Und ewig grüßt der Elfenbeinturm

2018 und 2019 werden teilweise durch Klimaproteste geprägt. So war es im letzten Jahr die Auseinandersetzung um den Hambacher Forst, welche über Wochen in den landesweiten Medien für Aufmerksamkeit sorgte und eine nicht abzusehende Eigendynamik entwickelte, welche 50.000 Menschen auf die Straße brachte. Parallel dazu ging ab August 2018 eine schwedische Schülerin auf die Straße und ab dem November hatte sich „Fridays For Future“ zu einer weltweiten Protestbewegung entwickelt, welche in den folgenden Monaten sowohl Medienecho als auch Protestpotential vom Hambacher Forst in den Schatten stellen sollte.

Beide Proteste haben einige Gemeinsamkeiten und diese Gemeinsamkeiten geben Hinweise auf zukünftige Proteste und soziale Bewegungen. Beide Bewegungen sind autonom entstanden. Weder finanzstarke noch personell und organisatorisch stark aufgestellte Organisationen haben diese Proteste gestartet. Es stehen weder Gewerkschaften noch Verbände dahinter, es handelt sich um Einzelpersonen oder kleine Gruppen. Der Hambacher Forst wurde zeitweise von Ende Gelände unterstützt, hier handelt es sich aber auch um einen autonomen Klimaprotest. Beide Protestbewegungen befassen sich mit dem gleichen Thema: Klimawandel und das viel zu wenig dagegen getan wird. Es finden sich auch jeweils viele junge Menschen bei den Protesten, FFF zieht seine Leute ausschließlich aus den Bildungseinrichtungen, also vorrangig den Schulen. Und beide Protestbewegungen sind größer geworden als man es erwarten würde.

Die Reaktionen ließen in beiden Fällen nicht lange auf sich warten und sie fallen auch erst einmal erwartungsgemäß aus. FPD, CDU, AfD und alles, was sich als wirtschaftsfreundlich versteht, ist konsequent dagegen und gibt das auch in diversen sprachlichen Härtegraden zu erkennen. Randnotiz: Beim Kohleabbau hat die FDP übrigens kein Problem mit Enteignungen, wie man an der Hambidebatte sehen kann. Die SPD macht mal wieder einen Spagat und blinkt links wie rechts, nur um dann doch in Richtung Wirtschaft abzubiegen, die Grünen und die Linkspartei sind auf Seiten der Proteste, auch wenn den Grünen einige Regierungsbeteiligungen kein so gutes Zeugnis in Sachen Klimapolitik ausstellen.

Geht man von diesen großen Akteuren der Politik mal weg und schaut sich in den Nischen um, wird man vor allem im Bereich der Ideologiekritik oder in dem Sektor, den man mal antideutsch nannte, jede Menge Rotz und Bullshit finden. Ewig winkt der Elfenbeinturm einer sich als kritisch verstehenden Theorie, welche mit Verachtung auf alles herunterschaut, was sich irgendwie für eine neue Form der Klimapolitik einsetzt. Irgendwelche Internetficker wähnen sich besonders schlau und betitulieren die Proteste entweder als konformistisch oder ökofaschistisch, beim Hambacher Forst noch gewürzt mit Barbarei. Mehr als hohle Schlagworte, die man selbst durch inflationäre Benutzung jeder präzisen Bedeutung und Schärfe entledigt hat, kommen selten. Man hat es sich im Elfenbeinturm der kritischen Kritik als kritischer Kritiker (es sind vorrangig Männer) eingerichtet und will sich aus seinem kleinen Nest auch nicht rausbewegen. Dabei überholt einen der Zeitgeist und je abgehängter man ist, desto schriller werden die Vorwürfe. Ein Bahamasautor bezeichnete die Protestierenden beim Hambi als grüne SA, Greta Thunberg wird regelmäßig als Hitlermädchen dargestellt – weil ihre Zöpfe, ist ja klar und kann gar nicht anders sein.

