Das Private ist politisch
Männer unter sich
Für was eigentlich kämpfen?
Lasst uns konkret werden
Wer in den letzten Tagen unter dem Hashtag #Gamestonks einen Blick ins Twitterverse warf, der wurde Zeuge eines bizarren Spektakels: Ein (zumindest letzte Woche noch) etwa 12 Mrd Dollar schwerer Hedgefonds namens „Melvin Capital“(MC) liefert sich einen ungleichen Kampf gegen eine ganze Armee aus Kleinanleger*innen, die sich auf dem Subreddit „Wall Street Bets“ zusammengefunden und organisiert hat. Das Ziel: durch organisierten Aktienkauf die angeschlagene Videospiel-Einzelhandelskette „GameStop“ vor dem Ruin zu retten und damit die Leerkaufwette von MC auf die Marktpleite von GameStop zu verhindern.
Der momentane Stand: MC hat wohl bisher um die 5 Mrd Dollar an Marktwert eingebüßt und musste, wie Hedgefonds-Manager Gabe Plotkin zerknirscht einräumte, milliardenschwere Bailouts von der Konkurrenz annehmen, damit MC nicht komplett baden geht. Dazu sahen sich andere Hedgefonds genötigt teils selber zu verkaufen und Verluste einzufahren. Insgesamt 70 Milliarden Dollar betragen die Verluste auf Leerkaufwetten an der Wall Street allein in diesem Jahr – und ein beachtlicher Teil davon ist der Fastpleite von MC zuzuschreiben. Zwei Hedgefonds hat es (Stand Freitag 12:00) wohl erwischt und weitere „Marktbereinigungen“ sind nicht ausgeschlossen. Der freie Markt tut freie Markt-Dinge und auf einmal ist das Geschrei groß.
Was sind Leerkaufwetten? Man verkauft Aktien an einem bestimmten Zeitpunkt zur gerade aufgerufenen Summe und vereinbart, die Aktie nach einem bestimmten Zeitpunkt zurückzukaufen, in der Regel eine Woche später. Man spekuliert darauf, dass die Aktie in der Zeit an Wert verloren hat und man sie zu einem günstigeren Preis zurückkaufen kann. Man steht also im Idealfall am Ende mit gleich viel Aktien und mehr Cash da. Dadurch, dass man zu Beginn der Wette viele Aktien abgestoßen hat, gibt man zudem einen starken Impuls zur Kurssenkung. Klingt nach Marktmanipulation? Damn right. MC hat nun das Pech, dass der Kurs gezielt gestützt wurde und man nun das zigfache des Verkaufspreises vom Montag hinblättern muss. Wette verloren, Fonds pleite.
Man zeigte sich in Folge dessen von Kapital-Seite tief empört, dass da ein paar Gamer-Nerds so einfach den Spieß umgedreht hatten und im Zeitraum weniger Tage Kapitalanlagen im Wert mehrerer Milliarden US-Dollar durch den Reißwolf gejagt hatten. So empörten sich manche Wallstreet-Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten im Live-Fernsehen über die Affäre. Ja wissen diese Zoomer-Kids denn nicht, dass in diesen Wertpapieren, die da gerade den Bach runter gehen, auch Tante Hedwigs kapital-basierte Privatrente dabei ist? So oder so ähnlich der Erregungskorridor. Zusätzlich zeigte man sich doch nicht ganz so einverstanden mit dem freien Markt und hat inzwischen den Handel mit Gamestop-Aktien weltweit beschränkt und teilweise ausgesetzt. Erst in den USA, als dann international aus Solidarität weitere Stützkäufe von Gamern und anderen erfolgten war auch hier Feierabend mit dem freien Handel. Das Kapital hat tatsächlich Angst vor den Resultaten eines freien Marktes, an dem durch neue Apps auf einmal sehr viel mehr Leute teilnehmen. Oh the irony.
