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Renegaten

Man kennt sie, Überläufer ins oder aus dem gegnerischen Lager. Wir Linken verleihen immer noch die Horst-Mahler-Medaille oder den Jürgen-Elsässer-Preis, wenn es Tendenzen in das rechte Lager zu beobachten gibt. Dabei ist das klassische Überläufertum gar nicht mal der Regelfall. Viel häufiger verschieben sich die weltanschaulichen Rahmen merklich, ohne das es eine Person so benennen möchte. Viel eher verkauft man sich als Renegat*in, um sich als geläuterte Person noch bestens selbst zu vermarkten. Neben den in diesem hervorragenden Artikel aufgezählten Beispielen (vom Titelbild gebenden Fleischauer über Broder bis hin zu Wagenknecht und Palmer) gibt es noch unzählige weitere Beispiele.

Das Umfeld der Bahamas ist ein weiteres Beispiel. Dort macht man sich, ähnlich wie Broder, daran, alle über Jahre geäußerten Vorwürfe im Alter Stück für Stück abzuräumen. Die Liste ist stattlich: Umvolkungsgeraune über Soros, Opfer-Täter-Umkehr bei sexueller Belästigung, offene Verschwörungsmythen zum rechten Mob in Chemnitz, ein Aufruf Antifafahnen zu verbrennen, Klima“zweifel“, Nazi- und Holocaustrelativierungen, Forderungen die Grenzen zu schließen, Gerede von Listen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die länger als die von Nordkreuz (ja der rechten Terrorzelle) seien, ein die Mainstreammeinung bestimmendes Linkskartell inklusive Medien,Schutz und Solidarität für einen nachweislich frauenbelästigenden Mann, Rassifizierung von Muslimen, öffentliche Positionierung gegen Faschooutings und noch ganz viel mehr. Trotzdem sieht man sich noch als progressiv, emanzipatorisch und antifaschistisch.

Die im Text beschriebene Brücken- oder Türöffnerfunktion darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden. Der Schaden eines Thilo Sarrazin konnte nur deshalb so groß sein, weil er als SPD-Mitglied nicht als rechtsradikal wahrgenommen wurde und bei einem der größten Verlage veröffentlichen durfte, während man ihn in sämtliche Sendungen einlud. Der Nimbus des Renegaten, des Tabubrechers und des Klartexters verkaufte sich millionenfach. Und was? Rassebiologische Ansichten, Sozialchauvinismus, Fremdenhass und öffnete die Tür für den heute noch aktuellen rechten Diskurs. Nur eine Person in der Position Sarrazins konnte das schaffen. Ein NPD-Funktionär hätte niemals diese oder überhaupt Aufmerksamkeit bekommen.

Wichtig ist die Funktion dieser Türöffner auch in Bezug auf das Verständnis dessen, was sich als „bürgerliche Mitte“ versteht. Dort sieht man sich ja immer frei von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und so weiter. Die Mitte sei ja gut und frei von Gewalt. Dabei zeigen Personen wie Palmer oder Sarrazin, dass die Mitte in diesem Selbstbildnis nur ein Phatasma ist. Diese Mitte, die sich selbst als bürgerlich sieht, enthält natürlich alle möglichen Formen der Diskriminierungen und täuscht sich nur selber damit, nichts damit zu tun haben. Man spaltet unliebsame Positionen ab, um sich dann weder personell noch inhaltlich mit ihnen beschäftigen zu müssen. Es sind immer die anderen antisemtisch, aber doch nicht Augstein, Todenhöfer oder Kohl! In Deutschland hat man diese Schuldverdrängung nach Ende des Naziregimes zur gesamtgesellschaftlichen Disziplin erhoben und ignoriert historische Tatsachen, so sie einem nicht ins Bild passen.

Die SPD hat mit den Freikorps in Deutschland protofaschistische Paramilitärs eingesetzt und damit sowohl die eigenen Genoss*innen erschießen lassen als auch den Feinden der Weimarer Republik freie Hand und Organsiationsmöglichkeiten gelassen. Die Saat der Freikorps bekam nicht wieder in den Griff. Das bürgerliche Lager ignoriert geflissentlich, dass nur die SPD (die KPD war schon eingeknastet oder wurde verfolgt) gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat. Das gesamte bürgerliche Lager hat dem Faschismus die rechtliche Legitimation gegeben. Konrad Adenauer hat sich 1932 für eine Koalition von Zentrumspartei und NSDAP in Preußen ausgesprochen und einige Monate nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 verlautbaren lassen: „Dem Zentrum weine ich keine Träne nach; es hat versagt, in den vergangenen Jahren nicht rechtzeitig sich mit neuem Geiste erfüllt. M.E. ist unsere einzige Rettung ein Monarch, ein Hohenzoller[,] oder meinetwegen auch Hitler, erst Reichspräsident auf Lebenszeit, dann kommt die folgende Stufe. Dadurch würde die Bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser kommen.“

Beim Aufbau der BRD waren dann Nazis auf allen Ebenen entscheidend beteiligt, wurden in den 50ern vor allem über die Unionsparteien und die FDP fest in die Gesellschaft integriert und übernahmen höchste politische und wirtschaftliche Positionen. Vom Nationalsozialismus wollte man nichts mehr wissen, man einigte sich stillschweigend auf einen Mantel des Schweigens. Nur wenige stellten sich dem entgegen, am bekanntesten dürften heute Beate Klarsfeld und Fritz Bauer sein. Letzterer war Generalstaatsanwalt und ein Film über sein Wirken mit dem Namen „Der Staat gegen Fritz Bauer“ verdeutlicht, wie gut sein kompromissloser Einsatz bei der Verfolgung von NS-Verbrechern ankam. Leute wie Franz Josef Strauß sagten sogar offen, dass sie rechte Terrorgruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann taktisch nutzen könnten und das es sich nur um harmlose Patrioten handele. Die Geschichte der BRD ist eine Geschichte der Selbstverleugnung der Ansichten, die in der „Mitte“ relativ kritikfrei Platz haben. Wer darauf verweist, so wie man es gerade bei der Kritik von Antifaschist*innen an der Aktion des ZPS zum Teil sehen kann, wird als Spalterin oder Nestbeschmutzerin verunglimpft. Es sind halt immer die anderen.

Renegaten übernehmen die Funktion, dass man Identifikationsfiguren hat, die einem vorleben, wie man sich mit rechten Ansichten weiterhin in besten gesellschaftlichen Kreisen bewegen kann und sich nicht um die eigene Position zu kümmern braucht. Man ist abgesichert, selbst wenn man offen rechtes Gedankengut verbreitet.