Orten, die bisher ebenso verloren im vergessenen Hinterland herumstanden wie sie selbst, an den symbolisch gewordenen Kreisverkehren. Spontane Aktionen und schnelle Reaktionen sind ihre Stärke. Was weniger gut funktioniert, sind langfristige Planung und gründliche Diskussionen. Demokratische Entscheidungsfindung ist in einem eingeschränkten Maße sehr wohl möglich, nämlich dort, wo es große Einigkeit gibt. An einer Umfrage in einer der großen Facebookgruppen zur Beantwortung der Frage, ob die Zugeständnisse der Regierung im Dezember als ausreichend angesehen werden, nahmen beispielsweise über hunderttausend Gruppenmitglieder teil, die zu etwa 95 % erklärten, dass ihnen diese kleinen Zugeständnisse nicht ausreichen. Da erübrigt sich die Frage, wie repräsentativ ausgewählt die jetzt wahren und ob man nicht lieber erst einmal Delegierte bestimmen sollte.

An ihre Grenzen stößt dieses Vorgehen aber nicht nur bei Detail-, sondern auch bei grundsätzlicheren Fragen. Ich hab an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass die große Einigkeit, die über die Forderung nach dem direktdemokratischen Instrument « Référenum d’Initiative Citoyenne » herrscht, auch eine Folge dessen ist, dass hier der Klassengegensatz zwischen proletarischen und kleinbürgerlichen Interessen nicht unmittelbar berührt wird. Die Frage danach, ob die Bewegung sich nicht nur gegen die Politikerkaste richtet, sondern auch bereits ist, gegen die Herrschaft des Kapitals aufzustehen, gegen das nationale ebenso wie gegen das internationale, ist aber offensichtlich von ganz grundsätzlicher Bedeutung. In mehr und mehr Städten bilden die Gilets Jaunes daher Generalversammlungen, auf denen Strukturdebatten geführt und inhaltliche Beschlüsse getroffen werden können.

Ende Januar haben sich dann über hundert Delegationen solcher Generalversammlungen zur ersten landesweiten « Assemblée des Assemblées » in Commercy zusammengefunden. Diese Strukturarbeit ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung, um den Organisationsgrad und damit die Schlagkraft der Bewegung zu erhöhen. Sie beugt auch der Unterwanderung durch Rechte vor, die sich selbst in irgendwelche Funktionen schwingen wollen. Organisation von unten nach oben ist das Gegenteil des faschistischen Leitbilds von Führerfiguren, die autoritär die Massen dirigieren. Die Impulse zur Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften kamen auch wesentlich aus den Generalversammlungen kampfstarker Städte wie eben Toulouse. Dass das auch von einflussreichen Persönlichkeiten wie dem »unpolitischen« LKW-Fahrer Eric Drouet aufgegriffen worden ist, der dann über seine große Onlinereichweite zum »Generalstreik« aufgerufen hat, ist aus linker Sicht ein großer Erfolg, auch wenn die folgende Aktion als Arbeitskampf selbst keiner war.

Der Streik war kein Erfolg?

Als Demonstration war die Aktion ein Erfolg: Landesweit ca. 300000 Leute an einem Werktag auf der Straße im Vergleich zu 50000 bis 100000 an den Samstagsdemos der letzten Wochen können sich sehen lassen. Als Arbeitskampf aber war sie kein Erfolg. Das war schon absehbar daran, dass nur kleinere Gewerkschaften sich dem Aufruf der CGT angeschlossen hatten. Gegen die Loi Travail war die Gewerkschaftsbewegung geschlossener. Es gibt noch keine repräsentativen Zahlen dazu, wie hoch die Streikbeteiligung tatsächlich war, aber von einer Blockade der Volkswirtschaft, wie das seitens vieler Gilets Jaunes euphorisch angedacht war, war man weit entfernt. Hier wurde sichtbar, wie diffus die Vorstellung vieler – in der breiten Masse arbeitskampfunerfahrener – Gilets Jaunes von Streiks sind. Da ließen sich vielfach naive Vorstellungen wie »wir machen jetzt halt Generalstreik« beobachten – und dann sind die Leute doch brav auf Arbeit gegangen, weil sie ja leider als Krankenschwester, Erzieherin, Altenpflegerin die Kranken, Kinder und Alten nicht alleinlassen können. Andere haben sich extra Urlaub genommen, um an der Demo teilzunehmen, weil sie es sich nicht mit ihren Chefs verderben wollen usw.

Du kannst dir denken, dass die Reaktionen darauf ein breites Spektrum abdecken: von Enttäuschung oder auch Ärger über sich selbst, über Wut auf die Gewerkschaften, weil sie nicht zaubern können, bis hin zu Euphorie über den Demoerfolg bei denjenigen, die eher aktionistisch ausgerichtet sind und im Arbeitskampf weniger den zentralen Hebel sehen als eine Art Performance unter vielen. Da ist also Auseinandersetzungs- und Lernbedarf, sowohl aufseiten der Gilets Jaunes als auch der Gewerkschaften. Und genau da kommen wir zum wichtigsten Punkt: Der große, wichtige Erfolg des 5. Februar besteht darin, dass ein erster großer Schritt Richtung « convergence des luttes » auf nationaler Ebene gemacht wurde. Bei allen Ruckeligekeiten im Detail haben insgesamt Massenbewegung und der linke Flügel der Gewerkschaftsbewegung sowie erstmals auch auf nationaler Ebene die Studierendenbewegung Hand in Hand von Anfang gemeinsam zusammengearbeitet. Auf dieser Basis kann man weiterarbeiten. Und schließlich war es für die Rechten ein bitterer Rückschlag, dass die bisher größte Mobilisierung im Kontext der Gilets Jaunes im neuen Jahr unter roten Fahnen der verhassten Gewerkschaften und Seit an Seit mit « sans papiers » stattgefunden hat. Es ist also eher ein Erfolg nach innen als nach außen gewesen.

Die Berichterstattung im deutschsprachigen Raum ist oftmals lückenhaft. Oftmals werden die Proteste rechtslastig dargestellt. Wie sehen denn aktuell die groben Gewichtsverhältnisse der politischen Lager innerhalb der Gilets Jaunes aus?

Die empirische Forschung durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des politikwissenschaftlichen Instituts in Bordeaux hat schon im Dezember gezeigt, dass die Gilets Jaunes in ihrer Breite viel weiter links stehen, als medial vermittelt wird. Intern ist es ein Hin und Her, aber insgesamt stimmt mich die Entwicklung hoffnungsfroh. Der 5. Februar war ein wichtiger Schritt.

Wie verhalten sich die antifaschistischen Gruppen? Sie waren anfangs vermutlich überrumpelt durch die Ausmaße, inzwischen gibt es diverse Videos von handgreiflichen Auseinandersetzungen.

Ich habe einen riesigen Respekt vor den Genossinnen und Genossen, die seit bald vier Monaten nahezu ununterbrochen antifaschistisch intervenieren, oft eben auch handgreiflich. Die Auseinandersetzungen werden auch nicht weniger, im Gegenteil. Seit sich herausgestellt hat, dass die Vereinnahmung der Bewegung nicht wie erhofft funktioniert, werden die Rechten aggressiver. Während es in der Vergangenheit vor allem einzelne organisierte Rechte waren, die die lokalen Antifa-Gruppen recherchiert und aus den Demozügen geschmissen haben, kommt es jetzt vermehrt zu Blockkonfrontationen. Vorletzten Samstag hatten Faschos in Paris sowohl den Block der linken Kleinpartei NPA gezielt als auch »unpolitische« Gilets Jaunes eher random angegriffen. Auch in anderen Städten kam es Angriffen, dort konnten die Faschos aber verjagt werden. Letzten Samstag ist dann in Lyon eine größere Gruppe Rechter, die zuvor bereits kleinere Überfälle auf migrantische und antirassistische Gilets Jaunes verübt hatte, in einer Gasse mit einer größeren Gruppe Antifas aufeinandergetroffen. Den Genossen und Genossinnen ist es dann mit geschlossenem Vorgehen gelungen, die Faschos in die Flucht zu schlagen. Das war aber sicher nicht das letzte Mal.

Wie versuchen rechte Gruppierungen Einfluss zu gewinnen?

Da gibt es zum einen die rechten Trolle online, von denen manche Bots sein mögen und manche authentische Spinner, die ihre antisemitischen Verschwörungstheorien mit beträchtlicher Energie in die Timelines der großen Facebookgruppen spammen. Auf der Ebene der Parteipolitik versucht der Rassemblement National (der frühere Front National) unter Marine Le Pen, den Volkszorn in Stimmgewinne für sich zu verwandeln, nachdem das Vereinnahmen der Bewegung selbst nicht funktioniert. Auffällig ist, dass die Rechten auf mehreren Ebenen mit der Staatsgewalt kollaborieren, um gegen die antifaschistischen Kräfte vorzugehen. An vorderster Front dieser Taktik stehen selbsternannte »Sicherheitsdienste«, die in den letzten Wochen plötzlich aufgetaucht sind, für sich autoritäre Kompetenzen einfordern und auch schon Gilets Jaunes an die Polizei ausgeliefert haben. Oft handelt es sich dabei um Soldaten oder Polizisten. Ihr Kopf in Paris ist der Soldat Victor Lenta, der auch schon aufseiten rechter pro-russischer Milizen in der Ukraine gekämpft hat.

Der ideologische Gegensatz von Rechten und Linken spiegelt sich hier auch auf taktischer Ebene als Unterschied von Militarismus und Militanz wieder. In der Pariser Antifa will man den Demonstrationszügen nun nach Möglichkeit schwarze Blöcke voranstellen, um den Einfluss dieser »Sicherheitsdienste« zurückzudrängen. Vorletzten Samstag ist es dann in Paris auch zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen »Sicherheitsdienst« und Antifas gekommen. Die Rechten haben dann versucht, die antifaschistische Intervention als Angriff der Antifa auf Jérôme Rodriguez auszugeben, der in der Bewegung zur Symbolfigur für die Opfer der brutalen Repression geworden ist. Die Admins der großen Facebookgruppen sind kaum hinterher gekommen damit, diese Fake News zu löschen. Letztlich ging der Schuss für die Faschos aber nach hinten los, da Rodriguez nach einem ersten Anflug von Panik in der unübersichtlichen Situation vor Ort sehr wohl verstanden hat, was da vorgeht, und sich öffentlich von den rechten Fake News ziemlich angepisst gezeigt und die Darstellung der Antifa Paris-Banlieue bestätigt hat.

Wie verhalten sich die französischen Parteien zu den Protesten?

Ganz am Anfang war der Protest gegen die Ökosteuererhebung nicht nur von der linken France Insoumise und dem faschistischen Rassemblement National unterstützt worden, sondern zumindest verbal auch vom sozialdemokratischen Parti Socialiste und den konservativen Républicains. Der sozialistische PCF war zu Beginn dagegen eher skeptisch, vor allem wegen der anfänglichen Fokussierung auf Steuersenkungen. Mit zunehmender Radikalisierung und Verbreiterung sind die bürgerlichen Parteien aber schnell auf Abstand gegangen. Der PS verhielt sich ambivalent, was man etwa am peinlichen Hin und Her beim gemeinsamen Antrag von LFI und PCF in der Nationalversammlung zur Absetzung der Regierung gesehen hat. Offene und unzweideutige Unterstützung erfährt die Bewegung nur durch La France Insoumise; der RN versucht zwar, sich dranzuhängen, ist dabei aber immer ambivalent, weil seine beiden politischen Grundsätze – Law and Order und aggressive Agitation im Sinne des nationalen Kapitals – letztlich in deutlichem Gegensatz zu zentralen Motiven der Bewegung der Gilets Jaunes stehen.

Haben die Massenproteste im Zuge des ersten Sozialabbaus Macrons Auswirkungen auf die jetzigen Proteste?

Man merkt vor allem die Folgen dessen, dass der sozialpartnerschaftlich gezähmte Protest einfach zerschlagen wurde. Gewerkschaften, etablierte Parteien, die ganzen Mittlerorganisationen des Klassenkompromisses wurden entmachtet. Macron dachte, er könnte diese gegensätzlichen Interesse alle in einem großen klassenversöhnlerischen Projekt vereinen, während zugleich der Klassenkompromiss von oben aufgekündigt wurde. Jetzt steht er dem Wildwuchs einer Massenbewegung gegenüber, die sich nicht an die früheren Spielregeln hält, weil sie das ganze miese Spiel nicht mehr mitmachen will.

Wie reagiert Macron auf den Gegenwind? Es wird ja immer wieder kolpotiert, er mache Zugeständnisse. Auf der anderen Seite schießt die Polizei munter in die Proteste rein, es gibt mehrere Todesopfer.

Die »Zugeständnisse«, deretwegen die bürgerliche Presse in Deutschland schon den Untergang des Abendlandes herbei phantasierte, weil Frankreich damit nicht mehr die heiligen Haushaltsregeln ihres europäischen Hegemonialprojekts einhalten wird, sind kleine Bestechungsgelder an ausgewählte Teile der Bevölkerung, die die Bewegung spalten und die Unternehmen möglichst nichts kosten sollen. In Frankreich fällt kaum jemand auf diesen Quatsch rein. Die Repression ist unglaublich, neben einer alten Frau, die die Polizei mit einer Tränengasgranate umgebracht hat, wurden auch zahlreichen Demonstrantinnen und Demonstranten Hände abgesprengt oder Augen ausgeschossen. Währenddessen geht die neoliberale »Reformpolitik« weiter.

Was für Gesetzesverschärfungen hat Macron angekündigt oder bereits durchgesetzt?

Gerade erst wurde die « Loi anti-casseur » (« Loi Castaner ») durchs Parlament gepeitscht. Die Regionalverwaltungen können jetzt gegen vermeintliche Störerinnen und Störer landesweite Demonstrationsverbote verhängen, außerdem wurde ein »Vermummungsverbot« eingeführt. Das geht Hand in Hand mit dem exzessiven Einsatz von Tränengas durch die Polizei. Gerade in Toulouse, wo die Bewegung besonders radikal ist, reagiert auch die Polizei besonders aggressiv, dort wird jetzt ein neues, stärkeres Tränengas eingesetzt. In der Vergangenheit war dort auch schon Demosanitätern ihr Material abgenommen worden, bevor die Polizei die vereinigte Demonstration von Gilets Jaunes, Gewerkschaften und Studierenden mit Tränengas auseinandergetrieben haben. Einen Antrag, den Gebrauch der Hartgummigeschosse, auf die ein Großteil der Verstümmelungen zurückgeht, einzuschränken, wurde demgegenüber zurückgewiesen.

Frankreich ist ein sehr zentralistisch organisierter Staat. Macron kommt dies zuteil, da er relativ gut durchregieren kann. Besteht die Gefahr einer neuen Form des Bonapartismus?

Ja und nein. Einen rückgängigen Einfluss der Bourgeoisie auf die Staatsgeschäfte würde ich jetzt gerade nicht verzeichnen. Aber eine Degeneration des Liberalismus hin zu autoritärer Führung ohne Massenbasis ist klar erkennbar, und die V. Republik bietet auch die passenden Voraussetzungen dafür, dass sich eine Präsidialdiktatur etablieren kann, ohne dass es dafür eines Putsches bedürfte. Mitterrand nannte die Verfassung nicht ohne Grund »Staatsstreich in Permanenz«. Grob würde ich sagen: In dieser Situation, in der das Volk einerseits die faschistische Option als Alternative klar zurückgewiesen hat (wie in der letzten Präsidentschaftswahl), aber andererseits nicht mehr bereit ist, den Neoliberalismus als alternativlos hinzunehmen und sich mit offenem Klassenkampf dagegen wehrt, können die Interessen des Kapitals am besten durch einen autoritären Liberalismus bewahrt werden. Den Weg hat Macron meiner Meinung nach erkennbar eingeschlagen.

Solidarität und Selbstschutz – eine kurze Kritik an der Amadeu Antonio Stiftung

In der Nacht vom 30. auf den 31. Januar wurde das Auto des AfD-Mitglieds Tilo Paulenz in Berlin angezündet. Die Cops vermelden in diesem Zusammenhang die Verhaftung eines Mannes, der ein früherer Honorarmitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung (AAS) und des Vereins für demokratische Kultur (VdK) gewesen ist. Wir wissen nichts über die Zusammenhänge und wollen uns nicht an Spekulationen beteiligen. Der Beschuldigte ist bereits wieder entlassen worden. Wie im Tagesspiegel nachzulesen ist, spricht die Anwältin des Mannes davon, dass „kein konkreter Tatverdacht“ bestehe. Die Staatsanwaltschaft hat keinen Haftbefehl beantragt. Der Geschäftsführer der AAS, Timo Reinfrank, der zugleich Vorstand des VdK ist, hat sich in aufrecht deutscher, staatstragender Manier sofort und vorauseilend von Gewalt als Mittel der Politik distanziert: „[…]egal aus welcher Richtung sie kommt“. Über den Twitter-Account der Stiftung kam die Meldung, der Beschuldigte sei niemals Mitarbeiter der Stiftung gewesen. Ein erbärmliches Verhalten, das noch dazu eine Verdrehung der Tatsachen ist.

Wir wollen mit dieser Stellungnahme die in antifaschistischen Gruppen schon länger bestehende Kritik an der Stiftung aufgreifen, die aus Rücksicht auf die Angriffe auf die AAS seitens der faschistischen Identitären und anderer Akteure, also aus Solidarität, zurückgestellt wurde. Diese Solidarität von Linken und radikalen Linken nimmt die Stiftung offensichtlich gerne in Anspruch. Umgekehrt ist das Gegenteil der Fall. Die Amadeu Antonio Stiftung ist längst kein Bestandteil eines ernsthaften Kampfes gegen Rechts mehr, sondern selbst ein Teil des gesellschaftlichen Rechtsdrifts und sie beteiligt sich ohne wirkliche Not an der Hatz gegen Antifaschist*innen. Antifaschismus lässt sich und wird sich nicht auf die Herausgabe einiger bunter Broschüren beschränken lassen. Mit seiner schon zwanghaft wirkenden Distanzierung hebelt Reinfrank, selbst ehemaliger Linker, die nach bürgerlichem Recht bestehende Unschuldsvermutung aus.

Er tut so, als wäre der Beschuldigte bereits verurteilt und ein heißes Eisen, dass so schnell wie möglich fallengelassen werden muss – vermutlich aus Angst um die wertvollen Fördergelder. Das aktuelle Verhalten von Reinfrank ist kein Einzelfall. Bereits seit längerem besteht Kritik daran, dass der Thüringer Verfassungsschützer Stephan Kramer im Stiftungsrat der AAS sitzt. Selbst, wenn diese Tätigkeit eher den Charakter eines Aushängeschildes hat, bleibt der Skandal, dass sich eine Stiftung, die sich unter anderem die Bekämpfung der extremen Rechten auf die Fahne schreibt, mit dem Inlandsgeheimdienst kollaboriert. Mit einem Geheimdienst, der zutiefst in die Förderung des Neonaziterrors des NSU verstrickt ist und bis heute alles dafür tut um diese Verstrickungen zu vertuschen. In diesem Zusammenhang stellt sich uns die Frage, warum der Opferanwalt im NSU-Prozess Mehmet Daimagüler, dessen Arbeit ansonsten nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, sich für eine solche Inszenierung funktionalisieren lässt, indem er selbst Mitglied des Stiftungsrates ist.

Auch im Fall des Bremer AfDlers Magnitz hatte die Stiftung nicht besseres zu tun, als sich ungefragt von antifaschistischer Militanz zu distanzieren. Wir erwarten von einer staatstragenden und bürgerlichen Einrichtung wie der AAS kein öffentliches Verständnis dafür, dass Menschen ihren legitimen Widerstand gegen die zunehmende Faschisierung hierzulande nicht allein auf den legalen Rahmen beschränken. Was wir aber erwarten ist sich weder unsolidarisch zu verhalten noch ohne Not Distanzierungen und Abgrenzung zu betreiben, statt der Hetze gegen Linke noch Futter zu geben. Es mag auch ein Kalkül sein, sich mit Distanzierungen ein wenig gegen Angriffe der radikalen Rechten schützen zu wollen. Aber genau diese Angriffe werden sich nicht dadurch stoppen lassen, zu tief ist das Ressentiment gegen die Stiftung und ihre Gründerin, Anetta Kahane. Es ist zu erwarten, dass die Ermittlungsbehörden, weite Teile der Berliner Politik und nicht zuletzt die AfD die Verhaftung eines vermeintlichen Militanten zum Anlass nehmen werden, eine weitergehende Durchleuchtung von Mitarbeiter*innen zu fordern. Bedroht davon sind nicht nur Vereine und Stiftungen wie der VdK und die AAS. Im Fokus stehen werden vor allem linke Projekte stehen, die Senatsförderung erhalten.

Die Stiftung selber positioniert sich immer wieder ganz offen als bürgerlich und liberal. Die Stiftungsvorsitzende Kahane hat dies unter anderem in einer Bewertung der G20-Proteste gemacht. Der entsprechende Beitrag, nachzulesen hier: https://www.belltower.news/g20-die-gewalt-des-totalitaeren-denkens-und-eine-globale-zukunft-fuer-alle-44726/, ist auf ihrem Twitteraccount als erster Tweet fixiert. Dabei unterlaufen ihr einige Fehler, die symptomatisch für sowohl bürgerliche Selbstversicherung als auch einen ideologisch beeinflussten Umgang mit Linken und radikalen Linken sind. Gleich zu Beginn behauptet sie fälschlicherweise, dass linke Militanz keine Antwort auf rechtsextreme Gewalt sei, man sie damit nicht begründen könne. Richtig ist im Kontext von G20, dass die Ausschreitungen keine antifaschistische Gegenwehr darstellen. Falsch ist es jedoch zu sagen, linke Militanz (zu der auch die Bereitschaft Gewalt anzuwenden gehört), habe nichts mit rechtsextremer Gewalt zu tun. Insbesondere rechte Gewalttaten sind der Grund, warum Militanz für viele radikale Linke eine bittere Notwendigkeit darstellt. Man muss sich zu verteidigen wissen. Kahane weist zwar auf Unterschiede zwischen Links- und Rechtsextremismus hin, bleibt aber dennoch diesen Begriffen bürgerlichen Denkens verhaftet, welche eine unterkomplexe Einteilung der politischen Theorielandschaft vornimmt. Entsprechend unterkomplex und inhaltlich falsch argumentiert Kahane dann auch weiter.