Während dessen herrscht erwartungsgemäß großer Jubel und Party-Stimmung bei der Subreddit-Crowd. Man hat in einem Kampf „David gegen Goliath“ die Wallstreet Fat Cats bei ihrem eigenen Spiel geschlagen und diese bis auf die Knochen blamiert. Und dieser Sieg wird im Meme-Game gerade in vollen Zügen ausgekostet – und das durchaus zurecht. Die Aktie von GameStop war Ende letzten Jahres teilweise um die 6 Dollar wert, das Unternehmen ist in Zeiten von Steam und Co ein anachronistisches Auslaufmodell. Ideal also für Verlustwetten. Doch die Aktie wurde innerhalb weniger Tage in dieser Woche von knapp 20 Dollar auf zeitweise über 420 Dollar gepusht. Begonnen hatte die Organisation des Subreddits bereits in den letzten Wochen. Erst durch Mundpropaganda und dann durch einen Tweet von Elon Musk noch einmal gepusht nahm die Aktion mit der Leerkaufwette am Montag richtig Fahrt auf.
Eines muss man der ganzen Sache lassen: der Unterhaltungswert ist absolut ohne Gleichen. Von selbsternannten Wirtschafts-Expertinnen und verzweifelten Ökonomen, die vor laufenden Kameras einen denkwürdigen Meltdown nach dem anderen hinlegen, bis hin zu den Qualitäts-Memes, die nun das Internet fluten – das Ganze ist ein Fest! Fast in Tränen brechen sie aus, das Manager Magazin schreibt in einer Mischung aus Dunning Kruger und blanker Panik von einer „Mischung aus Klassenkampf, Machtrausch und schlichter Gier“. Oh those tears of unfathomable sadness. Yummie.
Bei genauerer Betrachtung wirft diese Affäre aber auch ein Schlaglicht auf das System Kapitalismus als Ganzes und seine Zusammenhänge. Leider dreht sich die Debatte meistens in den gewohnten, reflexhaften Bahnen, bei der immer wieder die analytisch falsche Unterscheidung in raffendes und schaffendes Kapital in mal mehr, mal weniger Untertönen mitschwingt. Weil es sich um die Wallstreet und dubiose Finanzmarkt-Geschäfte dreht, ist das mediale Framing der Debatte vorprogrammiert. Es werden wieder die Floskeln vom „Kasinokapitalismus“ hervorgekramt, und man ist sich über die meisten Lager hinweg einig im Hass und der Häme auf die Wallstreet-Bankster, vergisst aber darüber hinaus, was die Existenz von Hedgefonds mit dem Kapitalvolumen ganzer Volkswirtschaften eigentlich tatsächlich für das System Kapitalismus als Ganzes bedeuten.
Der nächste Part wird sehr theoretisch, weshalb hier vorab eine Art tl:dnr aka Zirkualtionssphäre für Dummys umrissen wird, um den Sachverhalt dann noch einmal komplexer darzulegen. Grundlegend geht man von zwei verschiedenen Kreisläufen aus Güter- und Dienstleistungssektor zusammengefasst als Produktionssphäre und den Banken- und Finanzsektor als Kapitalzirkulationssphäre. Auf der einen Seite werden Dinge produziert und Dienstleistungen erbracht, auf der anderen Seite wird das dabei erwirtschaftete Geld verwaltet und wieder neu investiert. Ziel ist es, jeweils mit einem Plus am Ende rauszukommen und dann wieder zu produzieren und zu zirkulieren und immer so weiter. Kapitalismus halt.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Zirkulationssphäre aber immer weiter von der Produktionssphäre entkoppelt und führt ein Eigenleben, welches nicht mehr auf den Waren und Dienstleistungen basiert. Wer sich an die letzte große Krise ab 2008 erinnert: Man hat Wertpapiere aus Krediten gemacht und diese dann in weiteren Wertpapieren zusammengefasst und dann Versicherungen darauf verkauft welche dann wieder Wertpapiere wurden. Klingt kompliziert und genau das ist auch gewollt. Man stellt sich gegenseitig Zertifikate aus, vertickt diese dann und solange alle mitmachen und die Preise steigen, ist auch alles gut. Egal, wie es in der Produktionssphäre gerade ausschaut. Man kann es auch Esoterik für Leute im Anzug nennen.
Ein aktuelles Beispiel für die komplette und irrationale Entkopplung: Während in den USA teilweise mehrere dutzend Millionen Menschen durch die Pandemie arbeitslos wurden, erzielten die Börsen Rekordmarken. Und das in einem Land, welches für 2019 folgende Statistiken vorzuweisen hatte:
– 48 Prozent der Bevölkerung haben niedrige Einkommen
– 1 von 5 Kindern geht hungrig ins Bett
– die Hälfte der Bevölkerung hat einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung
– über 2 Millionen Personen im Gefängnis, welche dann in einer Form der modernen Sklaverei Arbeit verrichten
– große Unternehmen wie Amazon zahlen keine Steuern, bekommen aber zig Milliarden Unterstützung
Aber hey, Hauptsache der Börse geht es gut.