Was diese ganzen elfenbeinturmigen Trauergestalten nicht verstehen ist, dass es nicht weniger wird mit den Klimaprotesten. Warum? Weil in den letzten 30 Jahren einfach viel zu wenig passiert ist und sich die Klimaforschung einig ist, dass wir auf eine sehr große ökologische Katastrophe zusteuern, es wissen und nicht annähernd genug dagegen tun. Die Folgen des Klimawandels sind nicht genau abzuschätzen, die Prognosen sind aber alles andere erfreulich. Möglicherweise kommt es schon bei einer Erwärmung von 1,5 Grad zu Resonanzeffekten, also einem sich selber verstärkenden Treibhauseffekt. Innerhalb von 20 bis 30 Jahren werden wird zwangsläufig hunderte Millionen Klimaflüchtlinge haben. Der Meeresspiegel steigt an und wird dadurch Inseln und Küstenregionen unbewohnbar machen, extreme Wetterlagen nehmen zu. Allein im letzten Jahr gab es in Deutschland massive Ernteausfälle durch Dürre und in diesem Jahr sieht es zumindest im Norden auch nicht so viel besser aus. Von sehr vielen Wissenschaftler*innen wird ein Vergleich mit den uns bekannten großen Artensterben in der Geschichte der Erde gezogen. Dabei sind bis zu 97 Prozent allet Arten ausgestorben – und genau diese Option wird auch hier ins Spiel gebracht. Es sterben also nicht einfach nur ein paar Arten aus, wahrscheinlicher ist es, dass komplette Ökosysteme vernichtet werden. Welche Auswirkungen das widerum auf menschliches Leben haben wird, kann man sich selber denken.

Wer heute 20 ist, hat noch gut und gerne 70 Jahre auf dieser Welt zu leben und wird die Auswirkungen der Erwärmung in vollem Umfang abbekommen. Wer heute 60 ist, wird das nicht mehr mitbekommen, vielleicht aber an einem Hitzeschlag sterben. Und wie es in 150 Jahren aussieht, kann man jetzt noch gar nicht sagen, es kann aber tatsächlich dramatisch für das Gesamtsystem Erde werden. Politik und Wirtschaft agieren trotz wissenschaftlicher Evidenz (und hier kann man dann tatsächlich mal auf das Rezo-Video verweisen, da genau das der wissenschaftliche Konsenz ist) entgegen den Empfehlungen der Leute, die Expertise in Sachen Klimawandel und Auswirkungen haben. Politik und Wirtschaft agieren kontrafaktisch. Und das regt dann Leute auf, die darunter leiden werden. Da es auch nicht den Anschein macht, dass sich in den nächsten Jahren ein radikaler Wechsel der Wirtschaftspolitik vollziehen wird, werden entsprechende Proteste weitergehen und zunehmen.

Den ideologiekritischen Internetficker stört das hingegen kaum, der wissenschaftliche Konsenz ist für ihn in seinem Elfenbeinturm egal und nur mit Mühe kann er sich davon abbringen lautstark gegen die Klimalüge anzuschreiben. Stattdessen bedient man sich der alten Methode, alles als Hitler zu bezeichnen, was einem nicht passt. Da wird dann aus Greta Thunberg ein BDM-Mädchen, da brabbelt man vom Öko- oder Klimafaschismus, da sieht man schon das Vierte Reich am Horizont näher kommen. Was der ideologiekritische Internetficker allerdings gegen den Klimawandel tun will, bleibt er in der Regel schuldig. „Wird schon nicht so schlimm werden“ ist da oftmals das Einzige, was man vernehmen kann. Wie er mit hunderten Millionen Klimaflüchtlingen in den nächsten Jahrzehnten fertig werden will kann er nicht sagen. Solche Prognosen werden gekonnt ignoriert, der Elfenbeinturm darf ja nicht zum Einsturz gebracht werden.

Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, es handele sich um eine „konformistische Revolte“, man kratze also nicht an den Grundfesten des Systems sondern bewege sich ausschließlich in einem begrenzten Rahmen, der schlussendlich nur Detailänderungen zulässt, aber an der Gesamtscheiße nichts ändert. Und da ist ja auch was dran. Insbesondere der Forderungskatalog bei FFF liest sich sehr harmlos und ohne Biss. Es fehlt offenbar einem konsensualen Verständnis, dass Kapitalismus und Klimawandel aufs Engste miteinander verknüpft sind. Aber auch das ist nicht überraschend, handelt es sich doch vorrangig um Schüler*innenproteste. Und wie es bei allem Massenprotesten so ist, sind die weder einheitlich noch durch 20 Jahre Marxschule gegangen. Da kann sich der ideologiekritische Internetficker jetzt entspannt zurücklehnen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Adorno und besonders gerne dem späten Horkheimer droppeb like nothing. Alles dumme Kinder, die keine Ahnung von der Welt haben und eh nur in ihrem falschen Bewusstsein schmoren, während man selber ja über den Dingen steht und den vollen Durchblick hat. Dummes Pack, was werden die überhaupt aktiv!

„Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt aber darauf an sie zu verändern.“ Diesen Leitsatz hat Marx seinerzeit jeder emanzipatorischen Bewegung ins Stammbuch geschrieben und dieser Leitsatz wird auch bis in alle Ewigkeit richtig bleiben. Der ideologiekritische Internetficker macht nichts anderes als die Welt zu beschreiben und in der Regel alles schlechtzureden, was einem vor die Kommentarfunktion hüpft. Ändern tut er nichts und will es auch gar nicht, zu bequem ist der Elfenbeinturm, zu sehr bürstet es das eigene Ego, wenn man sich über andere erheben kann. Dabei ist eine Protestbewegung wie Fridays For Future genau das, was eine radikale Linke braucht. Hier stehen Menschen freiwillig auf und artikulieren ihren Unmut auf der Straße. Es ist ein sozialer Protest, der in der Tendenz links ist und der ein Thema anspricht, welches unmittelbar die soziale Frage berührt.

Unter den Auswirkungen des Klimawandels werden nämlich die Armen am meisten leiden. Einmal die ärmeren Länder, welche kaum am Klimawandel Schuld tragen und nur wenige ökonomische Ressourcen besitzen, mit den Änderungen und den Wetterextremen fertig zu werden. Oder sie verschwinden gleich ganz, wie die Inseln im Pazifik. Und es wird die ärmere Bevölkerung in jedem Land treffen, welche nicht die finanziellen Mittel besitzt, sich auf die veränderte Wetterlage einzustellen und nicht einfach mal eben wegziehen kann oder dergleichen. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden solche umfassenden Umwälzungen vor allem auf dem Rücken der Einkommensschwachen ausgetragen. Wenn sich der ideologiekritische Internetficker jetzt also ohne Alternativen anzubieten gegen jede Form des Klimaprotestes stellt, dann wird er zum Reaktionär, der ganz konformistisch das bestehende System stützt und dafür sorgt, dass die Ärmsten darunter leiden müssen. Der Elfenbeinturm ist dann nichts anderes als indirekter Sozialchauvinismus, gepaart mit NS-Verharmlosungen.

Dabei gibt es an Fridays For Future und auch an den Protesten rund um den Hambacher Forst Dinge, die man kritisieren kann und kritisieren sollte. Das Ziel dabei muss aber eine verbesserte Protestbewegung sein, nicht das Ende des Protestes. Letzteres will die ideologiekritische Kartoffel, denn der berechtigte und wissenschaftlich abgesicherte Grund für den Protest und die sozialen Auswirkungen des Klimawandels werden ignoriert. Je mehr solcher Kommentare man liest, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass es vielen dieser Interfickern nur um ein Konservieren des Jetztzustandes ist. Es möge sich bitte nichts großartig ändern und vor allem soll es einen nicht selbst berühren. So was kann man auch gerne als kartoffelige Kleingeistigkeit bezeichnen. Nur kann das gar nicht funktionieren, da der Klimawandel stattfindet und auch jeden Elfenbeinturm der kritischen Kritikkritiker zum Einsturz bringen wird mit seinen realen Auswirkungen. Egal wie oft man Thunberg mit Hitler vergleicht, den Klimawandel interessiert das nicht.

Laura Stern

Gedanken zu dem Mord an Lübcke

Ich bin müde. Müde von dem Aufschreien. Müde davon, dass es trotzdem verhallt.

Immer denkt man „Schlimmer kann es schon nicht kommen“. Es kommt schlimmer. Rechte Todesdrohungen gegen alle, die zu links sind, sind an der Tagesordnung. Selbst wir sind davon betroffen. Wir agieren aber aus einer weitgehenden Anonymität heraus. Aber jede Person, die sich im linksradikalen oder antifaschistischen Spektrum bewegt, kennt diese Drohungen.