Sie verwendet einen Querfrontbegriff, der nichts mit den historischen Querfrontbestrebungen der 20er und 30er-Jahre zu tun hat, wie sie zum Beispiel von den Strasserbrüdern oder Georg Schleicher ausgingen. Stattdessen macht sie die Querfront an einer Elitenkritik fest, welche sie grundlegend als Basis jeder rechten wie linken Globalisierungskritik unterstellt. Diese Elitenkritik ist für Kahane eine Form des Strippenzieher- oder Puppenspielerantisemitismus. Was nicht vorkommt: Differenzierung. Es wird so getan, als gäbe es nur diese Form der Elitenkritik und Linke wie Rechte deshalb unisono antisemitisch. An mehreren Stellen fällt auf, dass Kahane von den Theorien linker Klassiker keine Sachkenntnis hat oder sie ignoriert. Sie bezieht sich ausschließlich auf regressive Äußerungen aus dem linken Spektrum, ignoriert aber völlig die Meinungspluralität und unterschiedlichen Ansichten zu diversen Themen. Wahrheitswidrig wird auch die Behauptung aufgestellt, der technische Fortschritt und die realen Verbesserungen der Lebensumstände würden durch Linke ignoriert, am liebsten würden Linke die Welt arm und nicht industrialisiert sehen.

Gerade ihre Behauptung, die meisten Linken würden Globalisierung auf eine strippenzieherantisemitsche Weise betrachten, verbunden mit der Forderung Globalisierungskritik endlich auf nicht verschwörungstheoretische Grundlagen zu stellen, ist an Hohn und Unwissen schwer zu überbieten. Denn genau dies wird seit Jahrzehnten aus dem linken Bereich geleistet, alleine wirkt es so, als ob Kahane diese Arbeiten nicht zur Kenntnis nehmen kann, da sonst ihre Argumentation der allein von Verschwörungsglauben und antisemitischem Elitenhass geprägten Linken nicht mehr aufrechtzuerhalten ist. In den Arbeiten von Kommunisten wie Moishe Postone oder Dietmar Dath findet sich die Forderung von Kahane erfüllt. Gleiches gilt für die Jungle World, die größte linken Wochenzeitung im deutschsprachigen Raum. Kritik an Antisemitismus in der Linken ist für uns kein Nebenschauplatz, sie ist notwendig und wird auch konstant geleistet. Bei Kahane aber wird diese Kritik aus den genannten Gründen politisch denunziatorisch.

Kahane offenbart in diesem Text ein tiefsitzendes Ressentiment gegenüber der gesamten Linken. Sie schafft es nicht zu differenzieren und stellt die Linke als einheitlichen Block dar. Geprägt ist ihr Ressentiment auch durch offenkundiges Unwissen und eine klar ideologisch gefärbte Betrachtung des Themenkomplexes. Dazu passt auch, das sie sich in einem Gespräch mit der taz vom 2.4.2017 über den geschassten Staatssekretär Andrej Holm und Gentrifizierung so äußert: „Gentrifizierung werte ich nicht so, wie er (Holm, d. A.) das tut. Wenn ich sehe, in welchem Zustand die Bauten im Osten waren! Ich finde, der Begriff Gentrifizierung wird als ideologische Kampfmaschine benutzt.“ Anders gesagt, die notwendige Kritik daran, dass Verdrängung Mieter*innen aus ihren Wohnungen an den Stadtrand oder in die Obdachlosigkeit befördert, oder dass Menschen Zweit- und Drittjobs übernehmen müssen, sind für Kahane Peanuts von ideologisierten Linken. Umgekehrt gilt vielmehr, dass Kahane nicht nur keinen Begriff von Ideologie hat, sondern gänzlich unempathisch die bestehenden Verhältnisse zulasten von Verdrängten zementieren will.

Wir fragen diejenigen Mitarbeiter*innen von AAS und VdK, die noch ein linkes, antifaschistisches Selbstverständnis haben, ob sie sich sicher sein können im Falle solcher Bespitzelung nicht von ihrer Chefetage denunziert zu werden. Wir würden es begrüßen, wenn sich Mitarbeiter*innen sowohl intern als auch öffentlich solidarisch mit dem Beschuldigten zeigen und ihre Kritik am Verhalten von Timo Reinfrank und Anetta Kahane äußern.

Wir fordern auch antifaschistische Gruppen und Einzelpersonen auf, darüber zu diskutieren, ob der Preis einer kritiklosen Solidarisierung mit der AAS nicht inzwischen zu hoch geworden ist. Macht eure Kritik an der Stiftung öffentlich und lasst uns gemeinsam diskutieren. Die zum Teil antisemitischen Kampagnen gegen die AAS sind klar zu verurteilen, dies erfordert unser antifaschistischer Anspruch. Es ist aber auch wichtig auf unsolidarisches Verhalten zu verweisen und mögliche Risiken für Personen zu diskutieren, die für die Stiftung arbeiten, gearbeitet haben oder anderweitig in Kooperation stehen oder standen.

Ansonsten gilt wie immer: Anna und Arthur halten das Maul. Beteiligt euch nicht an Spekulationen und Gerüchten. Solidarisiert euch mit dem Beschuldigten.

Ramba Zamba und Igor Netz

Gedenken an die Befreiung von Auschwitz-Birkenau

Vor 74 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit. Hier wurden von 1940 bis 1945 etwa 1.100.000 Menschen ermordet, darunter etwa 900.000 Juden und Jüdinnen. Auschwitz-Birkenau steht exemplarisch für den Holocaust und den Vernichtungswahn der Nazis, welcher durch weite Teile der Bevölkerung unterstützt oder zumindest toleriert wurde. Inmitten des sich als so fortschrittlich und aufgeklärt verstehenden Westens konnte ein unvergleichliches Verbrechen geschehen und erst durch die Kriegsniederlage beendet werden.

Die Verantwortung dieser Geschehnisse mahnt Antifaschist*innen bis in alle Ewigkeit zu einem entschlossenen Kampf gegen den Faschismus und insbesondere zu einem entschlossenen Kampf gegen jegliche Form von Antisemitismus – so unangenehm dies auch sein mag. Wir haben uns mit aller Kraft gegen jede Relativierung dieses Verbrechens zu stellen. Nichts ist in seiner Gesamtheit mit dem Holocaust zu vergleichen. Die Verantwortung hält uns auch an, uns über die Eigenschaften des Antisemitismus als negative Leitidee auf die Moderne zu informieren und seine Ausprägungen zu erkennen. Antisemitismus ist nicht nur einfach Rassismus gegen jüdische Personen, es ist eine wahnhafte Welterklärung, die in letzter Konsequenz zur Auslöschung aller Juden und Jüdinnen führen muss.

Antisemitismus ist heute lebendig wie eh und je. Unmittelbarer Vernichtungsantisemitismus ist zumindest in Europa und Nordamerika öffentlich geächtet, der Wahn hat sich aber andere Formen gesucht. Auf die Gründung des Staates Israel als Schutzraum für jüdische Personen vor weiterer Verfolgung gewann der Antizionismus an Popularität, insbesondere nach 1967 auch in der radikalen Linken. Statt Juden direkt anzugreifen nimmt man hier den Schutzraum der Juden und belegt ihn mit den selben Ressentiments und Unterstellungen, angepasst auf eine staatliche Ebene. Antisemitische Organisationen wie der BDS haben eine erschreckend große Resonanz in der Linken und gehören entschieden zurückgedrängt und bekämpft. Insbesondere international ist die Rezeption des Staates Israel massiv durch antisemitische Stereotype geprägt. Die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, mit seiner Unterform des Kulturbolschewismus, erlebt heute unter dem Namen des Kulturmarxismus vor allem im englischsprachigen Raum neue Popularität. Auch die neue brasilianische Administration ist voll von diesem Verschwörungswahn, der neue Außenminister ist ein Anhänger dieses Denkens.

Unsere Aufgabe als Antifaschist*innen ist es, uns jederzeit allen Formen des Antisemitismus entgegen zu stellen. Es kann nicht sein, dass jüdische Personen auf offener Straße angegriffen werden oder tausende Menschen zu antisemitischen Demonstrationen auf die Straße gehen. Beschämend ist es, wenn sich als links verstehende Gruppen wie der Jugendwiderstand, Revolution oder die Jewish Antifa Berlin auf diesen Demos mitlaufen und sich damit in die Front islamistischer und antisemitischer Gruppen wie der Hamas, der Hezbollah oder dem iranischen Regime stellen. Ihr seid antisemitisch und damit nicht unsere Genoss*innen.

Zum Gedenken an den Holocaust verlinken wir hier die erste Folge der US-Serie Holocaust, welche vor 40 Jahren ihre deutsche Erstaustrahlung hatte. Mit ihr wurde eine öffentliche Debatte über die Verantwortung der deutschen Bevölkerung angestoßen – von außen, nicht von innen. In Deutschland drückte man sich über Jahrzehnte vor der Konfrontation mit dem Offensichtlichen und der eigenen Schuld.

Demobericht Wien Akademikerball 25.01.2019

Jährlich findet in Wien der Akademiker- bzw. Burschiball statt. Die FPÖ lädt befreundete Rechtsradikale mit Burschihintergrund ein und feiert ein rechtsradikales Prunkstelldichein. Munter mischen sich Parteigranden wie Strache und Hofer mit Leuten wie Sellner, Straßenfaschos schütteln Amtsfaschos die Hand. Seit etwa zehn Jahren gibt es Proteste dagegen, nachdem die Veranstaltung etwa 50 Jahre unbeachtet von der Öffentlichkeit stattfinden konnte. Die Proteste wurden anfangs von Antifas organisiert, später fand dann parallel eine Bürgiveranstaltung zeitgleich statt. In den letzten Jahren haben sich die antifaschistischen Gruppen immer weiter rausgezogen – und das merkt man.

Gestern fand die momentan wöchentlich stattfindende Donnerstagsdemo gegen die Regierung statt und besuchte ein paar Burschenschaften. Die dort sichtbare autonome Beteiligung war heute mit Ausnahme von Einzelpersonen nicht auszumachen. Es fanden auch weniger Leute ihren Weg auf die Straße. Auszumachen waren dagegen viele Parteien und Bürgiorgas wie die Linkswende. Die Route war kurz und dementsprechend war sie schnell gelaufen. Von der Universität gings zum Stephansplatz und das war es dann auch schon.

Vor der Hofburg, in der der Ball dieses Jahr stattfand, fanden sich auch keine hundert Leute ein, um die Anreisenden zu bepöbeln. Vier Reihen Cops, bestehemd aus normalen Kiwarern und WEGA (den Wiener Riotcops), hatten keine Probleme die Anreise der Rechtsradikalen zu sichern. Und so bleibt nur ein sehr nüchternes Fazit zu ziehen: Keine Antifabeteiligung und die Bürgis bekommen es alleine nicht auf die Reihe ausreichend zu mobilisieren.

Demobericht Wien 24.01.2019

Demobericht Wien 24.01.2019

In Wien waren heute Abend einige tausend Menschen auf der Straße, um gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung und völkisch-nationlistische Burschenschaften zu demonstrieren. Die hauptsächlich zivilgesellschaftlichen Proteste fanden dieses mal antifaschistischer Beteiligung statt, da die wöchentliche Demo dieses Mal die Vorabenddemo zum morgigen Akademikerball darstellte. Die autonome antifa w hielt zum Beispiel einen hervorragenden Redebeitrag zu Beginn der Demostration.

Die Route vom Hauptgebäude der Wiener Universität an mehreren Burschenschaften entlang zur Wiener FPÖ-Zentrale. An jeder Station wurde ausführlich über die rechtsradikalen Aktivitäten und Verbindungen zur FPÖ und anderen rechtsradikalen Akteuren informiert. Diese sind bedeutend stärker und offener als in Deutschland, die rechtsradikalen Burschenschaften stellen einen direkten Rekrutierungspool für Partei- und Regierungsfunktionäre dar.

Jede Burschenschaft wurde mit Eiern und anderem Wurfmaterial eingedeckt, die Deutschlandfahne der Gothiaburschenschaft mit Bengalobeschuss in Brand gesetzt. Im Gebäude direkt neben der Gothia hatte zudem die Burschenschaft Hysteria eine Wohnung besetzt und begrüßte die Demo unter frenetischem Jubel. Die Demo wurde auch immer wieder mit Bannerdrops begrüßt, unter anderem direkt zu Beginn vom Hauptbalkon der Universität. Außerdem wurde eine Polizeiwache mit Binden eingedeckt, auf denen unter anderem „Männerbünde zerschlagen“ stand.

Im Vergleich zu Demo in Deutschland war Polizeibegleitung auffallend schwach. Erst im letzten Drittel lief ein einziger Polizeifinger neben dem Antifablock mit. Auch die Burschenschaften waren vergleichsweise schwach gesichert. Auch wenn die schmalen Gassen der Wiener Innenstadt den Personenstrom etwas einengten, hätte man hier zu beiden Seiten die Gassen dicht machen und ordentlich Glasschaden verursachen können, ohne das die wenigen Kräfte vor Ort dagegen angekommen wären. Auch wären kreative Farbgestaltungen der Fassaden problemfrei möglich gewesen, man hätte nur Farbeier werfen müssen.

Rechtsradikale Ideologien im Wandel der Zeit

Ein wichtiger Aspekt im antifaschistischen Aktivismus ist die Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Ideologien. Man sollte sich zumindest grob im Dickicht rechter Ideologien auskennen und halbwegs sicher durch unterschiedliche Argumentationsmuster navigieren können. Damit lassen sich nicht nur Fragen beantworten, warum man im Wahl-o-mat mehr prozentuale Übereinstimmung mit der NPD als mit der AfD hat (die NPD hat mehr sozialere Forderungen als die im Grundsatzprogramm wirtschaftsfreundlich ausgerichtete AfD). Es lassen sich Anknüpfungspunkte an andere Ideologien finden, man lernt viel über die Ideengeschichte politischer Theorie und schärft auch das eigene Verständnis der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge. Und so ganz nebenbei verschafft man sich gutes Rüstzeug für Agitation und politische Debatten. Dabei begegnet man oft einer Art von Argumentation, die den Faschismus und Nationalsozialismus historifizieren oder rechtsradikale Ansichten dadurch nichtig machen wollen, dass man ja in einigen Punkten nicht so sei wie die Nazis.

„Fast niemand will heute alle Juden umbringen, es können also keine Nazis sein!“
„Die AfD kann gar nicht rechtsradikal sein, die haben mit Alice Weidel eine lesbische Frau als Fraktionsvorsitzende und Frauke Petry war auch Parteichefin!“
„Ich hab ausländische Freunde, ich kann nicht rechts sein!“

Interessanterweise gibt es auch immer wieder Personen mit eigentlich gutem Fachwissen, die eine strikte Linie der Historifizierung fahren. Dies passiert oft als Abwehr auf einen zu lax verwendeten Faschismus- oder Nationalsozialismusbegriff. Die AfD ist nicht die neue NSDAP, da gibt es einige bedeutende Unterschiede. So schreibt das Parteiengesetz der BRD bestimmte Organisationsformen vor und ein offen verfassungsfeindliches Grundsatzprogramm würde zum Verbot der Partei führen. Auch fehlt eine parteieigene Straßenmiliz, die regelmäßig politische Gegner*innen zusammenschlägt und ermordet. Es sind nicht alle Personen Nazis, die sich für noch strengere Zuwanderungsgesetze aussprechen. Oft wird im Gegenzug dann aber vergessen, dass die AfD die momentan größte rechtsradikale Kraft in Deutschland ist und mit der FPÖ eine rechtsradikale Partei in Österreich an der Regierung beteiligt ist. Der Fehler liegt hier in der Grundannahme, eine Ideologie habe sich exakt so zu zeigen wie im Jahr xyz und ist für immer und ewig unveränderlich. Dabei müssen auch rechtsradikale Ideolgien auf Veränderungen in Wirtschafts, Gesellschaft und (Geo-)Politik eingehen, wenn sie überhaupt die Möglichkeit haben wollen erfolgreich zu werden.

Rechts ist rechts ist rechts ist rechts

 

Die Begriffe rechts, links und Mitte/Zentrum sind äußerst ungenau und nicht wirklich trennscharf. Außerdem ändern sich die Ansichten dessen, was man mit dem jeweiligen Wort bezeichnet durchaus im Laufe der Zeit. In den USA würde man das Grundsatzprogramm der CDU vermutlich als sozialistisch oder gar kommunistisch bezeichnen, weil die Begriffe dort ganz anders verwendet werden als hier. Momentan machen zum Beispiel immer wieder Umfragen die Runde, dass Millenials mehrheitlich für den Sozialismus seien. Schaut man sich dann aber mal genau an, welche Forderungen dahinter stehen, stellt man fest, dass es sich um klassisches sozialdemokratisches Denken handelt und der kollektive Besitz der Produktionsmittel in der Regel nicht gemeint ist. Was ist denn nun aber links und was ist rechts?

Für beide Begriffe lässt sich nur eine Grobdefinition aufstellen. Und diese dreht sich um den Begriff der Gleichheit. Linke Theorien und Ideologien setzen auf eine möglichst gleiche Betrachtung oder Behandlung von Menschen und versucht Marker sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, regionale Herkunft und Elternhaus so gut es geht zu bekämpfen. Es geht nicht um vollständige Gleichheit des Individuums, es geht um das Ignorieren vorhandener Unterschiede und das Eliminieren der Auswirkungen natürlicher Ungleichheit. Rechte Ideologie dagegen setzt gegenteilig auf das Bewahren oder gar das Verstärken vorhandener Ungleichheit. Setzten sich Linke dafür ein, dass Personen egal welchen Geschlechts gleich behandelt werden, weisen Rechte den Geschlechtern unterschiedliche Rollen zu und wollen eine Ungleichbehandlung. Wie genau jetzt diese Ideologien der (Un-)Gleichbehandlung aussehen ist die Frage der konkreten Ideologie. Als weitere Oberkategorie neben links und rechts als Grobverortung erweist sich vor allem die Unterteilung in Links- und Rechtsradikalismus als sinnvoll. Das Wort radikal leitet sich lateinischen Wort radix, Wurzel, ab. Deshalb heißt das Ziehen der Wurzel in der Mathematik auch radizieren und auf dem Taschenrechner oder in Rechenprogrammen findet man die Wurzelfunktion oft unter dem Kürzel „rad“ wieder. Angewandt auf politische Theorie bedeutet linksradikal zu sein dann, dass man die Gesellschaft von der Wurzel auf, also radikal, verändern möchte. Man will nicht nur punktuelle Veränderungen vornehmen, sondern Staat, Gesellschaft und Politik auf völlig neue Grundfesten stellen bezehungsweise so weit verändern, dass ein neuer Begriff zur Bezeichnung notwendig wird. Analog gilt dies auch für Rechtsradikale. Diese Begriffe sind insofern sinnvoll, da sie einen Wirkungsanspruch markieren. Sprich: Ließe man Links- oder Rechtsradikalen freie Hand, sie würden das jetzige System abschaffen, nicht nur modifizieren.

Die Zäsur der Moderne

 

Das klassische Links-Rechts-Spektrum hat ihren Ursprung in der Sitzordnung des französischen Parlaments während der Revolution 1789. Rechts der Mitte saßen die Royalisten, links die Republikaner. Die Einteilung entspringt also der Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft. Die Französische Revolution ist einer wenigen konkret greifbaren Momente, die den Wandel der feudalen Gesellschaftsordnung hin zur Moderne charakterisieren. Dieser Wandel vollzog sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und wälzte die bis dahin bekannte Ordnung vollständig um. Die bisherige Ständegesellschaft löste sich auf, mit ihr auch das alte Verpflichtungs- und Absicherungssystem, die Geldwirtschaft weitete sich aus, mit der Durchsetzung der Lohnarbeit wurde der Alltag der Menschen in bisher unbekannter Weise mathematisiert, Wissenschaft und Industrialisierung gingen Hand in Hand mit einem steten Wachstumsoptimismus einher, die Nationalstaaten bildeten sich und noch vieles mehr.

Als Reaktion auf diese tiefgreifenden Veränderungen bildete sich eine neue Wissenschaft heraus, die zum Ende des 19. Jahrhunderts als Soziologie ihren bis heute gültigen Namen bekommen sollte. Menschen begannen damit die Veränderungen um sie herum zu beschreiben, zu kategorisieren, zu systematisieren und lieferten Erklärungsversuche für das, was passierte. Der Wandel wurde aber nicht nur kritiklos hingenommen. Personen wie Marx, Engels, Proudhon oder Bakunin entwickelten teilweise radikale Kritiken an den Zuständen, es kam zu Massenverelendungen und modernen Formen der Sklaverei in den Fabriken, ganz zu schweigen von der realen Sklaverei in den Kolonien und in den USA. Aber nicht nur von linker Seite gab es diese Kritik, die sich vor allem darauf bezog, dass die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nur für wenige Menschen zutraf und Frauen komplett ignorierte. Der zusehende Verlust des ständischen Systems und der feudalen Produktionsweise rief auch Personen auf den Plan, die eben genau dies zurückhaben wollten. Manche nur in Teilen, andere vollständig.