Guckt man sich nun die Kapitalmenge an, die so in solchen Hedgefonds zusammengefasst ist, stellt man fest, dass diese gewaltig ist. Weltweit handelt es sich dabei um einen Wert um die 3 Billionen US-Dollar, der größte Hedgefonds (Bridgewater Associate) hat dabei einen Wert von knapp unter 100 Milliarden Dollar. Es ist also eine unvorstellbare Summe, die da in der Kapitalzirkulationssphäre vor sich hin gammelt und verwertet werden muss. Die Summen sind in der Höhe durchaus mit den Staatshaushalten einiger Länder vergleichbar. Allgemein sind die Finanzsysteme aktuell bis zum Bersten mit billigem Geld gefüllt. Und es fließt wegen der Billigzins-Politik der Notenbanken immer mehr frisches Geld nach. Im Bankensektor weiß man schon gar nicht mehr, wohin damit.
Ursprünglich hatte der Bankensektor in der Ökonomie als erste und vorrangigste Aufgabe nur Eines zu tun: Dem privaten Sektor (Bausparenden, Hauskäufer*innen, etc.) und vor allem der produzierenden Industrie Kapital in Form von Krediten zur Verfügung zu stellen, um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten – und anschließend den durch den Verkauf eben dieser Güter und Dienstleistungen generierte Umsatz wieder aufzunehmen. Das Spiel läuft so: Kapital fließt aus dem Bankensektor in die Produktion, um dort nach der „Verwertung“, also der Verwandlung von Kapital in mehr Kapital als vermehrte Kapitalsumme (Mehrwert) zu den Banken zurückfließt. Ein eigentlich einfacher Kreislauf, den das Kapital da immer wieder durchläuft. Aus diesem Grund findet man bei Marx auch die Begriffe „Kapitalzirkulationssphäre“ für den Bankensektor und „Produktionssphäre“ für den Industrie-Sektor, um die Phasen im Verwertungszyklus des Kapitals zu beschreiben.
Nun ist es so, dass diese „Kapitalzirkulationssphäre“ nicht mal eben so beliebig viel Kapital aufnehmen kann. Kapital unterliegt dem Zwang zur permanenten Selbstverwertung. Sprich: Es muss zwangsläufig mit der Kohle etwas gemacht werden; mit dem Ziel, am Ende aus der „Investierten“ Kapitalsumme mehr Kapital zu erzeugen. Alle, die schon mal einen Bausparvertrag bei einer Bank am laufen hatten, wissen, was gemeint ist. Wenn man sein Geld zur Bank bringt, dann will man da seine 2-3 % Rendite drauf haben.
Dementsprechend kann nur so viel Kapital von der Zirkulationssphäre aufgenommen werden, wie auch gleichzeitig in die Verwertung gegeben werden kann. Sollte die Verwertung von Kapital ins Stocken geraten, weil schlicht weg zu viel Kapital in die Verwertung gepumpt wird, gerät Kapital in die Krise – es herrscht Überakkumulation!
Übertragen auf die jetzige Situation an den Finanzmärkten muss man feststellen: Das System befindet sich in eben solch einer Phase der Überakkumulation. Und das schon seit längerer Zeit. Die mit Kapital gemästete Zirkulationssphäre, die in der klassischen Ökonomie eigentlich nur die Aufgabe hatte, den Kapitalverwertungskreislauf beständig am Laufen zu halten, erstickt nun fast am eigenen Gewicht – eine Folge der Überakkumulationskrise, die seit 2008 schwelt und nur durch weiteres Aufblähen der Kapitalmärkte mit billigem Geld aus den Notenbanken geradeso eben am Zusammenbrechen gehindert werden konnte.
Um einen weiteren Krisenschub zu verhindern, der nicht nur mit der Vernichtung des überakkumulierten Kapitals, sondern potentiell mit dem kompletten Systemzusammenbruch enden könnte, müssen nun also alternative Wege gesucht werden, um die abstrakte Wertverwertung sicherzustellen. Selbst dann, wenn dies auf Kosten gesellschaftlichen Reichtums wie Immobilien, öffentlicher Daseinsfürsorge oder schlichtweg von Jobs geht. In diesem Sinne, also der abstrakten Logik der Kapitalverwertung, erfüllen milliardenschwere Hedgefonds, die völlig abstruse Finanzprodukte aus zusammengestückelten Ramschpapieren verkaufen und auf die Vernichtung ganzer Volkswirtschaften wetten, einen spezifischen Zweck – sie halten das Spiel aus ewiger Wertverwertung am laufen.