Bislang wurden sie oftmals nur belächelt. Die Zeit des Abtuns ist aber lange vorbei. Auch ich hatte schon sehr reale Todesdrohungen. Scharfe Munition im Briefkasten nebst Drohbrief. Das hier ist kein Spiel. Das ist todernst. Linke PolitikerInnen können ein Lied davon singen, noch mehr als wir. Jetzt hat es einen CDU-Politiker (!) getroffen. Weil er flüchtlingsfreundlich war. Weil er sich an die Basics der Menschlichkeit gehalten hat.

In den letzten Jahren sind viele rechte Terrorzellen aufgeflogen, viele andere garantiert nicht. Hunderte von Faschos laufen mit offenen Haftbefehlen frei herum. Sie sind vielleicht auch bereit zu töten. Den Staat juckt das nur bedingt. Da steht auf der Tagesordnung Linke zu drangsalieren. Das Problem von Rechts wird weiter kleingeredet.

Die Gesellschaft scheint auch weitestgehend ruhig zu sein. Ich war mir gestern so sicher, dass ein Aufschrei durch das Land gehen wird. Natürlich war die Festnahme und dass es sich dabei um einen Rechten handelt überall nachzulesen. Die gesellschaftliche Reaktion blieb aber aus. Im Falle Magnitz war man mit Verurteilungen linker Gewalt ganz schnell bei der Hand. Rechter Terror ist aber anscheinend etwas, was man aushalten muss.

Die Kälte, die wir aktuell spüren, scheint immer schlimmer zu werden. Aus dem NSU wurde nichts gelernt. Jedes Mal geht der rechte Terror für eine Woche durch die Presse. Dann ist er verschwunden. Als ob er nie dagewesen wäre. Der Staat macht die drei Affen und der Rest der Hufeisen-Mitte-Gesellschaft gleich mit.

Wir haben uns an die Scheiße gewöhnt. Die Scheiße wird aber nicht okay, nur weil sie immer wieder passiert. Das macht es nur umso schlimmer. Wenn Faschos wieder Umsturzpläne schmieden, kann es nicht das Ziel sein, empört daneben zu stehen. Die Scheiße muss aufhören.

Auf den Staat ist schon lange kein Verlass mehr. Wir müssen uns selbst schützen. Organisiert den Selbstschutz. Schützt euch und eure Liebsten und alle untereinander.

Wir werden uns verteidigen.

[Erich Schwarz]

Heute ist Weltflüchtlingstag.

Im Oktober 2013 hatte Italien die Operation Mare Nostrum gestartet und so in einem Jahr 150000 Menschen das Leben gerettet. Und der Rest Europas? Der war dankbar und stolz. Dankbar dafür, dass das „Problem Flüchtlinge“ noch weit genug weg war. Und stolz darauf, dass Hilfe geleistet wurde. Selbst daran beteiligen musste man sich zunächst ja noch nicht, denn die Kosten für Mare Nostrum trug Italien allein. Doch irgendwann konnte oder wollte Italien das nicht mehr tun und hat andere Länder um Hilfe gebeten. Aber da hieß es noch „Och nö, die Flüchtlinge sind ja an eurer Grenze. Bezahlt das mal schön selber.“ Dann wurde Mare Nostrum eingestellt und Europa sagte sofort „Ach, kein Problem, wir machen jetzt eine eigene Operation mit unseren tollen Leuten von Frontex. Kostet weniger, werden weniger gerettet. Macht aber nichts. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben weit genug weg. Triton, wie der Meereskönig bei Arielle. Klingt doch nach nem Konzept.“ Menschenleben zu retten, hatte schon damals keine hohe Priorität. Grenzkontrollen waren natürlich das Hauptziel, so damals Innenminister de Maizière. Auf die Nachfrage, ob es nicht vielleicht auch das Ziel sei, Menschen aus Seenot zu retten, antwortete das Innenministerium damals, dazu hätte die Operation „weder das Mandat noch die Ressourcen“. Menschenleben zu retten, war in Europa, einem der reichsten Kontinente der Erde, also zu teuer. Das Mittelmeer zum Massengrab.