Die Deutschwerdung

 

Im deutschsprachigen Raum bildete sich die Gegenbewegung zur Moderne in der Romantik. Der Wissenschaftlichkeit stellte man eine Mystifizierung der Welt entgegen, der Rationalität und der Logik das gefühlsbetonte Empfinden. Weltschmerz, Innerlichkeit und die Überhöhung der Natur kennzeichneten die radikale Ablehnung des modernen, städtischen Lebens. Ausläufer dieser fundamentalistischen Abkehr finden sich in den Schriften Wagners oder in Gedichten Georges wieder. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Niederlage gegen Napolein war zudem 1806 der zumindest ideell noch vorhandene politische Zusammenhang von etwas Deutschem verschwunden. Als Reaktion darauf wurde der Volksbegriff mythologisiert und als Kernelement der Deutschen ausgemacht.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts fanden zudem verstärkt rassebiologische Theorien Einzug in den Volksbegriff und wandelten diesen in einen völkischen um. Hier werden bestimmte Elemente der Moderne nicht abgelehnt. Im Gegenteil, man bediente sich der Erkenntnisse der Wissenschaft und begründete mit ihnen die Überlegenheit der nordischen Rasse oder des deutschen Volkes. Beim rassebiologischen Volksbegriff machten verschiedene Theorien die Runde, teilweise stand man sich auch in den Positionen gegenüber. Wer die Überlegenheit der nordischen Rasse annahm, erklärte damit mehr oder weniger direkt Personen aus dem südlichen deutschsprachigen Raum für unterlegen. Andere wiederum sahen den Adel als genetisch bevorteilt an, der von Natur aus zu Höherem bestimmt sei und über Fähigkeiten verfüge, über die andere Schichten oder Stände nicht verfügten. Es sei daher nur richtig, wenn man das Ständesystem weiter aufrecht erhält und dem Adel Rechte einräumt, die man anderen Ständen verwehrt. Die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung beziehungsweise Züchtung genetisch möglichst reiner Menschen waren dann aber doch wieder gleich. Heiratsverbote und -anreize innerhalb bestimmter Gruppen, Sterilisierung als degeneriert angesehener Personen, in letzter Konsequenz Ausrottung schwacher Elemente, insbesondere der Juden. Man betrachtete den Menschen als züchtbar wie den Hund und zeigte keine Gnade mit den als unwert betrachteten Menschen.

Die größte politische Veränderung stellte die Gründung des Kaiserreiches 1870/71 dar. Der deutschsprachige Raum war vorher durch Fürstentümer gekennzeichnet, wobei sich Preußen, Sachsen und Bayern den Königstitel verliehen haben und die Habsburger Lande immer noch vom Kaiser beherrscht wurden. Ein wirkliches Einheitsgefühl gab es bis dahin nicht, man führte oft Krieg gegeneinander und die preußische Expansionspolitik bereitete Vielen Kopfschmerzen. Die alte Ordnung wurde dann mit Vereinigung von oben beendet und mit der sogenannten kleindeutschen Lösung ein Reich ohne die Habsburger Lande gegründet. Das Kaiserreich wurde ein semiabsolutistischer Staat und die erste wirkliche Nation im deutschsprachigen Raum. Man behielt die Ständeordnung bei und zementierte sie im preußischen Zensuswahlrecht, welches als Vorbild galt. Jubilierte einerseits die radikale Rechte über die neue Großmacht im Zentrum Europas, so missfielen ihr aber auch viele Dinge. Juden wurden die gleichen Rechte zugesprochen und viele Verbände setzten sich für ein Ende der Judenemanzipation ein. Auch die von oben forcierte Industrialisierung traf nicht überall auf Gegenliebe, insbesondere in den ländlichen Regionen, die stark durch das Bauerntum geprägt waren. Dennoch musste sich die radikale Rechte auf die neuen politischen Umstände einlassen, ob sie wollte oder nicht.

Die Mobilisierung aller Kräfte

Was man in Bezug auf die politische Landkarte im Kaiserreich aber nicht vergessen darf ist, dass eine aus heutiger als radikale Rechte zu bezeichnende politische Strömung durch die Hohenzollernmonarchie direkten Zugriff auf den Staatsapparat hatte. Wir haben es mit einer nationalistischen Erbmonarchie zu tun, welche insbesondere unter Kaiser Wilhelm II chauvinistische Auswüchse annahm. Man stütze sich auf das Militär, verfolgte Linke, unterdrückte Katholiken, sicherte sich noch ein paar Kolonien (in denen man Aufstände teilweise genozidal niederschlug), verwehrte Frauen Rechte und Teilhabe. Wilhelm II selber äußerte sich immer wieder antisemitisch und rassistisch, drohte damit Linke im Falle von Streiks niederschießen zu lassen und stellte sich gegen einen gesellschaftlichen Liberalismus. Das Kaiserreich blieb eine ständische Gesellschaft mit moderner, sprich kapitalistischer, Wirtschaftsweise. Trotzdem verstand sich Wilhelm II zuvorderst als Kaiser aller Deutschen und machte die Judenemanzipation nicht rückgängig, so antisemitisch er auch selbst gewesen sein mag. Zudem war er zwar rassistisch, aber nicht rassebiologisch. Er sprach oft von Völkern und ihren Eigenschaften, an verschiedenen Aussagen lässt sich aber nachvollziehen, dass er Völker nicht im völkisch-rassischen Sinne verstand. Er setzte sie mehr oder weniger mit dem Staatsvolk gleich, also der Bevölkerung innerhalb eines staatlichen Territoriums. Daher war die offizielle Politik des Kaiserreiches auch nationalchauvinistisch, nicht völkisch.

Den größten Einfluss auf die Entwicklung der radikalen Rechten in Deutschland sollte Wilhelm II jedoch mit seinen Reden zum Kriegseinstieg Deutschlands 1914 haben. In den Balkonreden beschwor er die Einheit des deutschen Volkes und stellte das Volkskollektiv als über allem stehendes verbindendes Element dar: „Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ Neben den Reden war es insbesondere das Momentum der Generalmobilmachung, welcher im kollektiven Gedächtnis das ganze Land ergriff und alle zu einer Einheit verband. Dieser Mythos von 1914 wird bis heute von der radikalen Rechten vertreten, auch gegen historisch gesicherte Tatsachen wie Massenproteste und fehlenden Enthusiasmus großer Bevölkerungsschichten.

Der Erste Weltkrieg sollte der erste große Krieg der Moderne werden, standen sich hier doch die industrialisierten Großmächte Europas direkt gegenüber. Was war nun das Besondere, zumindest in der Lesart der radikalen Rechten? Es zog nicht eine Armee für den Kaiser in die Schlacht, hier kämpfte das gesamte deutsche Volk mit all seinen Kräften für seinen Erhalt. Das Fronterlebnis wurde zu einer „Sozialismus der Schützengräben“ verklärt. Unabhängig vom Geburtsstand oder der Herkunft konnte man sich hier für Volk und Vaterland verdient machen. Unter dem Trommelfeuer von Artillerie, Maschinengewehren und Giftgasangriffen waren alle gleich und der Mann fand zu seiner Bestimmung des heldenhaften Kampfes für eine größere Sache zu sich selbst. An der Heimatfront hatten auch alle ihren Dienst zu tun. Frauen füllten Positionen, die durch die an die Front berufenen Männer nicht mehr besetzt waren. Das gesamte Reich agierte als Einheit für den Sieg. Ungeschlagen an der Front wurde der Sieg durch den Dolchstoß der verhassten Linken verhindert, außerdem sei der Siegeswille an der Heimatfront nicht stark genug gewesen. Die Mobilisierung aller Teile des Volkes war nicht gut genug gewesen. Trotz technischem und industriellem Fortschritt verlor das deutsche Volk den Krieg durch einen Mangel an inneren Werten. So die Kurzform des späteren Mythos.

Die Verklärung war einerseits eine taktische. Die Generalität wusste sehr wohl, dass der Krieg nicht zu gewinnen war und das Reich spätestens nach dem Kriegseintritt der USA zu vielen und starken Gegnern gegenüberstand und wirtschaftlich am Ende war. Der Dolchstoß war erfunden, der Kieler Matrosenaufstand nur das Resultat eines Befehls der Admiralität mit allen Schiffen auszulaufen und in einem letzten ehrenhaften Gefecht gegen das Vereinigte Königreich unterzugehen. Später war man dann aber so klug die Kapitulationsverhandlungen die SPD-geführte Übergangsregierung führen zu lassen. Dadurch war man offiziell fein raus und konnte das eigene Ansehen unbeschadet retten, indem man alle Schuld auf die bürgerliche Regierung abwälzte und den Dolchstoß von links erfand. Andererseits war die Verklärung der Kriegserlebnisse der Startpunkt vieler neuartiger rechtsradikaler Ideologien. Arthur Moeller van den Bruck entwickelte das Vokabular der folgenden Jahre und veröffentlichte eines der einflussreichsten Bücher der Zeit: Das Dritte Reich. Anstatt auf eine ständische Gesellschaft zu bauen war jetzt die mythisch überhöhte Volksnation das Ziel. Es sei die historische Bestimmung des deutschen Volkes in einem metaphysischem Reich aufzugehen, dies sei die einzige ihm angemessene Staatsform. Die Mobilisierung aller Kräfte sollte in den folgenden Jahren diverse Ideologien beeinflussen und dann schlussendlich im Totalen Krieg des Nationalsozialismus seinen Höhepunkt finden.

Radikalisierung

 

Die Zwanziger sollten sich als fruchtbare Zeit für rechtsradikale Ideologien erweisen. Mit der Weimarer Republik hatte man einen gemeinsamen, verhassten Feind, die bürgerliche Demokratie verachtete man zutiefst. Die literarische Verwertung seiner Kriegstagebücher und sein politisch-publizistisches Engagement machten ernst Jünger zu einem Star der radikalisierten Rechten, der aus seiner politischen Gesinnung keinen Hehl machte: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest.“ Befreit von den Fesseln der Monarchie und des preußischen Nationalismus alter Art verarbeitete man die Ereignisse und Erlebnisse rund um den Ersten Weltkrieg zu immer neuen Theorien. Angestachelt durch den Sieg der Faschisten in Italien sah man auch im Deutschen Reich die Zeit für eine moderne Diktatur gekommen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich der vorherrschende Konservatismus der Kaiserzeit zu nationalrevolutionären Ideologien. Man konnte gar nicht mehr radikal genug sein, hierzu auch noch mal Ernst Jünger: „Wir können gar nicht national, ja nationalistisch genug sein.“ Viele einflussreiche Namen dieser Zeit haben bis heute eine unmittelbare Relevanz für die radikale Rechte, nicht nur in Deutschland: Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Edgar Julius Jung, Oswald Spengler, Thomas Mann (welcher sich ab 1922 zusehends hin zu einem Demokraten entwickelte), Ernst von Salomon, die Strasser-Brüder, Joseph Goebbels, Adolf Hitler, Erich Ludendorff, Alfred Hugenberg.

Die einzelnen Theorien unterschieden sich teilweise beträchtlich, jedoch aktualisierte man vorhandene Ideologien um die Erkenntnisse des Ersten Weltkriegs. Ähnlich wie es Linksradikale schon seit Jahrzehnten versuchten, setzte man jetzt zusehends auf eine revolutionäre Massenbewegung um die Republik zu stürzen. Eine wichtige Rollen spielten dabei die protofaschistischen Freikorps und Soldatenverbände wie der Stahlhelm, in denen sich viele der über zehn Millionen Soldaten nach Kriegsende organisierten. Die Freikorps arbeiteten nach Kriegsende mit der SPD-geführten Regierung zusammen und schlugen für diese linksradikale Revolutionsbestrebungen in den Jahren 1918-1923 nieder. Ähnliche Gruppen gab es auch in Italien und aus diesen männerbündischen Veteranentrupps sollten sich dann diejenigen Mussolinis besonders hervortun und innerhalb weniger Jahre die Macht übernehmen können. Der Stahlhelm, welcher als bewaffneter Straßenarm der DNVP gelten kann, gab eine eigene Publikation heraus (in der unter anderem Ernst Jünger veröffentlichte) und kam in Spitzenzeiten auf etwa 500.000 Mitglieder. Zum Vergleich: Der Alldeutsche Verband, einer der einflussreichsten rechtsradikalen Verbände im Kaiserreich, kam inklusive Doppelmitgliedschaften aus anderen Verbänden in Spitzenzeiten auf maximal 100.000 Personen – die nicht paramilitärisch organisiert waren. Man muss sich diese Dimensionen vor Augen führen um den Zeitenwechsel innerhalb der radikalen Rechten zu begreifen. War im Kaiserreich eine Beeinflussung der Politik hauptsächlich über Interessensverbände möglich und sämtliche polizeiliche und militärische Gewalt fest in staatlicher Hand, standen jetzt auf einmal Millionen ausgebildeter Soldaten mit Fronterfahrung zur Verfügung, von denen große Teile das neue System ablehnten und in paramilitärischen Strukturen organisiert waren. Allein dieser Umstand verlangte eine theoretische und strategische Weiterentwicklung bisheriger Ideologien.

Weiterhin großen Einfluss übten sozialdarwinistische und rassebiologische Theorien aus. Der Antisemitismus hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als neuartiges Ressentiment gegen die Moderne herauskristallisiert und mit völkischen Ideen bis zur Maximalforderung der Judenvernichtung gesteigert. Die Fantasie eines genetisch reinen und gesunden Volkskörper fand weiterhin einflussreiche Anhänger*innen – Männer wie Frauen arbeiteten an diesem Ziel und bildeten Vorstufen der Lebensborneinrichtungen der Nazis. Das völkische Denken löste zusehends das alte ständegesellschaftliche Denken ab und erzeugte eine ideologische Mischform aus Ablehnung und Befürwortung der Moderne. Diese ist keine Neuerung der Zwischenkriegszeit und war so auch schon im Kaiserreich anzutreffen. Auf der einen Seite befürwortete man den wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt und zeigte sich hier ausgesprochen modern. Auf der anderen Seite lehnte man die gesellschaftliche Moderne ab und suchte das Bauertum zu erhalten. Außerdem präsentierte man sich in Teilen kritisch gegenüber dem Kapitalismus und wollte bestimmte Ausprägungen bekämpfen. Die bekannte Einteilung in raffendes und schaffendes Kapital geht zurück bis weit 19. Jahrhundert. Neu war allerdings, dass man sich auch um das Proletariat bemühte und versuchte mit gewissen sozialen Forderungen dort Stimmen abzugreifen. Dabei hatte man einen schwierigen Balanceakt zwischen altem Kapital, Kleinbürgertum, Bauernverbände und dem Proletariat zu meistern, denn die jeweiligen Einzelinteressen widersprachen sich oft. Da man aber das gesamte deutsche Volk zu mobilisieren versuchte, konnte man nicht einfach große Bevölkerungsschichten ignorieren. Programmatisch sind hier die Reden Hitlers von 1930 bis 1933 zu nennen, die oft von Strasser geschrieben wurden und den großen Stimmenzuwachs der NSDAP mit ihren sozialeren Profil im Vergleich zum Beispiel zur DNVP begründen. Ebenfalls neu war die Verbindung des völkischen Denkens mit dem revolutionären Ansatz, was sich dann schlussendlich in der Nazizeit zu einem neuen Gesellschaftssystem zusammenführen sollte.

Der Holocaust und der Zweite Weltkrieg

 

Nachdem die Nazis in den Jahren 1932 und 1933 in die höchsten Staatsämter der Weimarer Republik gelassen wurden und man Hitler zum Reichskanzler ernannte, hatte die radikale Rechte wieder unmittelbaren Zugang zu allen Machtressourcen. Diese wurden umgehend eingesetzt um mögliche Widerstände innerhalb des Reiches auszuschalten: Linke, Linksliberale, Bürgerliche, Gewerkschaftler*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen – sie alle wurden unterdrückt, verfolgt, außer Landes getrieben oder ermordet. Doch auch innerhalb der radikalen Rechten wurde hart durchgegriffen. Im Zuge des fingierten Röhmputsches wurden Strasser und Jung ermordet, andere rechte Vordenker versuchte man in das System einzubinden oder stellte sie kalt. Die größten Kopfschmerzen bereitete der radikalen Rechten aber die Kompromisslosigkeit der Nazis. Sie gingen den Weg ihrer Ideologie so konsequent, wie es in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft überhaupt möglich war, und hinterließen einen zerstörten Kontinent, über 40 Millionen Tote in Europa und dem schlimmsten Verbrechen des Menschen am Menschen in der bisherigen Geschichte, den Holocaust. Das Deutsche Reich wurde vollständig besetzt und im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg hat die Zivilbevölkerung die Folgen des von ihm unterstützten und akzeptierten Wahns direkt zu spüren bekommen. Bis heute opfert man auf rechter Seite herum und versucht sich als wahres Opfer des Krieges zu inszenieren.

Jetzt waren die Folgen und die Verbrechen der Nazizeit so riesig, dass sich eine positive Bezugnahme darauf praktisch mit Kriegsende sofort erledigte. Man war in den Folgejahren damit beschäftigt die eigene Haut zu retten und nicht auf den Schirm der Entnazifizierung zu kommen, die in der sowjetischen Besatzungszone erheblich konsequenter durchgeführt wurde als in den alliierten Zonen, Österreich ließ man gar ganz in Ruhe. Doch nicht nur das eigene Wohlergehen waren der Grund dafür, der totale Wahn der NS-Ideologie gipfelte in der totalen Niederlage. Worauf soll man sich da noch positiv beziehen? Man hatte bis zur letzten Patrone gekämpft, mit dem Volkssturm alt und jung in den aussichtslosen Kampf geworfen und mit brutalster Sklaverei Menschen zu Tode geschunden oder gleich vergast. Die bisher radikalste Ideologie hatte voll und ganz verloren, das geliebte und geheiligte Deutschland war besetzt und zerstört. Eine Möglichkeit war sich politisch neu zu organisieren und wie nach dem Ersten Weltkrieg die neue Republik von innen zu bekämpfen. Die Sozialistische Reichspartei wurde jedoch 1952 als Nachfolgepartei der NSDAP verboten und die Besetzung durch die Alliierten verhinderte ähnliche Strategien wie in den 20ern.

Einen anderen Weg ging Armin Mohler, der aus der Schweiz ins Deutsche Reich geflohen war und vergeblich versuchte sich bei der Waffen-SS zu melden. Dieser wurde nach dem Krieg für ein paar Jahre Privatsekretär Ernst Jüngers und erstellte ein Kompendium rechtsradikaler Ideologien der Zwanziger Jahre, welches er „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932“ nannte. Ursprünglich seine Dissertation, erweiterte er diese zum Buchformat in etlichen Aufgaben. Mohler hatte ein klares Ziel: Eine Abspaltung des Nationalsozialismus von anderen nationalrevolutionären Ideologien, um diese dann als unbefleckt von den Naziverbrechen präsentieren zu können. Historisch haltbar ist davon nichts, aber um historische Richtigkeit ging es auch nicht. Mohler wollte unterschiedliche Ideologien, die aus der selben Ecke wie der Nationalsozialismus kommen, als Anknüpfungspunkte in die Post-NS-Zeit retten. Deshalb warf er alles in einen Topf und präsentierte teilweise gegenläufige Ansichten als Teil einer großen Denkschule und unterschlug sämtliche Verbindungen zum Nationalsozialismus. Ernst Jünger hatte sich zum Beispiel noch vor Kriegsbeginn freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und Carl Schmitt arbeitete dem Regime offen zu.

Antiliberalismus und der Antikommunismus als Brücke ins liberale Lager

 

Wichtig beim Verständnis der radikalen Rechten ist, dass diese nicht isoliert in einem luftleeren Raum entsteht und ohne jegliche Außenkontakte wie von sich selbst existiert. Die radikale Rechte ist Teil der Gesellschaft, zeitweise hatte sie auch die Macht inne und war somit das, was man per inhaltsentkernten Extremismustheorie als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnen würde. Im Kaiserreich und während des Nationalsozialismus waren rechtsradikale Ideologien gesellschaftlich vorherrschend und dominant. Eine konstante im rechtsradikalen Denken ist die Ablehnung gesellschaftlichen Liberalismus und des universalistischen Anspruches liberaler Ideologie – auch wenn dieser in der Praxis nur partikular vertreten wird. Die allgemeinen Menschenrechte galten nicht für die Sklav*innen oder in den Kolonialgebieten. Die Ablehnung sitzt tief und bis heute finden sich immer wieder Verweise auf die Jahreszahlen 1789 und 1968, welche das alte Europa und seine Völker zerstören würden. In einigen Lesarten wird dann auch noch die radikale Linke mit Kommunismus und Anarchismus dem Liberalimus zugeschlagen. In ihnen sieht man die höchste Stufe der Gleichmacherei, verbunden mit der zugespitzten Annahme, man wolle alle Menschen vollständig gleich machen. Ein Graus für Personen, denen die Betonung von Unterschieden der zentrale politische Anspruch ist.

Interessanterweise teilt man die Ablehnung der radikalen Linken dann aber auch wieder mit den Liberalen. Insbesondere der Wirtschaftsliberalismus ist hier problemfrei anschlussfähig an rechtsradikale Ideologien. Warum? Man fürchtet die Änderung der Besitzverhältnisse, schließlich haben radikale Linke den Anspruch die Produktionsmittel zu kollektivieren. Und der Wirtschaftsliberalismus muss auch nicht mit einem sozialem Liberalismus einhergehen. Im Kaiserreich setzte man auch die kapitalistische Produktionsweise durch, der Staat förderte massiv die Industrialisierung, trotzdem blieb es ein konservativer Ständestaat. Wirklich in Angst und Schrecken versetzte die bürgerliche Welt dann die erfolgreiche Oktoberrevolution, mit der vorher niemand wirklich gerechnet hatte. Über Jahrzehnte hatte man die sozialrevolutionären Bestrebungen in Europa und in den USA mehr oder weniger erfolgreich unterdrücken können. Man hatte zwar Angst der anarchistischen Propaganda der Tat zum Opfer zu fallen, als herrschende Klasse sah man sich aber nicht unmittelbar in Gefahr.