Stonks is rising
Es zeigt sich also an diesem Fall mal wieder die zutiefst widersprüchliche, ja geradezu irrsinnige Natur dieses Systems. Statt dass Menschen ihre Jobs, ihre Krankenversicherung und ihre Wohnungen durch eine Wirtschaftskrise verlieren, passiert das alles nun unter Umgehung der Krise, zum Beispiel durch Wetten auf Aktienleerkäufe. Entweder das, oder es geht vielleicht der private Rentenfond, auf den viele Rentenbeziehende zum Lebensunterhalt angewiesen sind, in die Binsen. (In den USA ist das sehr viel weiter verbreitet als hier.) Das alles nur, weil er Teil eines Hedgefonds war, der sich beim Wetten verspekuliert hat. Die Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums und der Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird dem abstrakten Primat der Wertverwertung untergeordnet. Dabei muss es ja nicht einmal einen Anlass aus der Produktionssphäre geben. Einfach mal gegen ein paar Gamer verzockt und schon sind mehrere Milliarden weg. Das alles wird gerade aus liberalen Kreisen oft ohne den geringsten Anflug von Ironie als das „beste System, das es gibt“ bezeichnet. Leute wie Friedrich Merz sagen dann sogar noch „Hold my Koolaid“ und wollen diese Ausformungen des Finanzsektors stärken und ausweiten. Aber natürlich nur, solange das Großkapital am Drücker ist.
Im Angesicht solcher völligen Gaga-Verhältnisse steht aber auch fest, dass man bei allem Spektakel um blamierte Hedgefond-Manager, durchdrehende Ökonomen (es sind ja vorrangig Männer) und Kapitalisten-bezwingende Vietcong-Gamer sich gerade als Linke nicht bei „Wer ist hier Schuld“-Spielen verzetteln darf. Man kann sich zurücklehnen und dem Karneval der Finanzkulturen beste Unterhaltung abgewinnen, aber man muss immer den Blick aufs große Ganze im Sinne der Kritik an den Verhältnissen wahren. So intuitiv sympathisch einem die Reddit-Kampagne auch erscheinen mag und so sehr man dort einigen Leuten auch den Gewinn gönnt, den sie mitnehmen können – sie sind selber Resultate des grundlegend falschen Systems.
Die Hedgefonds, die Banken und die Börse sind eben sowenig die „bösen“ und „raffgierigen Heuschrecken“, als die sie in einer falschen und gefährlichen Kritik immer mal wieder dargestellt werden. Sie sind lediglich die Symptome eines größeren Zusammenhangs. Selbst wenn man sie mit Regelungen einschränkt und die schlimmsten Auswüchse unterbindet, ein sogenannter „ethischer Kapitalismus“ ist immer noch ein System der Ungleichheit und Ausbeutung, dessen innere Logiken nicht aufgehoben wurden und welches immer wieder von sich das hervorbringt, was man gerade beobachten kann. Nein, das Irrenhaus heißt nicht Hedgefonds, sondern Kapitalismus.
Unsere Kleidung gehört zu den Dingen, die so alltäglich sind, dass wir uns in der Regel kaum Gedanken über sie machen jenseits der Frage, was man denn anziehen solle. Und da sie so alltäglich ist, lassen sich hier einige Beobachtungen im Kleinen anstellen, welche charakteristisch für die Gesellschaft als solche sind. In einer kleinen Textreihe soll dem ein wenig auf den Grund gegangen werden. Der erste Teil wird sich dem wirtschaftlichen Aspekt widmen.
Vor Memes kann man sich heutzutage in den sozialen Netzwerken nicht retten, sie sind ein fester Bestandteil. Teilweise greifen sie auf bestimmte Modeerscheinungen zurück, wie zum Beispiel Sozialcharaktere der Marke „Boomer“, „Karen“ oder auch „alte weiße Männer“. So schnell wie sich einige im kollektiven Gedächtnis verankern, genauso schnell können sie auch wieder verschwinden. Gerade wegen der Vereinfachung und Zuspitzung bestimmter Situationen und Ansichten, die durch die Templates ermöglicht wird, sind Memes so erfolgreich. Sie können keine fundierte Analyse der Verhältnisse ersetzen, sind aber auch ein nicht zu unterschätzender Teil im agitatorischen Werkzeugkoffer geworden.