Auch konnte Italien die Versorgung für die dort eintreffenden Geflüchteten nicht mehr leisten. Hilfe aus Europa kam nicht und so wurden diese weitergeschickt. Jetzt war das „Problem Flüchtlinge“ direkt vor der Tür. „Aber das geht so doch nicht!“ und „Aber Italien muss sich an geltendes EU-Recht halten!“ und „Aber es gibt doch die Dublin-Regelung!“ usw. Jetzt war das Geschrei von Seiten der Politik und auch aus Teilen der Bevölkerung groß. In der Zivilgesellschaft jedoch etablierte sich zunächst der Wunsch, den Geflüchteten zu helfen. Das, was wir eine Willkommenskultur nannten, war überall in Deutschland zu finden. Der Schreck und die Empörung über das Ertrinken im Mittelmeer waren groß.

Einen Einschnitt bildete der Tod von Aylan Kurdi im September 2015. Ein Tod, der nicht hätte sein müssen und den die EU mit ihrer Politik der geschlossenen Grenzen mit verursacht hat. Geboren wurde Aylan Kurdi 2012. In diesem Jahr wurde der EU der Friedensnobelpreis verliehen. Ich kann hier kaum so viel Zynismus in meine Worte legen, wie es dieser Umstand verdient. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt und berührte viele Menschen und das war kein Einzelschicksal. Der Name Aylan Kurdi wurde ein Sinnbild für das Sterben im Mittelmeer. Er wurde der Fingerzeig auf das Scheitern der EU wie er deutlicher nicht sein konnte.

Daran sollte sich jede/r erinnern. Und Erinnerungen wurden geschaffen wie z.B. das Graffiti am Frankfurter Osthafen. Doch dies wurde bereits damals zweimal mit rechten Schmierereien überdeckt. Denn die Fragen um Deutschlands und Europas Umgang mit den Geflüchteten stieß reaktionäres, nationalistisches Gedankengut, das in der Gesellschaft zwar nie ganz weg war, immer unterschwellig verankert war in der Form von beispielsweise latentem Alltagsrassismus oder institutionellem Rassismus, mit aller Macht an die Oberfläche. AkteurInnen wie die AfD und andere rechte Gruppen, Organisationen und Strukturen, die vorweg gingen, um solche Gedanken wieder sagbar zu machen, trugen es mitten in die sogenannte „Mitte“ hinein.
Man spürte, wie der Wind sich drehte, denn „wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen“ (Gauland, 2016). Viele lernten „die grausamen Bilder aus[zu]halten“ (Gauland, 2016). Mit der Wahl von Sebastian Kurz zum österreichischen Kanzler wurde ein weiterer Schritt in die Richtung getan, Geflüchteten ihren Weg zu verunmöglichen, nämlich mit der Schließung der Balkan-Route.

Heute interessiert viele EuropäerInnen die Seenotrettung und das Schicksal so vieler Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, längst nicht mehr. Wenn in Paris die Notre Dame niederbrennt, kommen am Folgetag mehr Spenden zusammen als für Seawatch in einem ganzen Jahr. Schlimmer noch: Nicht nur, dass Hilfe ausbleibt, die Seenotrettung wird kriminalisiert. Menschen, die sich dort ehrenamtlich einsetzen, um andere zu retten, müssen mit Haftstrafen rechnen. Das alles getragen vom Italien, das einst mit seiner Operation Mare Nostrum eine Vorbildfunktion erfüllt hat. Doch auch in Italien wie in vielen weiteren EU-Ländern weht längst ein anderer Wind.

Aylan Kurdi scheint vergessen. Das Sterben im Mittelmeer ist grausame Realität, an die sich, wie Gauland es sich gewünscht hatte, viele Menschen gewöhnt zu haben scheinen. Doch wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Ich will mich nicht daran gewöhnen und ich werde mich nicht dran gewöhnen. Deshalb sei mit dem noch vor vier Jahren so wirkmächtigen Bild von Aylan Kurdi heute am Weltflüchtlingstag daran erinnert, dass dies ein Schicksal Tausender ist und die Wirkmacht dessen noch genauso sein muss wie vor vier Jahren. Sonst hat die AfD ihr Ziel erreicht.

[Sophie Rot]