Die Machtübernahme der Bolschwiki war ein Schock. Im daraufhin ausbrechenden russischem Bürgerkrieg entsandte die Entente unter Führung von Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA Truppen nach Russland. Man wollte Kriegsgüter sichern, die man dem zaristischen Russland als Unterstützung hat zukommen lassen, vor allem wollte man aber den Kommunismus verhindern. Eine erfolgreiche kommunistische Revolution sah man als reale Gefahr an, könnten sich doch auch andere revolutionäre Bewegungen zum Aufstand entschließen. Diese Annahme sollte sich auch in Teilen als richtig herausstellen, insbesondere das Deutsche Reich und Italien waren gegen Kriegsende und in den Nachkriegsjahren von revolutionären Bestrebungen und Massenstreiks betroffen. Und das mit weitreichenden Konsequenzen.

Die Angst vor einem linksradikalen Umsturz war so groß, dass weite Teile des Bürgertums bereit waren mit radikal rechten Kräften zu kooperieren und ihnen Macht zu übertragen. Das Gespenst ging wieder einmal um in Europa. In Deutschland schloss die SPD mit der Generalität und mit den Freikorps einen Pakt zur Niederschlagung linker Proteste. Nach der Bewilligung der Kriegskredite 1914 der zweite Großverrat der SPD an den eigenen Genoss*innen. Die prominentesten Opfer sind Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, weniger bekannte der Anarchist Gustav Landauer und der Kommunist Eugen Levinè. Die letztgenannten waren am Versuch der Münchner Räterepublik beteiligt. Bei der Niederschlagung der Räterepublik war unter anderem der spätere SA-Führer Ernst Röhm beteiligt, der für die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts mit Rückendeckung von Noske und Ebert (beide SPD) verantwortliche Offizier Waldemar Pabst beteiligte sich 1920 am rechtsradikalen Kapp-Putsch. Auch in Italien bot sich die aufkommende faschistische Bewegung Mussolinis als Kampfbund gegen den Kommunismus an und erhielt Unterstützung diverser Industrieller, da man so die ständigen Streiks brechen wollte. Die bürgerlich-konservativen Kräfte hatten eine solche Angst vor der radikalen Linken, dass sie mutwillig die radikale Rechte hofierten, sie als kontrollierbar ansahen und als Werkzeug gegen die Linke einsetzen wollten oder deren Treiben als kleineres Übel akzeptierten. Die Unfähigkeit des klassischen Liberalismus, die Gefahr des Faschismus zu erkennen und zu bekämpfen, sollte später den Zweiten Weltkrieg und de Holocaust mitbedingen und die offene rechte Flanke dieser Ideologie brutal offenlegen.

Der Antisemitismus und die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung

 

Auf die Oktoberevolution reagierte die radikale Rechte aber auch in ideologischer Weise und passte den Antisemitismus den neuen Begebenheiten an. Bereits 1903 waren die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ in Russland erschienen und dokumentierten eine angebliche Verschwörung des Judentums zur Kontrolle der Welt. Die Protokolle bündelten eine Vielzahl vorhandener antisemitischer und antijudaistischer Ressentiments der Zeit und machte sie in relativ kompakter und für geneigte Person in glaubhafter Form weiterverbreitbar. So zeigte sich der us-amerikanische Großindustrielle Henry Ford (ja genau, der Autohersteller) so begeistert von den Protokollen, dass er ein darauf basierendes Buch in Großauflage verbreiten ließ und zum Teil beim Kauf eines Autos als Geschenk des Hauses mitgab. Mit dem Sieg der Bolschewiki wurden diese umgehend in das Hirngespinst der Weltverschwörung integriert, der kommunistische Anspruch der Weltrevolution bot dafür einen idealen Ansatzpunkt. Das Resultat war dann die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, welche als Ziel die Zerstörung der westlichen Zivilisation hatte und alle Völker der Erde unterjochen und zersetzen wollte. Zusammen mit schon vorher vorhandenen genozidalen Äußerungen in Richtung der Juden entfalteten die Protokolle und die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung einen Radikalisierungssog des Antisemitismus, dessen Resultat, der Holocaust, bekannt ist. Der Antisemitismus als modernes Ressentiment gegen die Juden führt in letzter Konsequenz immer zu einer Vernichtungslogik, da man das Jüdische als zersetzend, parasitär, zerstörend ansieht – für alle Länder der Erde.

Die Niederlage des Dritten Reiches hinterließ einen sprichwörtlichen Trümmerhaufen. Ein ganzer Kontinent war zerstört worden über 40 Millionen Menschen gestorben und der Wahn der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie musste von allen politischen Theorien in irgendeiner Form berücksichtigt werden. Die sich als Nachfolge der NSDAP verstehende Sozialistische Reichspartei (SRP) war offen nationalsozialistisch und strebte offiziell eine Lösung der Judenfrage an – mit anderen Mitteln als in der Nazizeit. Sie wurde 1952 als erste Partei in der Zeit der Bundesrepublik verboten. Das Verbot betraf nicht nur die SRP, es waren auch alle Untergruppierungen und Nachfolgeorganisationen betroffen. Dieses konsequente Verbotsrecht war eine Antwort des bürgerlichen Staatsrechts auf die NS-Zeit, welches die BRD als „wehrhafte Demokratie“ konzipierte. Die Deutsche Reichspartei (DRP), welche sich in eine ideengeschichtliche Traditionslinie der DNVP stellte, blieb bundesweit irrelevant, schaffte es aber in zwei Landesparlamente. Hier wollte man das Kaiserreich wieder herstellen, mindestens in den Grenzen von 1937, und verweigerte einer Aufarbeitung der Nazizeit vollständig. Stattdessen präsentierte man eine neue, spezifisch deutsche Form des Antisemitismus: den sekundären oder auch Schuldabwehrantisemitismus. So sprach man von der Auschwitzlüge und war generell nicht gewillt auch nur ansatzweise ein Schuldeingeständnis abzugeben. Die stete Relativierung des Holocaust und der Verbrechen der Nazizeit ist ein bis heute beliebtes Unterfangen insbesondere der deutschen Rechten, findet sich aber auch im bürgerlichen Spektrum bei steten Hufeisenwerfen die DDR oder Sowjetunion bzw. „den Kommunismus“ als mindestens genauso schlimm darzustellen wie die Nazizeit, da man sich hier auf die Sowjetunion als Hauptschuldige einschießen konnte, während man beim NS die gesamtdeutsche Bevölkerung als schuldig betrachten müsste. Man wälzt die Schuld auf Akteure außerhalb ab. Die jüdisch-deutsche Publizistin fasst den Komplex der Schuldabwehr wie folgt zusammen:

„Es scheint, dass die Deutschen uns Auschwitz nie verzeihen werden.Das ist ihre Krankheit, und sie verlangen verzweifelt nach Heilung. Aber sie wollen sie leicht und schmerzlos. Sie lehnen es ab, sich unters Messer zu legen, das heißt: sich der Vergangenheit und ihrem Anteil daran zu stellen“

Neben diesem Komplex musste auch die Staatsgründung Israels verarbeitet werden. Mit Unterstützung der Sowjetunion konnte im sogenannten Gründungskrieg Israel gegen den Widerstand sämtlicher umliegender arabischen Staaten und unter strikter Nichteinmischung der Briten (die zuvor das Gebiet verwaltet hatten) gegründet werden. Die Juden hatten jetzt einen eigenen Schutzraum, den sie verteidigen konnten. Nach Jahrhunderten, in denen man als Gruppe dem Wohlwollen der jeweiligen Länder und Gesellschaften ausgeliefert war, konnte man sich jetzt selbst verteidigen. Der rechte Antisemitismus antwortete darauf zweierlei. Entweder lehnte man den Staat Israel ab, da die Endlösung der Judenfrage damit nicht zu vereinbaren war. Oder man war für Israel und ganz besonders dafür, dass alle Juden nach Israel gehen. Man sah bzw. sieht Israel als Mittel zum Zweck an, ein judenfreies Deutschland oder Österreich zu bekommen. Damit schließt man an Ideen wie den Madagaskarplan an, bei dem die NS-Administration ins Auge gefasst hatte, alle Juden nach Madagaskar auszusiedeln.

Der zweite Weg war der des Antizionismus. Anstatt gegen jüdische Personen oder Gruppen zu hetzen, machte man jetzt stellvertretend gegen den Schutzraum der Juden mobil. Der Antisemitismus hat sich auf die geopolitische Situation nach 1948 eingestellt. Mit dieser Haltung sollte die radikale Rechte jedoch nicht allein bleiben, insbesondere nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 stimmte die radikale Linke international in den Antizionismus ein. Die Sowjetunion hatte zwischenzeitlich die Unterstützung Israels beendet, da man keinen realsozialistischen Satellitenstaat installieren konnte, und sich auf die Seite der arabischen Staaten gestellt. Dabei lässt sich bis heute eine teilweise Übernahme von Slogans und Inhalten beobachten. So marschiert die NPD mit „Nie wieder Israel!“-Sprechchören auf und Neonazis solidarisieren sich mit dem „Widerstand des palästinensischen Volkes“. Neben dem Antizionismus findet sich moderner Antisemitismus auch im Ressentiment gegen Einzelpersonen. War lange Zeit der inzwischen verstorbene Rockefeller Zier antisemitischen Hasses, hat inzwischen George Soros diesen Platz eingenommen. Martin Sellner, Führungskader der Identitären, schafft es zum Beispiel ein aufklärendes Video über die jüdische Weltverschwörung zu drehen, behauptet dann aber an anderer Stelle, Soros würde alle Häfen bezahlen das von der IB gecharterte Schiff während der katastrophalen Mittelmehraktion nicht einlaufen zu lassen. Auch AfD und FPÖ schießen mit antisemitischen Stereotypen gegen Soros, den Antisemitismus lässt sich die radikale Rechte eben nicht wegnehmen.

Die 68er bis heute

 

Wirklich Schwung in die rechtsradikale Bude brachte aber erst der soziale Umbruch, den man heute als 68er-Bewegung bezeichnet. Antiautoritäre Proteste wendeten sich gegen den saturierten Wohlstandskonservatismus der Nachkriegszeit und forderten eine Liberalisierung der Gesellschaft und Teilhabe aller an dieser ein. Hauptsächlich war dieser Umbruch ein linksliberaler mit Ausläufern in den Linksradikalismus, hinterließ aber auch in der Rechten bleibende Spuren. In Frankreich orientierte sich ein Alain Benoist an linken Theorien, insbesondere an Schriften Antonio Gramscis, verband diese mit dem Begriff des Politischen von Carl Schmitt und erarbeitete Konzepte wie das der Metapolitik (im linken Sprachgebrauch mit dem Bereich des Vorpolitischen vergleichbar). Auch Schriften wie das situationistische Manifest übten einen Einfluss, ebenso der Antikolonialismus. Hier konzentrierte man sich auf den Aspekt der Selbstbestimmung aller Völker, welche frei von Beeinflussung ihre als natürlich angesehenen Eigenarten ausleben sollten. 1973 führte Henning Eichfeld hier das Konzept des Ethnopluralismus ein, welches bis heute in abgewandelter Form großen Einfluss ausübt und zum Beispiel das politische Leitbild der Identitären ist.

Anstatt auf klassisch rechtsradikale Rassenlehre zu setzen war auf einmal von der Vielfalt der Völker die Rede, welche es zu bewahren gelte. Mit solchen Konzepten trug man auch dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung, der inzwischen festgestellt hat, dass es keine unterschiedlichen menschlichen Rassen gibt. Ebenfalls orientierte man sich immer stärker in eine kulturalistische Richtung um. Anstatt von Rassen und Genmaterial zu sprechen, stand nun die Kultur eines Volkes als verbindendes Merkmal ganz oben. Dabei kämpfte man vor allem gegen den (Kultur-)Bolschewismus, der vom Osten her die westliche Welt bedrohte, und gegen den Liberalismus, der die natürliche Ordnung der Völker von innen heraus bedrohe. Mit dem Ende der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland verloren auch die letzten rechten Regime die Macht und die bürgerliche Idee von 1789 schien endgültig gesiegt zu haben.

In der Bundesrepublik musste man sich auch zusehends mit den Realitäten der postnazistischen Welt anfreunden. An oberster Stelle standen kriegsrevisionistische Forderungen, die Teilung Deutschlands sollte beendet werden. Auch die Verluste der Ostgebiete akzeptierte man nicht und erkannte den Vertrag über die Oder-Neiße-Linie nicht an. Hier lag man auf Linie mit den Vertriebenenverbänden, welche eine Kontinuität rechtsradikaler Ansichten aus der Nazizeit in der Bundesrepublik hinein darstellen und als grundsätzlich CDU-nah einzuordnen waren. Als unterhaltsame Randnotiz sei hier auf Solidarisierungen maoistischer Gruppen mit den Vertriebenenverbänden in den 70ern verweisen, da man im Sowjetimperialismus einen gemeinsamen Feind hatte. Wie stark kriegsrevisionistische Ansichten in diesen Verbänden vertreten waren zeigen die Videos vom Schlesiertreff 1995, als der CDU-Gesandte Wolfgang Schäuble den Anwesenden mitteilt, dass man die Oder-Neiße-Linie akzeptieren müsse und die Realpolitik der letzten 50 Jahre nicht umdrehen kann.

Zeichen der Zeit

 

Ganz einfach: rechtsradikale Ideologien ändern sich. Schon 1930 waren die Ansichten radikalen Rechten nicht identisch mit denen von 1830. Genauso wenig müssen heutige Rechtsradikale exakt das Gleiche wie 1930 sagen, um rechtsradikal zu sein. Es ist ein gefährlicher Trugschluss anzunehmen, dass sich diese Ideologien nicht aktualisieren. Bestimmte zentrale Punkte mögen sich nicht oder nur marginal ändern, andere müssen sich aber notgedrungen aktuellen Gegebenheiten anpassen. Nehmen wir zum Beispiel den Versuch der Historifizierung des Nationalsozialismus, in dem man sagt, ein Bernd Höcke könne keine Nazi sein, da er keinen Lebensraum im Osten fordert. Dies war unbestritten eine zentrale Forderung der Nazis seinerzeit. Nur ist es heute schlichtweg unrealistisch, dass Deutschland in einem Angriffskrieg gegen Polen, Ukraine, Weißrussland, Tschechien, Slowakei und Russland auch nur den Hauch einer Chance auf einen Sieg hätte. In den 20er-Jahren konnte man das zumindest halbwegs als realisierbar ansehen, hatte das Deutsche Reich ja noch Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien und nur das semistabile Regime in Polen und die Sowjetunion als Gegner*innen im Osten wobei letztere auf keinerlei Unterstützung anderer europäischer Staaten hoffen konnte. Eine Forderung nach Lebensraum im Osten ist daher indiskutabel. Forderungen von vor 90 Jahren können offensichtlich nicht eins zu eins heute aufgestellt werden. Viel mehr sollte man sich anschauen wie sich eine nationalsozialistische Ideologie unter heutigen realpolitischen Umständen präsentieren würde und dies dann mit dem Auftreten eines Höcke vergleichen.

Auch in Sachen Patriarchat sind rechtsradikalen Ansichten gewisse gesellschaftliche Grenzen gesetzt. Die Frauenemanzipation der letzten 100 Jahre hat die Gesellschaft radikal geändert. Wollte man die Uhren jetzt wieder zurückdrehen steht vor dem riesigen Problem, dass der Kapitalismus sich inzwischen auf Frauen am Arbeitsmarkt eingestellt hat. Insgesamt gibt es heute in der BRD genauso viele zu leistende Arbeitsstunden wie in den 60ern. Nur sind inzwischen viel mehr Personen auf dem Arbeitsmarkt, was einen Anstieg billiger Arbeitskräfte im Prekär- und Teilzeitbereich bewirkt hat. Will man jetzt die Frauen wieder aus dem Arbeitsmarkt rausdrängen, müsste man einerseits fehlende Arbeitskräfte kompensieren, auf die die Industrie eingestellt ist. Und andererseits müsste man auch das Lohngefüge derart umgestalten, dass es wieder flächendeckend Einversorgerhaushalte geben kann. All dies ist mit Unsummen an finanziellem Aufwand verbunden und entsprechende Bemühungen dürften auch in der Wirtschaft nicht auf viel Gegenliebe stoßen, da diese höhere Löhne zahlen müsste. Die Emanzipation der Frauen lässt sich also nicht einfach wieder vollständig umkehren und auf den Stand von 1913 zurücksetzen.

Herbert Kickl, der Bonapartismus und was passiert wenn Rechtsradikale in bürgerliche Ämter kommen

„Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat, und nicht die Politik dem Recht.“ – Herbert Kickl, österreichischer Innenminister, in der Sendung „Report“ vom ORF2 am 22.01.2019

Seit etwas mehr als einem Jahr ist die schwarz-blaue Regierung in Österreich an der Macht. Die unter Sebastian Kurz wieder stärker dem klassischen Konservatismus zugewandte ÖVP ist eine Koalition mit der rechtsradikalen FPÖ eingegangen und hat den ehemaligen Neonazi Strache zum Vizekanzler gemacht. Innenminister wurde der FPÖ-Politiker Herbert Kickl. Dieser hat sich jetzt in einer Sendung des ORF2 mit dem hier wiedergegebenen Zitat zu seiner politischen Einstellung geäußert. Insgesamt gibt es zwei Interviewsegmente mit ihm, das Zitat fiel im zweiten. Es lohnt sich beide anzuschauen und zu analysieren, wie Kickl agiert und was er genau sagt.

Im ersten Interviewteil fällt auf, dass er völlig ohne Not auf die Dissertation des Wiener Bürgermeisters und Landeshauptmanns Michael Ludwig von der SPÖ zu sprechen kommt. Diese stammt aus dem Jahr 1992 und behandelt die Staatspartei der DDR, die SED. Warum er das tut ist offenkundig: Er will Ludwig als Kommunisten darstellen und alte antikommunistische Ressentiments gegen ihn Stellung bringen. Dies funktioniert auch in Österreich immer noch hervorragend, besser gar als in Deutschland. Man könnte in gleicher Weise auf Strache zu sprechen kommen, der sich zu diesem Zeitpunkt auch immer noch in offen neonazistischen Kreisen bewegte und nur ein paar Jahre zuvor an Wehrsportübungen teilnahm. Aber das würde ein Kickl als unlauteres Argument bezeichnen.

Neben diesem offenen Antikommunismus ist aber insbesondere Kicks Verständnis von Politik interessant. Es nicht unbedingt überraschend, ist Kickl doch ein Rechtsradikaler. Es ist deshalb interessant, weil es einen Blick auf offene rechtsradikale Rhetorik in einer Machtposition eines bürgerlichen Rechtsstaats wirft – und mit welchem Anspruch Rechtsradikale diesen umbauen wollen. An mehreren Stellen weist Kickl darauf hin, dass er ja nur den Willen der Bevölkerung umsetzen würde oder dessen Ängste ernst nähme. So zum Beispiel bei der Erhöhung der Polizeistellen. Er macht ein vermeintliches erhöhtes Sicherheitsbedürfnis aus, welchem man damit Rechnung trage. Ähnlich argumentiert er bei geplanten Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Es sei des Volkes Wille. Woher das ausgemachte Unsicherheitsgefühl kommt, ob es einen realen Kriminalitätsanstieg gibt und ob neue Regelungen und Polizeikräfte überhaupt notwendig sind, interessieren ihn nicht.

Ganz offensichtlich wird sein unverhohlener Machtanspruch dann in dem hervorgehobenen Zitat. Und Kickl hat in gewisser Weise auch recht. Das Recht folgt politischen Grundsatzentscheidungen über die Ausrichtung des Staats- und Gesellschaftssystems. Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die DDR und die BRD sind alles Rechtsstaaten – nur eben mit unterschiedlichen Rechtssystemen. Und dieses sieht in einer semiabsolutistischen Monarchie anders aus als in einer bürgerlichen Demokratie oder in einem NS-Staat.

Kickl hat jetzt die Sonderrolle als rechtsradikaler Politiker das Amt des Innenministers eines bürgerlichen Staates inne zu haben. Und er interessiert sich nicht für bürgerliche Rechtsnormen. Stattdessen setzt auf die bonarpatistische Karte, auf einen Protofaschismus, der sich populistischer Mittel bedient, um die Autokratie oder Diktatur per Zustimmungswerten direkt von der Bevölkerung bestätigen zu lassen, ohne das dieses ein Mitsprache- oder freies Wahlrecht hätte. Dieses protofaschistische System wurde unter Louis Bonaparte, besser bekannt als Napeleon III, praktiziert und durch Marx und Engels beschrieben. Und den Grundsätzen genau diesem Systems folgt Kickl. Moderner Bonapartismus ist nicht vollständig deckungsgleich mit dem Original, immerhin müssen den politischen Ereignisse der letzten 150 Rechnung getragen werden.

Und Kickl tut dann eben das, was ein Rechtsradikaler so tut. Er gibt ganz offen zu sich nicht an das bürgerliche Recht halten zu wollen. Stattdessen soll das Recht seiner rechtsradikalen Ideologie folgen, die Legitimation dafür zieht er aus dem ausgemachten Volkswillen. Wie die Volksabstimmung zum Rauchverbot in Gaststätten zeigt, ist die FPÖ aber nur gewillt dies zu tun, solange es nicht gegen die eigenen Wünsche und Vorstellungen geht. Was Kickl angeht so ist er schonungslos offen. Wenn man ein wenig Ahnung von politischer Theorie hat und genau zuhört, was er sagt, dann liegt die antibürgerliche Agenda offen da. Er sagt ja wortwörtlich, dass ihn bürgerliches Recht nicht interessiert. Er ist ja auch kein bürgerlicher Politiker.