Seit etlichen Monaten fällt dabei auf, wie sich durch Templates Teile der Incelideologie bis tief in linksradikale Kreise vordringen und dort munter reproduziert werden. Als aktuelles Beispiel dient das Meme mit dem alles sagenden Titel „Soyjak Fans vs. Chad Fans“. Auf was spielt dieses Template also an? „Soyjak Fans“ greift das aus rechtsradikalen Kreisen stammende Zerrbild der sogenannten „Soyboys“ auf. Damit ist nicht nur das als linksgrünversifft gesehene Sojaessen als Symbol für vegane Ernährung gemeint. Eigentlich geht es darum, dass im Soja Östrogene enthalten sind. Wer Soja esse verweibliche dadurch – für Rechte mit ihrem Hang zu Patriarchat und Maskulinismus ein klares Hassobjekt des Spotts. Bier enthält übrigens auch Östrogene, aber an Tatsachen ist man dort ja eher selten interessiert.
„Chad Fans“ spielt auf die „Chads“ an, eine der beiden zentralen Figuren der Incelideologie. „Chads“ werden bestimmte körperliche Eigenschaften zugeschrieben, die sie von Natur aus befähigen würden quasi endloss Frauen abzubekommen und wer diese körperlichen Eigenschaften nicht hat, wird Jungfrau bleiben. Denn wir alle wissen ja, Frauen sehen ein markantes Kinn und schwupps sind sie verliebt und schwanger. It’s magic! Bei Incels dient diese strenge Aufteilung dazu, sich in Foren gegenseitig schlecht und bis hin zum Selbstmord zu reden – oder zum Terroranschlag gegen Frauen, weil diese angeblich nur auf Chads stehen und nicht gewillt sind, die bescheidenen Anforderungen der Incels ohne jegliches Klagen zu erfüllen. Man diskutiert auch darüber, dass der Staat Männern die Frauen zur freien sexuellen Verfügung zuteilen solle, damit nicht nur Chads in Genuss von Sex und schönen Frauen (am besten Jungfrau und mit 30 Jahren Erfahrung im Bett ausgestattet) kämen.
Im Kern dreht sich Incelideologie um eine Form der gesellschaftlichen Hierachie und Ausgrenzung, welche anhand von maskulinistischen Idealen und der Zuschreibung körperlicher Eigenschaften eine Art Coolnessfaktor als alles bestimmendes Ordnungs- und Verteilungsprinzip der Ressourcen Ansehen und Frauen/Sex annimmt. Wer dabei keine Rolle spielt sind Frauen, sie dienen nur als Fick- und Hassobjekt in Personalunion.
Und genau diese Form der Coolness als alles entscheidender Faktor wird in den Memes weitertransportiert. Jedes „Virgin xyz vs Chad xyz“-Meme trägt die Ideologie weiter, es gehe nur um die Coolness. Man müsse bestimmte Eigenschaften erfüllen, um zu den coolen Kids zu gehören, die dann wie in diesen ganzen schlimmen Filmen die Kings der Highschool sind und sich auch genauso verhalten dürfen gegenüber den nicht coolen Kids. Dieses Denken ist die Grundlage dieser Memes und man bekommt es auch nicht dadurch weg, dass man es mit linken Inhalten versucht zu konterkarieren. Die Templates selber funktionieren nur, wenn man Coolness als erstrebenswerten Faktor annimmt. Denn es geht den Memes nicht darum den Inhalt ins Zentrum zu stellen, es geht um eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft, bei der die nicht-coolen Leute am unteren Ende der Hackordnung stehen und Ausgrenzung sowie Benachteiligung deren quasi natürliches Schicksal sei. Warum man dies als Linke in jedem Fall ablehnen sollte muss nicht erklärt werden – zusätzlich zur eklatanten Frauenfeindlichkeit.
Geht daran gerade in Zeiten der Coronawirtschaftskrise die Welt zugrunde? Sicher nicht. Gibt es wichtigere Themen? Sicherlich. Diese Seite dient aber auch dazu, persönliche Beobachtungen und Ansichten zu teilen, selbst wenn sie nur eine subjektive Relevanz besitzen. Und bei den hier verhandelten Memes und Templates stößt inzwischen täglich sauer auf, wie sorglos man in linken Kreisen mit Memes umgeht, welche auf den Schwachen und Ausgegrenzten herumhacken und die Pointe auf die Kosten derer machen, die eh im sozialen Gefüge unten stehen. Und es ist schreckend, wie weit sich der Kern der Incelideologie im Zeitgeist verankern konnte.
Bei den aktuellen „Hygienedemos“ treiben sich auch Personen des linken Spektrums herum. Auch wenn man dies gern leugnen möchte, ist es so. Zugegebenermaßen gehören sie zu einem linken Spektrum, das man schon vorher etwas belächelt hat. So mobilisierte die MLPD bereits für diese Demos. In München organisierte sie eine Querfrontveranstaltung, auf der auch ein Redner des faschistischen III. Wegs auftreten durfte. Auch andere Splittergruppen aus dem autoritär-marxistischen Bereich warben nicht nur dafür, sondern nahmen auch daran teil.
Die größte linke Gruppe, die sich auf den „Hygienedemos“ herumtreibt und deshalb als Querfront bezeichnet werden kann, sind jedoch wohl die „Altlinken“, die die 68er Bewegung maßgeblich mitprägten. Natürlich sind nicht alle Altlinken so. Im Gegenteil: viele warnen vor jenen, die jetzt zusammen mit Nazis, die sie früher noch gehasst haben, gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona protestieren.
Klaus der Geiger, der sonst im Hambi oder davor bei Castorprotesten spielte, tritt nun für die „Hygienedemo“ in Köln auf. Er ist beileibe kein Einzelfall, sondern wahrscheinlich nur der prominenteste Fall. Fragt man selbsternannte Linke, warum sie bei diesen Querfront-Veranstaltungen sind, bekommt man oft als Antwort, dass „es ja um die Sache ginge“. „Die Sache“ ist wohl in diesem Falle die ablehnende Haltung „gegen die da oben“. „Die da oben“ schränken unnötigerweise unsere Handlungsfreiheit ein, so heißt es. Natürlich ist es erstmal aus linker Sicht ablehnenswert, wenn die Freiheit eingeschränkt wird. Jedoch wird die Freiheit aktuell nicht grundlos und willkürlich eingeschränkt, sondern um Infektionen vorzubeugen und so Menschen zu schützen, besonders Risikogruppen.
Schwurbeleien sind bei den 68ern nix Neues und weit verbreitet. Sinnsuche und Spiritualität waren dort schon immer Teil des Ganzen. Die politische Arbeit war sinnstiftend und identitätsbildend. Die Hippie-Bewegung mit ihren esoterischen und anti-rationalen Inhalten verband sich mit der politischen Arbeit. Es überrascht daher nicht, dass die 68er auch heute noch offen sind für „alternative“ Denkmodelle. Ein gefundenes Fressen für Leute wie KenFM oder andere „Truther“, die so auch Nicht-Rechte für ihre Denkweise begeistern können. Denn auch bei Ken Jebsen, Attila Hildman und Xavier Naidoo finden sich einfache Erklärungen für komplexe Probleme, garniert mit einem Hauch Esoterik. Denn nur wenige erleuchtete Eingeweihte wissen, was wirklich geschieht. Genauso sahen sich auch die 68er damals und auch heute noch und finden sich heute bei einem gescheiterten Journalisten, Koch oder Sänger wieder, die jetzt munter Verschwörungstheorien verbreiten.
Denn auch das Kapitalismusverständnis der 68er-Bewegung war in der Masse simpel. Ausgehend von einer antiimperialistischen Grundhaltung wurde die Welt in „gut“ und „böse“ eingeteilt. Gut waren in jenem Falle die unterdrückten Völker, schlecht die kapitalistischen Unterdrücker. Eine komplexe Realität wie der Kapitalismus lässt sich jedoch nicht so leicht in ein Gut/Böse-Schema pressen. Zumal es einen strukturell antisemitischen Grundton aufweist, da bestimmten Ländern ein kapitalistischer aka ausbeutender Charakter oder eben ein antikapitalistischer bzw. ausgebeuteter Status zugeschrieben wird. Der Kapitalismus wird nicht als komplexes System verstanden, sondern personalisiert.