Hier zeigt sich wieder einmal deutlich, auf welche Weise man Rechtsradikale bekämpfen muss. Man darf ihnen keinerlei Möglichkeit zum Ausleben und zum Handeln getreu ihrer Ideologie geben. Und man muss sie daran mit allen notwendigen und angebrachten Mitteln hindern. Kommen sie sogar in Machtpositionen, werden sie diese auch dazu nutzen ihre Ideologie umzusetzen. Rechtsradikale haben keine Kompromissfähigkeit, sie lehnen den bürgerlichen Staat ab und werden ihn zerstören, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt.

Die Gewaltfrage

Eigentlich ist es müßig, über den Fall Magnitz so ausgiebig zu berichten. Der Tatablauf ist inzwischen geklärt, es handelte sich um einen Ellenbogenschlag von hinten. Sämtliche Ausschmückungen von Seiten der AfD wie Kantholz, Tritte am Boden und die heldenhafte Rettung sind Lügen. Die schweren Kopfverletzungen waren eine Folge des Sturzes und vermutlich nicht direkt intendiert – ein Risiko, welches grundsätzlich bei jedem Kampf besteht und wessen man sich immer bewusst sein muss. Das Video wurde inzwischen veröffentlicht und es dürften sich mehr oder weniger alle angesehen haben. Über die Medien wurden beim Bekanntwerden die zu dem Zeitpunkt nicht nachprüfbaren Lügen von AfD-Chef Meuthen relativ weit verbreitet, dabei weiß man eigentlich, dass man Eigendarstellungen dieser Partei keinen Glauben schenken darf. Da halfen dann auch kurze Zeit später veröffentlichte Zweifel nichts mehr, die Medienstrategie der AfD war aufgegangen. Und diese Medienstrategie wurde inzwischen auch schon mit internen AfD-Papieren an die Presse durchgestochen. Man kann direkt nachlesen wie so etwas aufgebaut und durchgezogen wird.

Warum also doch noch mal eine längere Ausarbeitung? Weil es eine gute Gelegenheit ist, sich einmal ausführlich mit der Gewaltfrage zu beschäftigen. Diese ist komplex und Antworten darauf fallen individuell aus. Obwohl der Hintergrund der Tat immer noch ungeklärt ist, spricht sehr viel für einen linken Hintergrund. Es ist sogar völlig irrelevant. wer es konkret war, da in der allgemeinen Diskussionen davon ausgegangen wird, dass es Linke waren. Daher liegt dem vorliegenden Text diese Annahme zugrunde. Wichtig ist, dass es sich hierbei um eine allgemeine und theoretische Betrachtung des Komplexes „Politik und Gewalt“ handelt.

Macht und Durchsetzung von Interessen

 

Die Frage der Gewalt ist eine sehr grundlegende und sie greift elementare Fragestellungen zu Staats- und Rechtskonzeptionen auf. Denn Gewalt wird täglich von Menschen an Menschen ausgeübt, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Dies kann im kleinen, individuellen Rahmen geschehen, aber auch auf staatlicher Ebene. Es heißt nicht umsonst „Staatsgewalt“. Jeder Staat, jedes Land hat eine ideologische Ausrichtung, welche sie in Form von Gesetzen (oder gleichwertigen Vorschriften) in Rechtsform ausarbeitet und so die politischen Grundlagen festlegt, welche zudem sehr oft in einer Verfassung festgeschrieben sind. In Deutschland leben wir zum Beispiel in einer föderalistischen, repräsentativen Demokratie bürgerlicher Prägung. In Russland oder der Türkei hat man autokratische Systeme, in Saudi-Arabien ein monarchistisches. Gesetze und Vorschriften werden aber nicht einfach so aus heiterem Himmel und der inneren Einsicht befolgt, dass sie notwendig und sinnvoll sind. Damit die Bürger*innen sich an das gewünschte Staats- und Gesellschaftsmodell halten, setzen alle Staaten auf eine realistische Drohkulisse, um das staatliche Interesse nach innen durchzusetzen. Diese Drohkulisse kann man als Staatsmacht bezeichnen, da sie im gewünschten Fall den Herrschenden ausreicht, um alle Menschen zum Gehorsam zu bringen. Droht ein Machtverlust, wird zur Gewalt als Durchsetzungsinstrument gegriffen.

Dazu gibt es einerseits die Polizeibehörden und Militär, andererseits juristische Verfolgung von Gesetzesverstößen. Befolgt man die Gesetze und agiert freiwillig innerhalb des gewünschten Rahmens, fallen die Kontakte mit dem unmittelbarem Zwang in der Regel eher bescheiden aus. Tut man dies nicht, bekommt man die staatliche Gewalt relativ schnell zu spüren. Auch bürgerliche Staaten setzen massiv auf Gewalt zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung. Man werfe nur mal einen Blick auf die Proteste der Gilet Jaunes in Frankreich, insbesondere auf den massiven Polizeieinsatz. Hier versucht der Staat durch unmittelbaren Zwang unliebsame Bürger*innen wieder auf Reihe, also in den gewünschten Handlungsrahmen, zu bringen. Einen Machtverlust kann man sich nicht erlauben, daher bekämpft man diesen mit Waffengewalt. Die stete Verschärfung der Polizeigesetze und die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse in Deutschland sind auch nichts anderes als eine Verschärfung der Drohkulisse gegenüber unerwünschtem Handeln. Es gilt das staatliche Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten und durchzusetzen.

Wer also behauptet, Gewalt sei immer schlecht, gleichzeitig aber das aktuelle Staatssystem allgemein befürwortet, lügt schlichtweg. Auch Staaten wie Österreich oder die Schweiz sind nicht gewaltfrei. Polizei und Judikative basieren auf Gewalt- und Machtausübung. Erst einmal nur indirekter, im Falle von Machtverlust oder Zuwiderhandelns außerhalb des genehmen Rahmens auch ganz direkt. Die USA haben zum Beispiel über Jahrzehnte eine Art Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegung geführt, dieser kostete tausende Menschen das Leben.

Recht wird gemacht

 

In Diskussionen über Gewaltanwendung und politische Auseinandersetzungen wird oft mit dem Recht argumentiert. Recht meint hier die aktuellen Gesetze und Verordnungen. Dabei wird oft so getan, als ob diese wie von selbst auf natürliche Art und Weise entstanden wären und überhaupt nicht hinterfragt werden müssten. Doch auch die aktuelle Gesetzeslage ist nur der formalisierte Ausdruck bestimmter Normen und Ansichten, die sich im Laufe der Zeit durchsetzen oder an Bedeutung verlieren. Legt man andere Grundprämissen an, ergeben sich völlig andere Rechtssysteme. Im Grundgesetz der BRD ist zum Beispiel der Schutz des Privateigentums festgeschrieben, im Artikel 15GG kann man das nachlesen. Würde man jetzt aber eine Unterscheidung zwischen persönlichem Eigentum (also dem Eigentum, welches Privatpersonen zum Leben nutzen) und Privateigentum (dem Eigentum, mit dem in Form von Unternehmen etc. auf kapitalistische Weise Geld erwirtschaftet wird) treffen und das Privateigentum nur bis zu einer bestimmten Größe schützen, hätte man eine völlig andere Rechtspraxis. Genauso wie man Unternehmen heute bestimmte Rechtsformen vorschreibt (GmbH, KG, AG usw.), könnte man dies auch mit unterschiedliche kollektiven Organisationsformen tun. Mit den Rechtsmitteln des bürgerlichen Staates könnte man auch eine anarchistische/sozialistische/kommunistische Wirtschaftsweise als Rahmen vorgeben.

Warum wird das nicht getan? Weil die momentan durchgesetzte und im überwiegenden Teil auch akzeptierte Wirtschaftsweise kapitalistisch ist. Aus der gemeinhin als natürlich angesehenen Lohnarbeit heraus entfaltet sich eine komplexe Wirtschaftsweise, die in den Gesetzen der Staaten ihren formalen Ausdruck findet. Durchgesetzt wird diese unter anderem wieder mit der Drohkulisse der Staatsgewalt, die eben die Einhaltung der Gesetze bezweckt. Auf diese Art könnte man jetzt aber auch gegen rechtsradikale Aktivitäten vorgehen, indem man den rechtlichen Rahmen auf ein antifaschistisches Grundprinzip stellt. Man hat ja zum Beispiel dem Paragraphen 175 über 100 Jahre lang homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und verfolgt. Erst 1973 wurde er grundlegend geändert und dann schlussendlich 1994 abgeschafft. Auch in der Weimarer Republik standen homosexuelle Handlungen unter Strafe. Warum? Es gab keine politische und gesellschaftliche Mehrheit dafür, diesen Artikel zu streichen. Erst der politische Wandel im Zuge 68er, welcher die BRD überhaupt erst zu einer liberalen Gesellschaft werden lassen sollte, schaffte die notwendige Mehrheit.

Ähnlich könnte es sich theoretisch auch mit rechtsradikalen Handlungen verhalten. Man legt einen bestimmten Katalog fest, anhand dessen man rechtlich gegen Rechtsradikale vorgehen könnte. Dazu würde ein Verbot bestimmter Publikationen gehören, ebenso wie ein allgemeines Demonstrations-, Organisations- und Konzertverbot für bestimmte Personen. Selbst mit den Mitteln des bürgerlichen Rechtsstaats könnte man jegliche öffentlichen rechtsradikalen Betätigungen strafrechtlich verfolgen. Dazu bräuchte man a) die Macht, um dies durchzusetzen und b) eine auf leicht angepassten Kriterien fußende Gesetzesgebung. Wie sieht diese Macht, es durchzusetzen, aber aus? Einerseits kann dies den staatlichen Machtapparat mit beanspruchtem Gewaltmonopol meinen, also die autoritäre Variante der herrschenden Klasse oder Gruppe, die ihr Interesse durchsetzt. Andererseits kann dies aber auch einen Konsens sehr großer Teile der Bevölkerung meinen, welcher sich dann im klassisch republikanischen Sinne nach Rousseau in der Gesetzesgebung widerspiegelt und somit ein schichtübergreifender Konsens der Bevölkerungsmehrheit zu einem gesamtgesellschaftlichen Antifaschismus anderer Art als momentan ist.

Gewaltfreiheit ist eine Illusion

 

Wer an dem aktuellen System grundlegende Dinge ändern will, kommt nicht umhin, die aktuelle Staatsgewalt zu verstehen und in Frage zu stellen. Letzteres geht nicht ohne eine glaubhafte Gegenmacht. Die bürgerliche Ordnung wird sich nicht von alleine in eine anarchistische oder sozialistische umwandeln. Dafür gibt es einige Möglichkeiten. So könnte man versuchen, einen so großen Teil der Bevölkerung für die eigenen Ziele zu gewinnen, dass dem aktuellen System die Handlungsbasis entschieden entzogen wird. Man kann sich auch in einem Staatsstreich versuchen, den Staatsapparat übernehmen und nach den eigenen Wünschen umgestalten – während man sich der Reaktion erwehren muss und darauf hofft, dass ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung mitzieht und nicht Folgschaft wie in Option 1 verweigert. Weitere Optionen sind zum Beispiel der Bürgerkrieg oder das Setzen auf Wahlen, um mit großer Mehrheit den Systemwechsel zu versuchen. Alle Optionen sind aber darauf angewiesen, dass man für ihr Gelingen eine ausreichende Wirkmacht über einen ausreichend langen Zeitraum hinter sich weiß, um das neue System zu festigen und stabilisieren.

Man kann sich nicht auf dumme, pazifistische Art zur Gewaltlosigkeit bekennen und hoffen, es würde sich durch magische Hand grundlegend etwas ändern. Wer ernsthaft an der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse interessiert ist, muss sich mit der Frage von Macht, Gewalt und Autorität rational beschäftigen. Eine Diktatur wie im Iran kann man nicht friedlich durch rationale Argumente auf dem Marktplatz der Ideen und erfolgter Einsicht bei den Mullahs abschaffen. Während des spanischen Bürgerkrieges waren auch Anarchist*innen keine Kinder von Trauer und haben aus der Erforderlichkeit der Umstände heraus Gewalt angewendet – und das nicht nur an der Front. Selbst die bürgerliche Gesellschaft baut historisch massiv auf Gewalt auf. Nach der Französischen Revolution wurde etliche Leute enteignet und viele einen Kopf kürzer gemacht. Mit dem Kolonialismus hat man teilweise brutale Unterdrückungsregime in fremden Ländern aufgezogen und Millionen Menschen unterdrückt, versklavt, umgebracht. Davon will man heute nichts mehr wissen, aber die heutige Demokratie steht auf einem blutigen Fundament. Gewaltfreie Realpolitik ist eine Illusion, denn immer geht es um die Durchsetzung von Interessen und die Abwehr möglicher Gewalt gegen einen selbst.

Neben der typisch deutschen Obrigkeitshörigkeit gehört vor allem das Mantra „Gewalt ist immer schlecht“ zu den effektivsten Mitteln, die das aktuelle System stützen. Da man jede Art von Gewalt abzulehnen meint und entsprechende Handlungen immer verurteilt (während man die staatliche Seite dabei immer großzügig übersieht), kann man das System als solches nicht ernsthaft in Frage stellen. Die Predigt der Gewaltfreiheit stützt automatisch die aktuellen Zustände und ist eine zutiefst bürgerliche Angelegenheit. Und man schützt damit nicht nur den bürgerlichen Staat, man schützt auch Faschos und Islamist*innen, deren Ideologie man nicht versteht und dann oftmals ratlos mit einem „Wie konnte das denn nur passieren?“ Anschläge oder Gewaltakte kommentiert, hilflos und ohne ein Mittel der Gegenwehr.

Gewalt als Teil von Ideologien

 

Neben der als notwendig angesehen staatlichen Gewalt zeichnen sich rechtsradikale Ideologien wie Faschismus, Nationalsozialismus, Islamismus und dergleichen elementar durch Gewaltanwendung nach innen und nach außen aus. Eine friedliche Gesellschaftsform ist nicht vorgesehen, Gegner*innen müssen vernichtet und vollständig ausgelöscht werden. Nicht nur ideologisch, auch physisch. Bei sozialdarwinistischen Ansätzen werden als schwach oder degeneriert angesehene Teile der Bevölkerung oder des Volkes an der Fortpflanzung gehindert (durch Sterilisation) oder gleich ermordet. Ungläubige müssen sterben, Frauen werden versklavt, Juden vergast, der männliche Kampf als alltägliches Ritual der Gesellschaft gepflegt. Gibt man den Anhänger*innen dieser Ideologien die Möglichkeit, so werden sie immer und ohne jeden Zweifel Gewalt gegen die von ihnen als feindlich oder unwert angesehenen Gruppen ausüben.

Dieses elementare Merkmal der aktiven Gewaltausübung bei rechtsradikalen Ideologien ist es, was so oft verkannt wird. Man will nicht wahrhaben, dass Menschen einfach so auf Gewalt setzen. Dass sie tatsächlich Massenvernichtung wollen. Man meint, dass man mit Argumenten und Logik dagegen ankäme. Bei einigen Personen mag das der Fall sein, aber bei vielen funktioniert das so nicht. Insbesondere dann nicht, wenn man eine große Gruppe vor sich hat. Mögliche Ansatzpunkte und Taktiken auf der Mikroebene müssen auf der Makroebene noch lange nicht funktionieren. Sprich: Nur weil du eine einzelne Person mit bestimmten Argumenten über einen längeren Zeitraum möglicherweise von einer faschistischen Ideologie abgebracht hast, funktioniert die gleiche Vorgehensweise mit den gleichen Argumenten noch lange nicht bei einer Gruppe wie zum Beispiel der NPD. Und schon steht man hilflos einer großen Gruppe von Personen gegenüber, auf die man keine Antwort findet. Gewaltlosigkeit gegenüber inhärent gewalttätigen Gruppen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

 

Gewalt als Mittel

 

Aus diesem Grund setzt Antifaschismus darauf, den Preis für die Ausübung rechtsradikaler Ideologie so hoch zu setzen, dass entsprechende Personen keine Lust auf die Konsequenzen haben. Dies kann, und hier ist das kann wirklich entscheidend, Dinge wie Hausbesuche, abgefackelte Autos oder direkte körperliche Gewalt beinhalten. Dies muss es aber nicht. Die antifaschistische Praxis der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass Gewalt EIN Mittel, nicht DAS Mittel des Antifaschismus ist. Und sie ist ein Mittel, welches gut überlegt eingesetzt werden will. Städte wie Leipzig, Göttingen oder Frankfurt zeigen ganz anschaulich, was eine militante Antifa über Jahrzehnte hinweg zu leisten im Stande ist. Insbesondere Teile von Leipzig und Göttingen wurden wortwörtlich freigeprügelt und im Straßenkampf gegen Nazis verteidigt. Davon profitieren heute alle, die in den entsprechenden Gebieten wohnen. Die auch immer wieder aufgestellte Behauptung, dass Gewalt noch nie etwas gebracht hätte, blamiert sich an der Realität dieser Städte. Viele wollen dies nicht wahrhaben, offenbaren damit aber nur ihre voreingenommene Haltung, die keine rationale Diskussion über das Thema zulässt.

Ebenso wenig will man wahrhaben, dass auch die BRD als Staat auf massiver Gewaltanwendung fußt. Die BRD gibt es nur, weil der Vernichtungskrieg der Nazis mit Millionen Toten durch die Alliierten gestoppt wurde und man anschließend nach zwei Weltkriegen die Schnauze voll hatte und Deutschland komplett besetzte. Den bürgerlichen Demokratieversuch der Weimarer Republik (wie auch immer man da jetzt im Detail zu stehen mag) hatte man ja eigenständig gegen eine rassenideologischen Vernichtungsdiktatur getauscht, die Demokratie wurde der (west)deutschen Bevölkerung anschließend mit wirkungsvollen Drohkulisse der Besetzungsarmeen aufgezwungen. Freiwillig ist man nicht zur Demokratie gekommen. Wer die heutige BRD als Staat grundsätzlich befürwortet, befürwortet damit auch den von außen erfolgten Zwang zur Demokratie in den westlichen Bundesländern.

Wichtig ist dabei, dass man Gewalt nicht als Selbstzweck ansieht. Die autonome Szene der 80er hatte sich teilweise in einen inhaltsleeren Riotlifestyle entwickelt, bei dem es nur um das Erleben des Riots ging. Gewalt sollte aber eine hohe Schwelle haben – und hat sie auch in den meisten Fällen. Der größte Teil der antifaschistischen Arbeit besteht aus Recherche, Aufklärungs- und Theoriearbeit, Stickerrunden in der Umgebung und ab und an mal Demos sowie inzwischen wieder verstärkt Hausbesetzungen. Alles Dinge, die mit wenig bis gar keinem Körperkontakt mit den Gegner*innen verbunden sind, sieht man mal von Demos ab. Manchmal gibt es aber Situationen, in denen für die Aktivist*innen entweder der gewaltfreie Aufwand in keinem vertretbaren Verhältnis zur gewaltvollen Methode besteht, um ein Ziel zu erreichen – oder gibt schlichtweg keine pazifistische Methode. Will man solche Situationen von außen bewerten, muss man einen praktischen Ansatz entwickelt haben und darf nicht moralinsäuernd vom hohen Ross herunter jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit einem „Gewalt ist immer scheiße!“ abwürgen.

 

Kampf um Macht und Dominanz

 

Nicht nur zwischen Staaten, auch innerhalb einzelner Länder und Gesellschaften, geht es um den Kampf um Macht. Dabei ist es ein (populärer) Trugschluss, anzunehmen, es gäbe DIE eine Gesellschaft. Damit ist nicht die aktuelle Gesellschaftsform bürgerlich-kapitalistisch gemeint. Diesen Rahmen und entsprechende Charakteristika gibt es, wir sind ihnen auch allen unterworfen. Gemeint ist hier jedoch eine kollektive Zusammenfassung der Art „das deutsche Volk“ oder „die deutsche Bevölkerung“. Hier gibt es kein homogenes Kollektiv. Vielmehr besteht die Gesellschaft aus unzähligen Einzelgruppierungen, die sich alle durch unterschiedliche Merkmale konstituieren und denen man auch nicht mehr wie im Feudalismus mehr oder weniger exklusiv angehört. Wir alle sind Teil sehr vieler gesellschaftlicher Gruppen. Und jede dieser gesellschaftlichen Gruppen hat eigene Interessen.

Bei solchen Gruppen ist als erstes entscheidend, ob sie sich überhaupt als eine solche begreifen. Eine Gruppe muss erkennen, dass sie überhaupt eine Gruppe darstellt. Marx und Engels haben dies in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Analyse für das Proletariat folgendermaßen ausgedrückt: Das Proletariat muss von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Es muss also erkennen, dass es als verbindendes Merkmal die Stellung im Produktionsprozess hat – und dann möglichst geschlossen für die eigenen Interessen eintreten, sprich Revolution und Produktionsmittel aneignen. Ähnlich haben es auch die Bürgerlichen in Frankreich auf dem Weg zu und während der Französischen Revolution gehandhabt. Genauso kann man für jede gesellschaftliche Gruppe argumentieren, seien es nun Gamer, Straßenfeger*innen oder Maultrommelfans. Wenn sich diese Gruppen dann einmal in einem Interessensverband organisieren und Forderungen stellen, treten sie in Konkurrenz zu anderen Gruppen. Und wie bekommt man jetzt Forderungen umgesetzt? Durch das Aufbauen von Macht und einer glaubhaften Drohkulisse. Und hier unterscheiden sich politische Gruppen erst einmal gar nicht so sehr von anderen sozialen Gruppen, zumal sämtliche zu stellenden Forderungen dann doch wieder in den Bereich des Politischen fallen.

Eine Gruppierung wie die AfD hat ganz klar und offen den Anspruch formuliert, die Macht in Deutschland zu übernehmen. Bei der AfD selbst handelt es sich um eine Sammelpartei, die alle relevanten rechtsradikalen Strömungen der aktuellen Zeit in sich vereint. Diese kämpfen auch innerhalb der AfD um Deutungshoheit. Man ist sich aber in einem sicher: Das Land muss wieder nationalistisch werden. Wie genau und wie radikal, führt immer wieder zu Streitigkeiten und Parteiaustritten, zuletzt von André Poggenburg. Weite Teile der AfD sind klar als rechtsradikal zu bezeichnen. Viele sind faschistisch, viele sind völkisch, einige sind neonnazistisch. Gewalt ist ein elementarer Bestandteil dieser Ideologien, wie genau sie jeweils im Detail ausgeprägt ist, ist hier nicht entscheidend. Um ihre gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, muss die AfD also einerseits Macht bekommen, andererseits eine glaubhafte Drohkulisse aufbauen, um ihre Vorstellungen gegen den zu erwartenden Widerstand durchzusetzen. Je größer dieser ausfällt, desto unwahrscheinlicher ist eine erfolgreiche Machtübernahme.

Wie bei allen anderen rechtsradikalen Gruppierungen auch gilt hier, dass Rechtsradikale in dem Maße zur Gewaltausübung übergehen, wie sie durch andere gesellschaftliche Gruppen nicht mit wie auch immer spürbaren Konsequenzen daran gehindert werden. Ein Blick nach Italien zeigt dies aktuell ganz gut. Mit Salvini haben wir eine Person im Amt des Innenministers, den man durchaus als Faschisten bezeichnen kann. Er zeichnet sich durch Stimmungsmache und aktive Politik gegen Sinti und Roma, Geflüchtete und Homosexuelle aus. Im selben Maße verharmlost er Gewalt gegen diese Gruppen, welche wenig überraschend seit Amtsantritt stark zunimmt. Mit der Rückendeckung politischer Amtsträger fühlen sich immer mehr Rechtsradikale darin bestärkt, endlich ihre Gewaltideologie auszuleben. Bei der AfD wird es sich ähnlich verhalten und bei Faschos hat es sich auch immer so gezeigt. Setzen andere gesellschaftliche Gruppen keine spürbaren Konsequenzen für rechtsradikale Betätigung durch, werden solche Gruppen sich solange gesellschaftliche Räume greifen, wie sie es können. Ein konsequenter Antifaschismus versucht also nicht, Rechtsradikale nicht stärker als xyz werden zu lassen. Konsequenter Antifaschismus versucht, Rechtsradikalen jeden möglichen Raum und jede Möglichkeit der Betätigung zu nehmen. Nur so kann man langfristig effektiv vorgehen.

Gewalt gegen Rechtsradikale

 

In der BRD hat man dies in den 90ern mit fatalen Folgen nicht begriffen. Man stellte Nazis mit Jugendclubs und Nichteinmischung wichtige Treffpunkte und Infrastruktur, der VS päppelte mittels Bezahlung von V-Leuten die rechte Szene mit großen Geldsummen auf. Der verständnisvolle Umgang mit Nazis, die man als unverstandene Jugendliche oder dergleichen in Schutz nahm, die ja eigentlich gute Menschen seien, führte zu den fast 200 Toten bis heute, die durch rechte Gewalt seit 1990 gestorben sind. Staat und Zivilgesellschaft versagten, viele Fälle wurden erst gar nicht als rechte Gewalt anerkannt und mussten nachträglich durch Privatpersonen recherchiert und eingeordnet werden. Was tatsächlich geholfen hat, war direkte antifaschistische Gegenwehr. Wenn man als Nazi in bestimmten Ecken regelmäßig aufs Maul bekommt, dann sucht man diese nicht mehr auf. Und alle dort Wohnenden sind sicherer.

Neben den militanten Methoden, welche in der Regel illegal sind und zu Geld- sowie Haftstrafen führen können, gibt es auch sogenannte zivilgesellschaftliche Methoden. Diese sind immer legal, sie nicht militant und sie halten sich darüber hinaus in der Regel an einen gesellschaftlich akzeptierten Rahmen. In der öffentlichen Diskussion versucht man diese Mittel möglichst scharf von dem Aktivismus militanter Personen abzugrenzen, dabei sind eigentlich eine Ergänzung zueinander und bedingen sich in gewissen Maße. Militante Methoden kommen nämlich erst dann zum Einsatz, wenn andere Methoden viel zu aufwändig wären oder es zu wenig nicht-militante Aktivitäten gegen Rechtsradikale gibt. Würde, wie im Abschnitt über das Recht angesprochen, die Gesetzgebung konsequent alle rechtsradikalen Aktionen unter Strafe stellen und dies auch durchsetzen, dann wäre ein militanter Aktivismus gar nicht notwendig. Wenn die Polizei jedes Mal gegen Faschos wie in dem legendären Video aus Luxemburg im Jahr 1994 vorgehen würde, gäbe es keine öffentlichen Faschoversammlungen mehr. Wäre der übergreifende Konsens der, dass man Faschos keinen öffentlichen Raum zugesteht und sie jederzeit an ihren Aktivitäten hindert, dann könnten sie auch kaum öffentliche Aktivitäten durchführen. Es hat schon seinen Grund, warum in Hamburg oder Frankfurt/Main sehr selten rechte Demos stattfinden und wenn dann auch nicht lange durchhalten.

Dies passiert aber insgesamt viel zu selten, Rechtsradikale werden in Teilen durch die aktuelle Rechtssituation geschützt (Demonstrationsrecht, Pressefreiheit etc). Außerdem gibt es den übergreifenden Konsens zur nichtmilitanten Bekämpfung Rechtsradikaler nicht in dem Maße, wie er notwendig wäre. Zivilgesellschaftliche Initiativen gibt es je nach Region zu wenige und/oder sie haben zu wenig Einfluss, um ernsthaft was zu bewirken. Und je schwächer sowohl Staat als auch Zivilgesellschaft gegen Rechtsradikale vorgehen, umso stärker ist Bedarf an militantem Antifaschismus. Wenn also Leute nach friedlichen Methoden schreien, dann muss ihnen klar sein, dass diese, um langfristig wirksam gegen Rechtsradikale und gegen rechtsradikales Gedankengut zu sein, eine große Anzahl an beteiligten Personen brauchen. Wenn ein Nazi nicht im privaten und beruflichen Leben mitbekommt, dass er wegen seiner Nazimeinung unerwünscht ist und deshalb konsequent von anderen Personen gemieden wird, dann besteht doch kein Grund für ihn, seine Haltung zu ändern. Von alleine passiert das in der Regel nicht. Sind die nichtmilitanten Mittel also nicht ausreichend, dann bedingen sie die Notwendigkeit militanter Mittel.

Der feine Unterschied

 

Elementar in der Diskussion um die Form des Aktivismus gegen Rechtsradikale ist die Motivation beziehungsweise die Begründung der Handlungen. Wie bereits herausgearbeitet, ist die Behauptung, dass jede Gewalt scheiße ist, eine auf Unwissen und Nichtverständnis beruhende Falschaussage. Ein weiterer Klassiker in dieser Kategorie ist: „Linke und rechte Gewalt sind scheiße und ja auch irgendwie das Gleiche.“ Variationen davon bekommt man zuhauf zu hören. Dabei ist auch diese Aussage im Kern falsch, denn antifaschistische Gewalt (um die es als Unterform linker Gewalt im Fall Magnitz aller Wahrscheinlichkeit nach geht) basiert auf völlig anderen Vorraussetzungen und folgt einer komplett anderen Logik als rechtsradikale Gewalt.

Gewalt, die von Rechtsradikalen ausgeübt wird, trifft einerseits die politischen Gegner*innen. Dies sind vorrangig Linke, da diese den härtesten Widerstand leisten. Diese Form rechter Gewalt ist somit mit antifaschistischer Gewalt zu vergleichen. Aber auch wirklich nur diese. Denn Rechtsradikale Gewalt richtet sich auch gegen Personen, die aufgrund von Geburtsmerkmalen in eine Gruppe fallen, die nach Logik der jeweiligen Rechtsradikalen Ideologie als Feindbild ausgemacht wird. Niemand kann sich die eigenen Eltern aussuchen, also sind sowohl Ethnie, Geburtsort und Herkunft nicht änderbar. Man kann seine Hautfarbe nicht ablegen, man kann nichts dafür, aus China zu kommen oder homosexuell zu sein. Auch körperliche und geistige Beeinträchtigungen sind keine freie Wahl. In rassenbiologischen und sozialdarwinistischen Volkskörpervorstellungen gilt dies alles aber als „volksfremd“ oder „volksschädlich“ und muss daher bekämpft, in letzter Konsequenz vernichtet werden. Auch sozial ausgegrenzte Personen wie Obdachlose sind oft Opfer rechter Gewalt, sie gelten als Sozialschmarotzer und unwerte Existenzen. Eine bemerkenswert hohe Anzahl der Todesopfer rechter Gewalt war obdachlos, arbeitslos oder alkoholkrank.

Antifaschistische Gewalt dagegen richtet sich gegen Personen und Organisationen, die sich rechtsradikal betätigen. Man gerät durch rechtsradikale Aktivitäten in den Fokus von Antifas und man entkommt diesen Fokus dadurch, dass man sich nicht mehr rechtsradikal verhält und äußert. Denn das Ziel antifaschistischer Gewalt ist die Bekämpfung rechtsradikaler Handlungen und rechtsradikalen Gedankenguts. Wenn man das Gedankengut auch nicht unbedingt kurzfristig ändern kann, so kann man doch die öffentlichen rechtsradikalen Aktivitäten eindämmen oder ganz unterbinden und damit auch eine Weiterverbreitung dieses Gedankenguts effektiv behindern. Der Unterschied ist so simpel wie weitreichend: Rechtsradikale greifen Menschen wegen bestimmter Geburts- oder sozialer Merkmale an, Rechtsradikale werden angegriffen um genau diese Gewalt zu verhindern. Und aus diesem Grund kann man antifaschistische Gewalt nicht mit rechter Gewalt gleichsetzen.

 

Eine Frage der Abwägung

 

Antifaschistische Gewalt ist ein Mittel und sie dient einem konkretem Zweck. Dies bedeutet, dass sie Abwägungssache ist. Man muss daher nüchtern das Für und Wider konkreter Aktionen gegen Personen oder Dinge abwägen. Dazu gehören viele Punkte, die man beachten muss. Zum Beispiel die politische Situation und die öffentliche Stimmung. Zum Jahreswechsel ist ein Rassist mit einem Auto gezielt in für ihn als Ausländer feststehende Personen gefahren und hat vier zum Teil schwer verletzt. Eine Frau liegt nach zwei Wochen immer noch im Krankenhaus. Kurz darauf wurde ein Fall bekannt, der sich einige Tage vor Silvester ereignete. Ein Mann zeigte den Hitlergruß und stach mit einem Messer auf Personen in einer Pizzeria ein. Durch den Anschlag auf ein AfD-Büro und besonders durch den Angriff auf Magnitz rückten diese beide Vorfälle aber schlagartig aus dem Rampenlicht heraus und es ging nur noch um linke Gewalt. Dabei waren die beiden geschilderten Vorfälle erheblich schwerwiegender und sie folgen auch einer sehr viel gefährlicheren Logik als der Angriff auf Magnitz. Der Fall Magnitz hat die öffentliche Debatte über rechte Gewalt sofort abgewürgt.

Aus der Logik des antifaschistischem Aktivismus heraus müssen vor einer theoretischen Gewaltanwendung, ob nun gegen Personen oder Gegenstände, viele Ebenen bedacht und genau abgewogen werden. Das Ziel ist ja eine erfolgreiche Bekämpfung von Rechtsradikalen. Daher stellt sich in diesem Kontext dann die Frage, wie zielführend das ist. Was genau würde eine bestimmte Aktion bei der Zielperson oder Zielgruppe genau kurz-, mittel- und langfristig bewirken, was in der möglichen medialen Darstellung, was im allgemeinen politischen Gefüge, was im regionalen Kontext und welches Risiko bringt das eigentlich für einen selbst und das eigene Umfeld mit sich, da man einen Gesetzesverstoß begeht und möglicherweise eine Haftstrafe bekommt und polizeiliche Ermittlungen auslösen wird? Diese Fragen stellen sich generell bei einem antifaschistischem Aktivismus, ganz dringlich aber wenn Personen sich dazu durchringen gegen bestehende Gesetze zu verstoßen und ganz besonders wenn Gewalt ausgeübt werden soll. Denn diese ist kein Selbstzweck.

 

Ergänzung: Realpolitische Probleme der Linken

In den letzten Monaten stellte sich die Gewaltfrage ganz dringlich und zwar nicht aus dem linken oder antifaschistischem Spektrum heraus. Seit der Festnahme des Bundeswehrsoldaten Franco A., der Anschläge geplant hat, sind immer mehr potentielle rechtsterroristische Zellen aufgeflogen. Die größte stellt die Organisation Hannibal dar, welche durch eine Recherche der taz aufgedeckt wurde. Sie stellt eine Art Deep State innerhalb der Bundeswehr und angeschlossener Behörden da und zählt aktive Soldat*innen und Reservist*innen zu ihren Mitgliedern, unter anderem aus dem KSK. Franco A. war Mitglied in einer regionalen Chatgruppe der Organisation. Ob es nun Hannibal, Franco A., Revolution Chemnitz oder die rechtsradikalen Prepper aus Mecklenburg-Vorpommern waren, überall wurden Namenslisten gefunden. Diese Listen dienen zur Identifizierung möglicher Anschlagsziele. Insbesondere im Fall der Organisation Hannibal sollen konkrete Pläne für einen Tag X bestanden haben, an dem Mitglieder unabhängig organisiert in Kleingruppen einflussreiche Linke entführen und exekutieren sollen.

Diese Nachrichten sind zutiefst beunruhigend und bekommen aktuell durch die rechtsradikalen Polizisten in Hessen, die mit „NSU 2.0“ gekennzeichnete Drohbriefe verschicken, oder durch Bombendrohungen im Namen eines „Nationalistischen Widerstands“ erneute Dringlichkeit. Offenbar gibt es im rechtsradikalen Milieu eine sich aktiv vernetzende und organisierende rechtsterroristische Szene. Als Linke kann man sich auf den Staat nicht verlassen, schließlich kommen diese Vorfälle zum Teil mitten aus den Sicherheitsbehörden. Es ist potentiell lebensgefährlich diese Vorgänge herunterzuspielen. Wenn man als Linke irgendwie die gesamtgesellschaftliche Gestaltungsmacht innehaben möchte, muss mit dieses Problem bedacht werden. Personen mit vulgärpazifistischer Einstellung können mit diesem Problem nicht umgehen, da ihnen allein schon die Fähigkeit fehlen dürfte sich gedanklich umfassend mit bewaffneten KSK-Einheiten plus Unterstützungsnetzwerk im Untergrund beschäftigen zu können. Es ist daher unabdingbar, dass man einen pragmatischen und praxisorientierten Ansatz zum Umgang mit Gewalt findet. Und zwar aus purem Selbstschutz.

 

Merkel muss weg – über Sinnlosigkeit eines Slogans

Angela Merkel hat ihren Rückzug angekündigt. Sie wird nicht mehr als Parteichefin kandidieren und steht auch nicht für eine weitere Legislaturperiode zur Verfügung. 2021 ist also spätestens Schluss bei ihr, sofern nicht vorher schon Neuwahlen anstehen. Wirklich überraschend ist der Abschied nicht, eine weitere Legislaturperiode hätte sicher niemand erwartet. Einzig die Ankündigung, jetzt schon auf den Parteivorsitz zu verzichten kommt unerwartet. Andererseits gibt es nun drei Jahre, um die Nachfolge richtig aufzubauen. 
Mit dem Rückzug erfüllt sich eine Kernforderung der Rechten und Rechtsradikalen der letzten Jahre: „Merkel muss weg!“ Auf so ziemlich jeder Demonstration der Besorgten gab und gibt es lautstarkes „Merkel muss weg!“-Rufe zu vernehmen – sowohl von den RednerInnen auf der Bühne als auch aus dem Publikum. Insbesondere Pegida ist für diesen Slogan bekannt, da er jeden Montag durch die Straßen Dresdens gebrüllt wird. Dabei ist dieser Slogan an Dämlichkeit kaum zu überbieten. Er ist vielmehr ein Beweis für mangelnde politische Kompetenz, fehlendes Abstraktionsvermögen und die pure Unfähigkeit, komplexere Sachverhalte zu verstehen und zu analysieren. Was wird sich denn ändern, wenn Merkel weg ist? Werden die Kreisläufer in Dresden dann aufhören, die Innenstadt unsicher zu machen? Werden die Angriffe auf migrantische Personen abnehmen? Wohl kaum. 
Die Unfähigkeit zur Abstraktion lässt sich am besten in den Bildern erkennen, die online zu Tausenden geteilt werden. Gemeint sind die Art von Bildern, die Merkel (gerne mit antisemitischen Implikationen) als mörderisch, als Puppenspielerin etc. darstellen. Solche Bilder gibt es über vermutlich so ziemlich alle Führungspersonen von Staaten und sie unterscheiden sich oft nur im konkreten Aussehen der dargestellten Person. Die Struktur der Bilder bleibt gleich. Ob die Republikaner jetzt Obama oder Clinton mit einer Karikatur verunglimpfen, ist egal. George Soros nimmt inzwischen den Platz des verstorbenen Rockefellers in antisemitischen Bildern ein und man kann anhand des abgebildeten französischen Präsidenten genau den Erstellungszeitraum einer Karikatur bestimmen. Und auch in zehn Jahren werden diese Bilder genau so aussehen, nur eben mit anderen Gesichtern in der gleichen Szenerie.
Was nicht verstanden wirdist die Funktionsweise des politischen Betriebs und der sozioökonomischen Abläufe und Gesetzmäßigkeiten. Wer ernsthaft behauptet, die Flüchtlingssituation von 2014-16 hätte irgendwie den eigenen Wohlstand gefährdet, hat schlicht keine Ahnung. Hartz IV wurde nicht gesenkt, der Arbeitsmarkt war vorher schon prekär und mit Ausnahme von Einzelfällen haben Migration und Flucht nach Deutschland wirklich niemandem hier was weggenommen. Der Abbau der Sozialsysteme ist ein Trend, der seit den 80ern zu bemerken ist. Am wirtschaftlichen Wachstum Deutschlands profitieren vor allem die einkommensstarken Schichten. In den Einkommensschwachen gibt es seit 20 Jahren Reallohneinbußen und es sieht nicht so aus, als würde sich dieser Trend in den nächsten drei Jahren entscheidend ändern. Auch das politische System wird durch den Abgang Merkels nicht verändert. Unbestritten ist, dass man als Kanzlerin einen Einfluss auf die politische Ausrichtung hat. Aber wirklich strukturell wird sich nichts ändern. Vor allem nicht aus rechtsradikaler Sicht.
Mach es dir einfach
Wer auf einer AfD-Demo „Merkel muss weg!“ ruft und vom „Merkel-Regime“ fabuliertvereinfacht sich das Leben nur dadurch, dass man viele bis alle Probleme Angela Merkel (und ihrer Bagage) andichtet. Davor war es Schröder, danach wird es Merz/Kramp-Karrenbauer/Spahn sein. Ob das tatsächlich stimmt, ist für die eigene Befindlichkeit unerheblich. Man ist auch an keiner Analyse interessiert, denn dies würde Aufwand bedeuten. Man müsste sich informieren, man müsste die bisherigen eigenen Annahmen in Frage stellen und man müsste sich inhaltlicher Kritik stellen. Und sich möglicherweise eingestehen, falsch gelegen zu haben. Ganz oft ist es ja eben nur ein ungefähres Gefühl, welches man hat und welches dann auf Merkel gerichtet wird. Geht es um Details, wird es schnell schwammig und man trifft auf Abwehrmechanismen, die diesen Umstand überspielen sollen. Eine tatsächliche Analyse liegt nicht vor, also kann man auch keine konkreten Antworten erwarten. Man hat keine Antwort auf die Frage, was passieren sollwenn Merkel dann weg ist. Oder die ganze Bagage. Von Elitenbildung hat man keine Ahnung, vom Kapitalismus noch weniger. Also hangelt man sich von Person zu Person zu Person zu Person. Einige mag man, andere müssen weg. Aber man kann sich hier an etwas Konkretem orientieren und muss nicht auf abstrakte Muster, Strukturen und Verhältnisse achten.
Ein Blick auf das Personalkarussell der AfD zeigt eindrucksvoll, wie wenig konkrete Personen mit der Popularität der Partei zu tun haben. Der Abgang des wirtschaftsliberalen Flügels um Parteigründer Lucke mag zwar organisatorisch einige Arbeit verursacht haben, geschadet hat es der Partei nicht. Neben Lucke konnte man sich schon mit Frauke Petry anfreunden, die man danach zwei Jahre als Gallionsfigur durch die sozialen Netzwerke postete und inzwischen komplett vergessen hat. Ihr Rücktritt führte weder zu einer Spaltung der Partei noch zog sie großartig Stimmpotential ab. Und die AfD-Fanbase? Hat jetzt Alice Weidel bekommen, welche vor der Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl öffentlich kaum in Erscheinung getreten ist. Damit steht die AfD kurioserweise überhaupt nicht in faschistischer Tradition der charismatischen Herrschaft nachMax Weber. Vielmehr scheint hier die Partei als Ganzes die nationalistische Fantasie zu beflügeln. Faiererweise muss hier aber auch gesagt werden, dass die rechtsradikalen Schwergewichte der Partei bisher noch nicht innerparteilich herausgedrängt wurden, mit Poggenburg als Ausnahme. Bystron und vor allem Gauland und Höcke prägen seit Langem den faschistischen Flügel der Partei. Dennoch waren bisher alle Personen ohne Stimmverluste austauschbar. 
Und was ist mit der Kritik?
Ähnlich stumpf wie der Slogan „Merkel muss weg“ ist allerdings auch die Häme der letzten Tage über genau jenen. Viel zu oft wurden Schenkelklopfer auf Mario Barth-Niveau von den Brechstangen des platten Humors, der Heute Show und etwas schwächer Extra3, geteilt. Der Tenor ist grob zusammenzufassen mit einem: „Merkel ist weg, die AfD/Pegida können sich auflösen.“ Hihi huhu haha. Was haben wir gelacht. Analyse der Verhältnisse? Fehlanzeige. Man bewegt sich auf demselben plakativen Niveau wie der Spruch selbst. Als ob es der „Merkel muss weg“-Menge wirklich nur um Merkel ginge. Nein, die wollen in der Regel schon den Systemumsturz, haben aber selten den Schneid, dies öffentlich zuzugeben. Oder können dies aufgrund der ganzen Begriffsverklärung in den „alternativen“ Medien eh nicht mehr, da Begriffe völlig ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet und umgedeutet wurden. Man verkennt auch, warum die AfD so erfolgreich ist. Nicht weil Merkel Kanzlerin ist. Merkel ist nur die Projektionsfläche der autoritären Wünsche nach dem guten alten Deutschland, in dem alles noch seine Ordnung hatte und den Deutschen gehörte! 
Die AfD stellt nämlich genau diese Wünsche dar. Und zwar für eine breite Palette an Personen. Weidel, Meuthen und Pazderski bedienen diejenigen, die eher so auf die Adenauerzeit stehen und zwar den Krieg verloren hatten, dafür aber immer anständig geblieben sind. Höcke, Bystron und Gauland sind dann für die 33er zuständig, die irgendwas von nem semiabsolutistischem Staat nach Kaiserreichsmanier bis hin zum Vierten Reich wollen. Antisemitismusbeauftragter ist Gedeon, obwohl sich die gesamte Parteivom Ortsverband bis zum Bundesvorstand, da durch die Bank weg in irgendeiner Weise antisemitisch betätigt. Die infantilen Witze über das Ende von „Merkel muss weg“ würden selbst einem Fips Asmussen schlecht zu Gesicht stehen. Und verschleiern dabei die Gefährlichkeit der Partei und der Sehnsüchte, die sich tatsächlich hinter dem kollektiven „Merkel muss weg!“ von rechts verbergen. 

Demobericht Dritter Weg in Plauen 29.10 2018

Am 29. Oktober 1938 deportierten die Nazis in der sogenannten Polenaktion in ganz Deutschland etwa 17.000 jüdische Personen. In Plauen waren etwa 85 Personen betroffen. 80 Jahre später laufen die Neonazis vom Dritten Weg durch die Stadt und halten einen Fackelmarsch. Als die Genehmigung dieses Marsches bekannt wurde hat man aus Sicherheitsgründen eine Gedenkveranstaltung abgesagt. Die Nazis konnten im Vorfeld einen Sieg einfahren.

An einem kalten und nebeligen Montagabend finden sich etwa 120 bis 130 Personen ein. Davon sind etwa 80 direkt dem gewalttätigen Neonazispektrum zuzuordnen, der Rest sieht bürgerlich aus. Der Gegenprotest, verteilt auf zwei Kundgebungsorte an der kurzen Strecke und am Endpunkt, kommt auf etwa 400 Personen. Hier gedenkt man der deportierten Jüdinnen und Juden, verliest Name, Alter und Adresse aller betroffenen Menschen. In den Redebeiträgen wird auf die sächsischen Verhältnisse verwiesen, auf das Agieren der CDU-geführten Landesregierungen und deren Relativierungen.

Bei den Nazis gibt es nichts Spannendes zu vernehmen. Es gibt ein Best-Of aktueller rechtsradikaler Positionen zu hören: Krieg gegen die Völker Europas, Merkelregime, Deutschland den Deutschen, Asylflut, Volksverräter, Umvolkung. Hat man alles schon unzählige Male gehört. Von dem Datum der Judendeportation hat man angeblich nichts gewusst und marschiert ganz zufällig an einem Montag auf und nicht am Samstag oder Sonntag. Zu berichten gibt es wirklich nichts, außer das einem von der fast halbstündigen Schlussrede irgendwann die Ohren bluteten und man sich minütlich dümmer vorkam.

Und das wars dann auch. Es gab ein unter den Umständen würdiges Gedenken an die deportierten Juden und die Nazis konnten ungestört ihre kurze Route laufen.

(Laura Stern)

ACAB – oder etwa doch nicht?

Vor kurzem veröffentlichten wir ein Bild von den Protesten rund um den Hambacher Forst. Dies zeigt, wie eine „Hambi bleibt“-Fahne aus einem Polizeiwagen gehisst wurde. Die PolizistInnen haben sie wohl aus Solidarität selbst gekauft und gezeigt. Wir meinen, dass solche Solidarität uns gestohlen bleiben kann. Der Grund ist nicht etwa blinder Bullenhass (was uns auch ganz gerne mal vorgeworfen wird), sondern Heuchelei seitens der Polizei.

Anti-Repressionsarbeit zählt zu einem der Kernthemen der radikalen Linken. Nicht umsonst gibt es linke Organisationen wie die Rote Hilfe oder Anarchist Black Cross. Der Staat wollte schon immer Linksradikale stark in ihrer Arbeit einschränken.  Wir sind automatisch Feind des Staates und damit auch entsprechend zu bekämpfen.  Die Polizei ist der Bewahrer der herrschenden Klasse. Eigentumsverhältnisse und der gesellschaftliche Status Quo sollen beibehalten werden. Zur Not greift die Polizei halt hart durch. Echte Umsturzverhältnisse oder auch nur militante Arbeitskämpfe werden so unmöglich gemacht.

Tout le monde déteste la police

Unter Linksradikalen findet sich überproportional häufig eine Ablehnung der Polizei und anderer Sicherheitsbehörden. Sicherlich hängt das auch mit der grundsätzlichen Ablehnung von staatlicher  Autorität zusammen. Aber genauso hängt es mit der Gewalterfahrung zusammen, die wir auch leider häufig erleben müssen. Fast  jede/r, der/die sich schon mal an Aktionen beteiligt hat, kann von unliebsamen Begegnungen berichten.

So verwundert es dann nicht, dass das berühmte ACAB Linksradikalen besonders leicht über die Lippen geht. Fast ist es schon zu einer Art Mantra geworden. In vielen unserer Beiträge beschäftigen wir uns mit dem Thema Polizeigewalt und Artverwandtem. Dort lesen wir auch oft nur „1312“ oder Ähnliches. Zu erwähnen ist hier übrigens auch noch die Kritik an dem Ausdruck „All Cops are Bastards“, die sich an dem Wort Bastard aufhängt. Näheres dazu hier: http://rotehilfegreifswald.blogsport.de/2012/12/13/warum-a-c-a-b-scheisse-ist/.

Aber wird man mit so platten Parolen diesem komplexen Thema gerecht? Gibt es zwischen „ACAB“ und bootlicking noch Zwischentöne?

Siamo tutti Opfer von Repression

Seitdem sich der Rechtsruck merklich verschärft hat, ist auch der Aktivismus angestiegen, rein aus der Notwendigkeit heraus. Nicht alles davon militant, aber auch diese nicht-militanten Personengruppen sind von Polizeigewalt betroffen. Es trifft eben nicht nur „die gewaltbereiten Chaoten vom schwarzen Block“. Da prügeln PolizistInnen halt auch auf Bürgi-Gruppen ein, wenn sie am falschen Ort sind oder setzen Wasserwerfer gegen RentnerInnen ein wie bei Stuttgart 21 (mit schwerwiegenden Folgen).

Im Gegensatz dazu dürfen Faschos immer laufen. Sie brüllen ihren Hass auf die Straße und dürfen sich unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit ihre Lieblings-Hassbands anhören. Hitlergrüße auf Fascho-Demos sind Standard, auch gewalttätige Übergriffe auf JournalistInnen und andere unliebsame Personen keine Seltenheit. Die Dichte der rechten Demos hat deutlich zugenommen. Auch das Auftreten hat sich verändert. Immer martialischer und offener mit ihren Hass-Forderungen treten sie auf. Deshalb bekommen sie auch immer mehr Aufmerksamkeit. Ihre Sache erhält Auftrieb. Szenen wie die Auflösung des Naziskonzerts in Magdala am Wochenende sind äußerst selten.

Das alles geschieht unter dem wachen Auge des Staates. Der sieht aber eher selten einen Grund, direkt einzugreifen. Nicht umsonst laufen nach wie vor hunderte Faschos mit offenen Haftbefehlen rum. Stattdessen wird dann in der Mehrzahl der Fälle auf GegendemonstrantInnen eingeprügelt. Denn die stören ja die friedliche Fascho-Demo. Dabei sind FaschistInnen niemals friedlich, selbst wenn sie nicht in diesem exakten Moment Gewalt anwenden. Es ist aber Teil ihrer Ideologie. Man hat es in Chemnitz gesehen. Dort durfte der Mob toben. Gedanken haben sich die Staatsbediensteten und VolksvertreterInnen darüber gemacht, ob man schon von einem Mob sprechen kann oder ob die Antifa Videos fälscht (Shoutout an Antifa Zeckenbiss an dieser Stelle).

Hufeisen-Söhne und -Töchter

Aber nicht nur die Polizei wollen wir hier als Beispiel nennen. Auch der Verfassungsschmutz und andere Unsicherheitsbehörden halten die Mär von der „viel schlimmeren linken Gewalt“ aufrecht. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. So sagt es zumindest die Verfassung. Genau deshalb können es Polizei, VS und Co. eben nicht durchgehen lassen, dass Linksradikale diese Gewalt in die eigenen Hände nehmen, wenn sie Nazis boxen gehen. Daneben sind Linksradikale allein deswegen Feindbild genug, weil sie diesen Staat überwinden wollen.

Es hat Tradition in Deutschland, rechte Umtriebe zu verharmlosen. Es ist wichtiger, zu betonen, wie gleich schlimm linke und rechte Gewalt doch sind. Dabei zeigen die erfassten Delikte eindeutig, dass bei den Gewaltdelikten Faschos die Nase vorne haben, vor allem bei schweren. Tötungsdelikte oder Ähnliches gehen vor allem auf ihr Konto im Vergleich. Die erfassten Delikte von links sind vor allem Propagandadelikte o.ä.

Natürlich üben auch Linke Gewalt aus. Wir als TEAM NZS BXN propagieren das sogar. Die Gewalt richtet sich dabei aber gezielt gegen eben solche. Hier bekommt der NPD-Kader aufs Maul oder der lokale Fascho. Bei Rechten kann es jeden treffen. Du kannst nicht sicher sein, wenn du in ihr Feindbild passt. Und das tut nahezu jede/r, allein weil man selbst kein Fascho ist.

Das Ungleichgewicht

Woher kommt es nun aber, dass Faschos nicht so sehr unter Repression leiden? Sie bemühen sich schlicht mehr, keine Konflikte mit dem Staat zu haben. Bilder wie aus Apolda, bei denen sich Faschos mit PolizistInnen prügeln, sind äußerst selten. Vordergründig bemühen sie sich immer um einen guten Kontakt zu den Staatsbediensteten. Faschos wollen einen starken autoritären Staat. Aktuell ist er leider nicht faschistisch in ihren Augen, aber dafür können die PolizistInnen ja nichts. Zumal sie es auch toll finden, wenn die Linken, die ihre Demos blockieren wollen, was von der Polizei abbekommen.

Im Gegensatz dazu lehnen die meisten Linksradikalen staatliche Autorität ab. Allein dies reicht der Polizei oftmals schon als Grund für Eskalation. Gewaltaffine PolizistInnen, die sich schon darauf freuen „es mal so richtig den Zecken zu zeigen“, tun ihr Übriges. Natürlich sind wir auch teilweise keine Unschuldslämmer. Das wollen wir nicht für uns beanspruchen. Nur: die Verhältnismäßigkeit fehlt oftmals.

Solange Faschos nicht vor den Augen der Polizei gewalttätig werden, drücken sie gerne mal beide Augen zu. Auch bei nicht-gewalttätigen Delikten (Hitlergrüße z.B.) werden nur manchmal Anzeigen gefertigt, manchmal passiert auch nichts. Selten wird jemand mal aus einer Demo gezogen. Es stellt sich die Frage nach dem Grund für dieses Ungleichgewicht. Sind alle PolizistInnen selbst verkappte Nazis oder tolerieren sie zumindest?

Mikrokosmos Polizei

Das stimmt natürlich nicht. Die Polizei ist eine heterogene Gruppe. Hier findet man ja sogar links angehauchte Personen aus dem bürgerlichen Spektrum (Linksradikale wird man dort nicht finden, da dies jeder linksradikalen Wertvorstellung widerspricht). Aber natürlich findet man dort auch Personen, die in ihrer Freizeit gerne bei PEGIDA mitspazieren. Oder Schlimmeres. Aber das ist okay für den Staat. Es muss sich ja nur „innerhalb des demokratischen Spektrums“ bewegen. Und selbst wenn es sich mal außerhalb dessen bewegt, fällt es vielleicht niemanden auf der Dienststelle auf. Oder sie laufen direkt neben einem.

Die Polizei ist ein sich geschlossener Kreis. Außenstehende bekommen das Innenleben dieses Haufens nicht zu sehen. Wichtige Begriffe sind dort Zusammenhalt, Verlässlichkeit, Gehorsam und Fleiß. Liest sich das nicht wie Schlagwörter einer rechtsradikalen Burschenschaft? Natürlich sind Werte wie Verlässlichkeit bei der Polizeiarbeit wichtig. Denn wenn man nicht auf seine/n PartnerIn vertrauen kann bei einer Festnahme, kann es einem schon mal das Leben kosten. Deshalb werden diese Dinge auch bereits während der Ausbildung immer und immer wieder trainiert.

The dark Side of the Police

So soll eine bestens vorbereitete verschworene geschlossene Gruppe entstehen, die für „Gerechtigkeit“ sorgt. Aber die oben erwähnten Schlagwörter haben auch ihre negativen Seiten: Korpsgeist, unhinterfragte Autorität, blinder Gehorsam, wenig Möglichkeiten der Einflussnahme von außen, etc. Solche geschlossenen Systeme müssen sich selbst zu erhalten. Um dies zu bewerkstelligen, müssen sie sich immunisieren.

Nehmen wir nun mal an, dass jemand ein Problem mit einem Einsatz hat. Zunächst ist diese Person an die Weisung gebunden. Sie kann zwar remonstrieren. Dies kann aber nur zum Erfolg führen, wenn die Weisung unrechtmäßig ist. Bei klar rechtmäßigen Befehlen haben die BeamtInnen diese auszuführen – ohne Wenn und Aber. Selbst bei der Remonstration müssen die BeamtInnen, nachdem Vorgesetzte/r und nächsthöhere/r Vorgesetzte/r die Maßnahme abgesegnet haben, diese ausführen. Die Remonstration schützt den/die PolizistIn zwar später vor Disziplinarmaßnahmen, aber der Schaden ist dann schon angerichtet.

Niemand muss Bulle sein

Ein Gewissen darf man also schon mal nicht haben. Im Zweifel muss man auch Dinge tun, die man niemals für möglich gehalten hätte. Im besten Fall für einen selbst hat man sich vorher immunisiert, so dass man juristisch nicht belangt werden kann. Selbst wenn man das nicht getan hat, kommt im Zweifelfall die eigene Behörde zu Hilfe. Denn Polizeigewalt wird selten bis nie verfolgt. Selbst bei klaren Rechtsbrüchen findet kaum eine strafrechtliche Verfolgung der betroffenen PolizistInnen statt. Zum einen liegt das an der fehlenden Kennzeichnungspflicht (bis auf wenige Ausnahmen) oder dem/der Kollegin, der/die dann doch auf eine Aussage verzichtet, wenn es eine/n KollegIn belasten könnte.

In einer verschworenen Gemeinschaft lässt es sich gut aushalten, solange man nicht das Nest beschmutzt. WhistleblowerInnen und Ähnliches sind dort nämlich gar nicht gern gesehen. Bist du nicht für uns, bist du gegen uns. So tritt auch hier eine weitere Art der Selbstimmunisierung des Systems Polizei auf. Verstöße dürfen nicht nach außen dringen. KollegInnen, denen der Schlagstock besonders locker sitzt, gilt es zu schützen. Tust du das nicht, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, aus der verschworenen Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.  Aktuell läuft eine Untersuchung, die zeigen soll, warum so selten Polizeigewalt verfolgt wird (http://www.taz.de/!5523395/).

Dazu kommt, dass es in Deutschland keine externe Stelle für interne Untersuchungen z.B. bei Polizeigewalt gibt. Dieselben Leute, die selbst Teil der verschworenen Gemeinschaft sind, sollen also darüber entscheiden, ob eine/r der KollegInnen etwas falsch gemacht hat? Man kann sich vorstellen, dass solche Untersuchungen nicht gerade häufig zu dem Schluss kommen, dass ein Fehlverhalten vor lag. (https://www.deutschlandfunk.de/fehlverhalten-von-beamten-wenn-polizisten-das-staatliche.1773.de.html?dram:article_id=430143)

Die Negativbeispiele

Wir reden hier übrigens immer noch von den wenigen Exemplaren, die irgendwie „gut“ sind. Diejenigen, die noch ein wenig hinterfragen oder gar versuchen das System Polizei zu verändern. Es nützt aber nichts. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Es krankt an Grundlegendem. Eine einzelne Person oder selbst viele können die systemimmanenten Fehler nicht beheben.

Denn auf jede Person, die etwas in diesem System versucht, zum Guten zu verändern, kommen noch Hunderte mehr, die das gar nicht erst wollen oder sogar das kaputte System zu ihren Zwecken nutzen. Korruption, Gewaltaffinität, Autoritarismus, Rassismus, Sexismus sind weit verbreitet. Es gibt genug Leute, die PolizistInnen werden, weil sie sich in dieser Welt wohlfühlen. Sie können sich dort voll ausleben.

Oury Jalloh und andere Opfer der Polizei

Gerade der oben erwähnte Rassismus ist inzwischen institutionalisiert. Polizeiliche Maßnahmen beziehen sich überproportional häufig auf PoC. Gerade in „Brennpunkten“ werden gerne mal alle, die nicht deutsch aussehen, unter Generalverdacht gestellt, kontrolliert und durchsucht. Dabei ist es recht egal, ob es um die Umsetzung einer unlogischen Drogenpolitik oder um Bagatelldelikte geht. Sowohl beim Verdacht des Verkaufs von 5 Gramm Gras als auch beim mutmaßlichen Schwarzfahren müssen in der Logik der Polizei PoC „die volle Härte des Gesetzes“ zu spüren bekommen. Wären sie weiß, hätten sie da mehr Glück.  (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1088450.polizeikontrollen-und-racial-profiling-prozent-trefferquote-bundespolizei-kontrolliert-fast-nur-unschuldige.html)

Aber dies ist nicht die einzige Klientel, die unter solchen Schikanen zu leiden hat. Dies kann jeder Person, die „am Rande der Gesellschaft“ steht, passieren. DrogenkonsumentInnen, Obdachlose, Prostituierte, Punks, BettlerInnen, Flüchtlinge etc. sind alles potenzielle Ziele von Polizeigewalt oder anderweitiger Diskriminierung. Mit ihnen kann man es machen. Nicht jede/r verbrennt in seiner Zelle in Dessau oder Geldern oder kommt auf andere Art und Weise mysteriös ums Leben. Es muss noch nicht einmal zu körperlicher Gewalt kommen. Die täglichen Erniedrigungen reichen aus, um Hass auf die Polizei zu bekommen.

Die Polizei und wir

Bei nicht-marginalisierten Gruppen kommt es dagegen deutlich seltener zu solchen Übergriffen. Dies liegt wohlmöglich an einem privilegierten Status. Polizeigewalt? Personalienkontrollen? Beschimpfungen? Hast du bisher nicht erfahren müssen, weil du die richtige Hautfarbe hast und angepasst genug bist. Aber selbst wenn du die richtige Hautfarbe hast: Bist du nur unangepasst genug kannst du Probleme bekommen. Wir Linksradikalen können ein Lied davon singen.

Dazu bedarf es noch nicht einmal handfesten Auseinandersetzungen auf Demos oder Ähnlichem. Selbst kleinste Verdachtsmomente reichten aus, damit es zu massiven Bespitzelungen durch den Staat oder anderen Repressionen kam. Wir sind (neben Fußball-Ultras) wohl des PolzistInnen liebstes Spielfeld, um sich auszutoben. Personalienkontrollen und GefährerInnenansprachen sind der Normalfall auf Demos. Selbst Platzverweise wegen Nichtigkeiten („Nee, so mit den schwarzen Klamotten darfste nicht auf die Demo.“) sind keine Seltenheit.

Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen

Noch viel dicker kommt es, wenn man sich laut Polizei tatsächlich etwas hat zu Schulden kommen lassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es tatsächlich so war oder nicht. Allein das Prozedere (Anzeige, GeSa, Anklage, etc.) frisst Nerven, Zeit und Geld. Deshalb ist es auch so wichtig, starke PartnerInnen zu haben, die einen den Rücken stärken. Denn auch diese Vorgehensweise ist eine Taktik des Polizeiapparats. Zermürbung soll linksradikale Gruppen zerschlagen. Gerade deshalb ist es auch so wichtig, zusammenzuhalten. Denn alleine machen sie dich ein.

Bei einer Verurteilung droht noch größeres Unheil. Wenn man Glück hat, ist es nur eine Geldstrafe. Es kann jedoch schlimmer kommen. Der Repressionsapparat des Staates kann dort seine volle Wirkmacht zeigen. Einschüchterung, Freiheitsverlust, Ansehensverlust, möglicher Verlust der geistigen und körperlichen Gesundheit, Einschränkung der Kontakte, eventuelle Arbeitslosigkeit, etc.: Dies alles kann auf eine/n Inhaftierte/n zukommen. Deshalb sollte man auch Solidarität nicht nur als Wort begreifen, sondern praktisch leben. Denn diejenigen, die ihre Freiheit verloren haben (und das sind nicht gerade wenige), wissen, was der Staat mit einem anstellen kann. Dies soll uns nicht passieren.

Zieh lieber eine Line Zement als down zu sein mit Rainer Wendt

Man muss sich als „guter Bulle“ sehr einsam vorkommen. Insbesondere dann, wenn man bedenkt, dass auch die „Sprachrohre“ der Polizei sich immer mehr dem rechten Duktus der AfD und co. anpassen. Ganz vorn mit dabei: Rainer Wendt und seine Deutsche Polizeigewerkschaft. Der Heuchler, der jahrelang zu Unrecht Bezüge kassiert hat, gibt den größten Moralapostel. Dabei predigt er gerne vom „starken Staat“, bedient sich rassistischer Narrative, biedert sich an Rechte an und ist auch selbst ein ziemlicher Hufeisensohn.

Das schlimmste daran ist, dass viele PolizistInnen genauso denken. Zwar ist Wendts Gewerkschaft noch nicht mal die größte Polizeigewerkschaft, aber auch die anderen Gewerkschaften äußern sich zumindest für einen stärkeren autoritären Wandel, jedoch in milderer Form als der Dampfplauderer Wendt. Wie gut es um kritische PolizeibeamtInnen bestellt ist, sieht man alleine an der Mitgliedszahl der „Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten“. Die haben nämlich aktuell genau zwei Mitglieder. 2010 fand die letzte MitgliederInnenversammlung statt. So viel dazu, dass NestbeschmutzerInnen nicht gerne gesehen werden.

Was sind denn die Alternativen?

Oft wird gesagt, es gäbe keine Alternative zu der Polizei. Irgendjemand muss Recht und Ordnung aufrechterhalten. In den Augen solcher Menschen kann dies nur durch einen Polizeiapparat geschehen. Dabei gibt es durchaus alternative Konzepte. Unter dem Schlagwort „Strong Communities make Police obsolete“ oder „Community Self Defense“ haben sich Linksradikale einige Gedanken darüber gemacht.  Es gibt auch noch zahlreiche andere Konzepte diesbezüglich.

Immer wieder werden wir gefragt, ob wir nicht bei Notfällen die Polizei rufen. Man ist verpflichtet zu helfen, wenn man schwerwiegende Delikte sieht. Dazu ist aber nicht zwangsläufig die Polizei erforderlich. Wenn man es nicht alleine kann, sollte man sich Hilfe holen. Wenn man sich tatsächlich der Polizei bedienen muss, sollte man dies auch nur dann tun, wenn es unumgänglich ist. Wenn jemand im Park Drogen kauft, geht das euch nichts an. Lasst die Cops da lieber aus dem Spiel.

Wirklich niemand muss Bulle sein

Zum Abschluss stellt sich die Frage, wie wir nun mit dem „polizeilichen Gegenüber“ umgehen sollen. Immer umklatschen würde zwar der/dem ein oder anderen diebische Freude bereiten, ist aber nur bedingt sinnvoll. Stiefel lecken und immer schön höflich bleiben, dürfte den Wenigsten in den Sinn kommen. Das können wir auch nachvollziehen.

Letztlich muss jede/r für sich einen Mittelweg finden. Für manche mag das ein Ignorieren sein, für jemand anderes dann schon eher ein konfrontativer Weg. Eins ist aber klar: linksradikal sein und BullenfreundIn sein verträgt sich nicht. Sie sind immer noch Hüter dieses bürgerlichen Rechtsstaats, den es zu überwinden gilt.

Wie oben dargelegt, kann es keine Freundschaft mit diesen Leuten geben. Wir stehen konträr zu allem, wofür sie stehen. Wenn PolizistInnen unter unseren LeserInnen sind, sollten sie eines wissen: Ihr dient den Falschen. Zieht die Uniform aus. Quittiert den Dienst. Wirklich niemand muss Bulle sein!

Marsch für das Leben, Berlin, 22.09.2018

Gestern fand in Berlin der Marsch für das Leben der selbst ernannten LebenschützerInnen statt. Am Washingtonplatz vor dem Hauptbahnhof sammelten sie sich. Die Anzahl der TeilnehmerInnen belief sich auf bis zu 5000 Personen. Anzutreffen war das übliche Publikum solcher Veranstaltungen: religiös auf Abwege geratene Personen jeden Alters, jedoch mit einer Tendenz zu den älteren Semestern. Zu sehen, gab es auch mindestens einen Pullover der Identitären Bewegung und zwei Sweater mit „Deutschland“-Aufdruck. Ansonsten war thematisch jenseits des Kernthemas und ein wenig Homophobie nicht viel zu entdecken, die Anschlussfähigkeit zu rechtsradikalen Ideologien wie dem Faschismus wurde aber wieder einmal unter Beweis gestellt. Auf Schildern gab es Slogans gegen angebliche Euthanasie zu lesen, welche via PID in Abtreibungen gesehen wird. So verfälschen sie in ihrer Außendarstellung den Inklusionsbegriff. Darüber hinaus gab es auch ein Schild mit „Nie wieder unwertes Leben“, wodurch eine direkte Verbindung von nationalsozialistischer Rassehygiene zur körperlichen Selbstbestimmung von Frauen aufgemacht wird, verbunden mit dem eigentlich antifaschistischen „nie wieder!“.

Im Gegensatz zum letzten Jahr gab es weniger Jugendreisegruppen zu sehen. Wie immer war die Demo finanziell gut aufgestellt und organisiert, es wurden hunderte Schilder und Kreuze verteilt. Damit erreichte man nach außen hin ein einheitliches Erscheinungsbild und stärkte den Gruppenzusammenhalt. Von der Bühne gab es grauenhafte Musik von Bands wie „Könige & Priester“ aus der Nähe von Köln zu hören, die mit schlimmsten Texten und religiösem Schwachsinn akustische Umweltverschmutzung tätigten.

Von der Bühne wurden Grußworte verlesen, unter anderem von Kardinal Marx im Namen der katholischen Bischofskonferenz und von Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, welcher in der Vergangenheit bereits Sympathien zur evangelikalen Bewegung und der liturgischen Ausrichtung der katholischen Kirche zeigte. Zudem wurden namentlich diverse evangelische und katholische Bischöfe genannt. Der Antifeminismus vereint die religiösen Fundis über konfessionelle Grenzen hinweg. Gestört wurde die Auftaktkundgebung von einem antifaschistischen Gegenprotest am Rand und einigen Störaktionen wie beispielsweise lila Pyro inmitten der Fundis. Viele Personen fanden sich dort aber nicht ein.

Gegen 14:00 Uhr setzten sich die Demonstrierenden in Bewegung. In einer langen Route ging es über die Invaliden- und Oranienburger Straße Richtung Hackescher Markt und anschließend in einer Schleife über die Museumsinsel und das Paul-Loebe-Ufer zurück zu Hauptbahnhof. Um die Strecke herum gab es einige angemeldete Gegenkundgebungen: vom Bündnis Marsch für das Leben? What the Fuck, vom Berliner Clubbündnis und vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.

Obwohl die Route an mehreren Stellen gute Möglichkeiten für Blockaden bot, gab es nur vereinzelt kleinere Versuche, die unmittelbar von den Cops gestoppt oder geräumt wurden. Eine konnte gehalten werden, jedoch fasste sie nicht ausreichend Personen, sodass der Marsch einfach daran vorbeigeleitet werden konnte. Erst ab Höhe der Museumsinsel gab es größeres Blockadepotential, die Polizei konnte jedoch auch hier ohne größere Anstrengungen intervenieren. Der Marsch konnte ungehindert seine Route zurück zum Hauptbahnhof laufen.

Letztlich ist festzuhalten, dass die katholischen Fundis nahezu ungestört ihre Botschaft durch Berlin tragen konnten. Ihre gesamte Selbstinszenierung war darauf ausgelegt, ihre frauenverachtende Ideologie progressiv darzustellen durch eine vermeintliche Inklusion von Ungeborenen, emanzipatorische Positionen in NS-Nähe zu stellen und dem Versuch, durch entsprechende AkteurInnen wie jugendnahe MusikinterpretInnen eine möglichst junge und vielfältige Klientel zu adressieren. Dabei wurde wiederholt betont, dass sie sich als überparteilich in ihrer Organisation und international verstehen. In diesem Sinne: „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“

Der Hambacher Forst und radikaler Aktivismus

Derzeit läuft im Hambacher Forst die Räumung der friedlichen Besetzung. Aktivist*innen wohnen seit Jahren friedlich in dem Wald und schützen ihn so vor der Abrodung. Der Energieriese RWE will dort Braunkohle fördern und da stört ein Wald halt. Die Besetzung des Waldes verhindert dies erfolgreich seit Jahren und ist dem Konzern ein Dorn im Auge. Bis auf eine Parzelle wurde das gesamte Gebiet aufgekauft, man hat Anwohner*innen und Gemeinden mit Aktien und dergleichen eingekauft und kann auch auf die Politik zählen. Nur dürfen sie nicht roden wenn sich Menschen im Wald befinden. Auf Baumhäusern leben dutzende Menschen je nachdem wie lange sie wollen dort und praktizieren eine möglichst gleichgestellte und hierarchielose Lebensweise. Mit bis zu 4000 Einsatzkräften und schwerem Gerät wird die Räumung der vermutlich größte Polizeieinsatz des Landes Nordrhein-Westfalen. Bundesweit gibt es Soliaktionen, in Berlin wurde kurzzeitig die Landesvertretung NRW besetzt, von Demonstrationen aus schaffen es Aktivist*innen die Polizeiketten am Hambacher Forst zu durchfließen und die Bilder dominieren gerade neben dem Trubel um Nazis, Maaßen und Seehofer die Nachrichten aus Deutschland.

 

In den Medien ist das Echo ein geteiltes, die Polizeimassen rufen aber die Frage hervor, warum man bei gewalttätigen Nazis und Faschos nicht mal annäherungsweise so zahlreich und entschlossen auftreten kann wie gegen friedliche Menschen in einem Waldgebiet. Zum einen liegt das natürlich daran, dass der Einsatz länger geplant ist als zumindest der Sonntag und der Montag in Chemnitz. Zum anderen aber auch ohne jeden Zweifel daran, dass hier ein Großunternehmen ein Interesse daran hat und der bürgerliche Staat dieses Interesse mit Staatsgewalt durchsetzt. Wer sich mit der Geschichte der politischen Ökonomie auskennt weiß, dass die Entstehung der Nationalstaaten eng mit der Durchsetzung des Kapitalismus verbunden war.

Ressentiments und Dummheit

 

Nun gibt es zur Räumung des Hambacher Forstes auch sehr viel Mist zu lesen. Zum einen macht sich mal wieder das gesamte Ressentiment gegenüber angeblich versifften Ökos, am besten noch weiblich als „Ökotussen“ oder dergleichen beschimpft, breit. Munter schmeißt man Hippies und ökologische Aktivist*innen in einen Topf, den offensichtlichen anarchistischen Charakter der Besetzung ignoriert man ganz und freut sich schelmisch wenn die Polizei brutal gegen friedliche Menschen vorgeht. Diesen Ökospinnern gehören halt mal die Ohren lang gezogen! Auch in einigen linken Kreisen gibt es dieses Ressentiment, welches aus einer Ablehnung des Hippietums und einem gnadenlosen technikgläubigen Fortschrittsoptimismus resultiert.

 

Den Höhepunkt stellt allerdings ein unterirdisch schlechter Artikel von Stefan Laurin bei den Ruhrbaronen dar. Dieser fährt schon im Titel das Ökoressentiment und eine glatte Falschbehauptung auf: „Hambacher Forst: Die Linke wurde nicht für Menschen in Flughörnchen-Kostümen erfunden“. Das ist wirklich so dumm, man kann Laurin eigentlich nur erwidern: Journalismus wurde auch nicht für Schalke-Fans mit schlechtem Kleidungsgeschmack erfunden. Exakt die gleiche inhaltliche Ebene ist das, nämlich gar keine. Zudem wurde die Linke nicht erfunden. Niemand hat sich hingesetzt und das erfunden, was man heute als links bezeichnet. Es war ein gesellschaftlicher Prozess, an dem viele Personen beteiligt und auch vor 200 Jahren nicht immer derselben Meinung waren. Es gibt einige Punkte, aus denen sich dann letztendlich unterschiedliche linke Theorieansätze entwickelt haben. Da wären die nicht eingehaltenen Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft von Freiheit und Gleichheit und die massiven gesellschaftlichen Umbrüche inklusive Massenverelendung im Zuge der Durchsetzung von Kapitalismus und Lohnarbeit. Widerspruch darauf war unausweichlich und keine Erfindung im wie die Glühbirne oder die Eisenbahn.

 

 

Auf diesem Niveau wird dann auch munter weiter gemacht, die Hauptaussage des Artikels ist folgende: Der Hambacher Forst soll abgeholzt werden, damit RWE weiter Kohle baggern kann. Warum? Weil Arbeitsplätze und so. Keine Pointe. Der Artikel, der einem erst erzählt wofür die Linke nach Ansicht des Autors eigentlich erfunden wurde vertritt dann zu hundert Prozent die Linie von RWE, dem Großkonzern. Weil der ja Arbeitsplätze schaffe, ne starke Gewerkschaft und übertarifliche Bezahlung habe. Mag ja sein, du kannst dann aber nicht ernsthaft erzählen das wäre eine linke Argumentation. Eher klingt hier das „Sozial ist, wer Arbeit schafft“ eines Alfred Hugenbergs durch. Wenn man exakt die Position eines Großkonzerns vertritt sollte man etwas hellhörig werden und die eigene Position überprüfen.

 

Der Artikel widmet sich dann auch konsequent dem Hochhalten der Atomkraft (Fukushima und Endlagerungsproblem anyone?) und sagt man müsse konsequent an der Seite der Arbeiter*innen und der Gewerkschaft stehen. Letzteres ist ein absolut valider Punkt. Nur wird hier in klassisch liberaler Manier der Arbeitsstandpunkt gegen den ökologischen Standpunkt ausgespielt und der Konzern bleibt unbehelligt. Sollte einem eigentlich auffallen, außer man heißt Laurin. Atomstrom ist auch nur deshalb so günstig weil die Unternehmen die Tertiärkosten dafür nicht tragen müssen und diese hauptsächlich von der Allgemeinheit zu tragen sein werden. Kann man jetzt natürlich gut finden, ist aber auch das klassische Muster der Industrie solange beteiligt zu sein, wie es Profite gibt, und dann rauszuziehen, wenn es das nicht mehr hergibt. Die Gewerkschaft von RWE hat übrigens auch nur ein Partikularinteresse und das ist das der RWE-Belegschaft. Wenn man sämtliche größeren Zusammenhänge rausnimmt mag das Argument funktionieren – aber auch nur dann. Wenn man zum Beispiel gegen deutsche Waffenexporte ist, sei es auch nur in bestimmte Regionen, könnte man auf exakt die gleiche Art und Weise mit der Rheinmetallbelegschaft argumentieren und liefert dann munter Leopard-Panzer in die Türkei, mit denen dann Krieg gegen die Kurden geführt und ein autoritäres Regime islamistischer Färbung gestützt wird. Aber man steht auf der Seite der deutschen Arbeiter*innen!

 

Radikal, ökologisch und antikapitalistisch

 

Was hat die Besetzung des Hambacher Forstes jetzt aber tatsächlich geschafft? Eine ganze Menge. Zusammen mit Ende Gelände hat man dem Ökoaktivismus eine radikale Ausdrucksform jenseits von Greenpeace-Mitgliedschaft oder fragwürdigen Peta-Aktionen geschaffen. Man kommt aus dem linksradikalen Spektrum oder ist dorthin anschlussfähig, im Gegensatz zu den meisten anderen Orgas, die mit Kapitalismuskritik nichts am Hut haben. Die Besetzung des Hambacher Forstes und Ende Gelände sind das, was die Grünen mal teilweise waren und was sie mit ihrem Gang durch die Parlamente verloren haben: radikal. Die Grünen hingegen sind inzwischen Kretschmar und verschärfen Polizeigesetze. Und was die Besetzung auch schafft: Sie bringt das Thema Klimawandel wieder auf die Tagesordnung und stellt die Frage, wie es denn eigentlich in Zukunft weitergehen soll.

 

Eines ist klar: Der Klimawandel zeigt sich inzwischen ganz real, auch in Deutschland. Solche heißen Monate wie den diesjährigen Juli werden wir öfter bekommen. Die Landwirtschaft hat massive Ernteausfälle zu beklagen, was sich irgendwann möglicherweise auch mal auf die Versorgungssicherheit mit Nahrungsmitteln auswirken könnte oder zumindest zu einer Einschränkung der Auswahl führt. Und der Klimawandel mit seinen Auswirkungen kümmert sich einen feuchten Scheißdreck um Wertabspaltung und Lohnarbeit, der kommt ohne Rücksicht auf Verluste und bedroht die reale Existenz von zig Millionen Menschen. In den nächsten 50 Jahren wird es jede Menge Klimaflüchtlinge geben. Maßgeblich verursacht durch die Wirtschaft des globalen Nordens und der industrialisierten Nationen. Waldbrände, Dürren, Sturm- und Flutschäden – all das nimmt schon zu und wird es auch weiterhin. Es geht ja auch gar nicht mehr darum den Klimawandel zu verhindern, es geht nur darum seine Auswirkungen auf ein bestimmtes Level einzugrenzen. Das hat sehr viel mit ökologischem Wirtschaften, mit Generationengerechtigkeit und mit internationaler Solidarität zu tun. Und die Frage, wie man damit jetzt gesamtgesellschaftlich umgeht stellt die Besetzung des Hambacher Forstes.

 

Die Besetzung selber wird den Klimawandel nicht beeinflussen. Ob dieser Wald nun stehen bleibt oder nicht ist völlig egal aus globalökologischer Sicht. Aber darum geht es ja auch nicht nur. Es geht um die große Frage, die man immer wieder gerne in den Hintergrund drängt: Wie wollen wir als Gesellschaft weiter leben und wirtschaften? Da stellt sich die Frage des Kapitalismus und die Frage der bürgerlichen Gesellschaft ganz unmittelbar. Im Kapitalismus produziert man eben gewinnorientiert und nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Da ist dann tatsächlich sinnvoll eine Jeans über zehntausende Kilometer hinweg produzieren zu lassen oder ganze Landschaften wegzubaggern. Es rechnet sich halt in dem Moment. In einer nicht marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaft könnte man aber zum Beispiel die Energiebilanz eines Produktes als oberste Maxime ausgeben und käme auf einmal zu einer völlig anderen Produktionsstruktur und Produktentwicklung.

 

 

Wer von der Überwindung des Kapitalismus reden will, darf von Ökologie nicht schweigen. Im Gegenteil, die Suche einer besseren Wirtschafts- und Gesellschaftsform darf sich nicht nur auf die Frage des Arbeitsverhältnisses beschränken. Ökologie und Antikapitalismus haben viele Schnittstellen und können organisch verbunden werden. Denn der Kapitalismus beutet sowohl den Menschen als auch die Natur aus. Man muss dann aber auch so ehrlich sein und den Leuten mitteilen, dass es keinen Luxury Gay Space Communism mit Privatjet für alle geben kann. Der wird ein bisschen anders aussehen. Wenn man auf andere Dinge als Kosteneffizienz schaut muss der ökologische Faktor eine gewichtige Rolle spielen. Und dann wird Fliegen teurer. Dann kostet Fleisch mehr. Dann wird der Individualverkehr zurückgeschraubt und das eigene Auto eventuell sogar ein Auslaufmodell. Zumindest solange bis sich die neue Wirtschaftsform gefunden hat. Und dann müssen unökologische Industriezweige auch mal absterben. So läuft das eben wenn man die Art des Produzierens und des Wirtschaftens radikal umstellt. Da kommt es zu radikalen Brüchen. Das muss man auch so schonungslos sagen. Genauso wie die Leopard-Produktion bei Rheinmetall idealerweise keine Zukunft hat und deutsche Waffen so nicht mehr in aller Welt töten können.

 

Dies ist dann auch die Reibungsstelle zwischen Ökologie und Antikapitalismus. Aber anstatt hier den Laurin-Move zu machen und beide gegeneinander zum Vorteil des Großkonzerns auszuspielen muss man eine Lösung finden, die beide Interessen möglichst vereinigt und sich gegen RWE als kapitalistischen Konzern richtet. Keine Frage, einfach ist das nicht. Aber das ist noch lange kein Grund sich völlig unnötigerweise zum Sprachrohr der Industrie zu machen und jeglichen emanzipatorischen Anspruch aufzugeben, weil man partikular meint die Interessen des Proletariats zu vertreten. Denn der Artikel bei den Ruhrbaronen hat vor allem folgende Kernaussagen: Besetzung stoppen, RWE buddeln lassen, Kohle- und Kernkraft stützen. Sehr progressiv. In diesem Sinne: Hambi bleibt!