Der Antisemitismus eint die 68er mit den Verschwörungsheinis. Auch wenn sie selbst vielleicht nicht verstehen, warum ihr Denken antisemitisch ist. Selbst ohne direkten Hass gegen jüdische Menschen ist es das. Unterkomplexe Lösungen werden von Jebsen und co. vorgekaut und die Hippies käuen sie wieder. In ihren Köpfen und auch in ihrem politischen Selbstverständnis macht das Sinn. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Altlinke, Hippies und 68er auf den „Hygienedemos“ auftauchen. Name und auch ihr (damaliger) Aktivismus war vielleicht links, aber ihre Ideologie nie, da sie auf regressiven Grundprämissen fußt. Man wird solche Leute auch nicht mehr vom Gegenteil überzeugen können.
Hier sind es halt nicht mehr die USA oder jüdische Menschen, die als der personifizierte Kapitalismus verstanden wird, sondern Bill Gates, der mit Hilfe eines finsteren Plans die Welt unterjochen wird. Hier verbindet sich die unterschwellige Anfälligkeit für Verschwörungstheorien mit einem flachen Verständnis von Kapitalismus. Schon können sich selbst als Linke verstehende Menschen für ein Querfront-Projekt gewonnen werden.
Für Linksradikale, die wirklich diesen Namen verdienen, gilt es daher sich scharf öffentlich von diesen Querfront-Linken abzugrenzen. Sie haben mit ihrem strukturell antisemitischen Denken, ihrer regressiven Kapitalismuskritik und ihrer spirituell angehauchten Sinnsuche nichts mit uns gemeinsam. Dies muss auch öffentlich deutlich werden. Ich will nicht mit solchen Hippies in einen Topf geworfen werden, die unsolidarisch Menschen opfern wollen, um sich die Haare schneiden lassen zu dürfen.
Vor einem Monat haben wir am 1. Mai eine Recherche mit Warnung zu Lisa Daimagüler alias Lilly Zeppenfelder veröffentlicht. Aufgrund besonderer Umstände wurde beschlossen, diese Recherche einen Monat zurückzuhalten. Die glaubhaft dargelegte Situation erzwang ein Abwägen zwischen partiellem Opferschutz auf der einen Seite und der Warnung vor ihr auf der anderen Seite. Ein Monat erscheint uns als angemessene Karenzzeit, um sich mit den besonderen Umständen arrangiert zu haben, weshalb der erweiterte Artikel einen Monat später wieder öffentlich zugänglich ist.
Im Zuge der Erstveröffentlichung wurden wir als Seite von einigen Personen angeschrieben, es gab Solidaritätsposts mit Lisa (welche sich zum Teil auf die besonderen Umstände bezogen, zum Teil auf unsere Warnung) und es gab vor allem Voicemails von Daimagüler selber. Sie hat an diesem Abend offenkundig vielen Personen entsprechende Nachrichten geschickt, uns sind mindestens vier Fälle geläufig und wir haben zehn Voicemails vorliegen und abgespeichert. In der Zwischenzeit ist unabhängig von uns ein weiterer Rechercheartikel veröffentlicht worden. Die Informationen darin sind zum Teil ungenau, das angegebene Instagram-Profil ist nicht ihres. Dennoch stützt dieser Artikel diese Recherche hier und es finden sich weitere Voicemails von Daimagüler am Ende des Artikels. Exakt solche Voicemails haben auch wir vorliegen.
Besonders merkwürdig wirkt es in Anbetracht dessen, dass Daimagüler von 2015 bis Dezember 2018 eine Beziehung mit dem bekannten Siegener Neonazi Sascha Maurer (NPD, Gründungsmitglied der Freien Nationalisten Siegerland, später AfD) führte. In ihren Voicemails hat sie diese Beziehung bestätigt und berichtet unter anderem von einer NSDAP-Fahne in Maurers Zimmer. Interessanterweise gibt es einen FB-Post von Daimagüler datiert auf den 23. Juni 2018, in dem sie sich öffentlich darüber echauffiert, wegen ihrer rechten Kontakte keinen Einlass in eine Lokalität bekommen zu haben. In diesem Post streitet sie diese Kontakte ab – war aber zu diesem Zeitpunkt mit einem ehemaligen NPD-Kameradschafter zusammen, der eine NSDAP-Fahne im Zimmer zu hängen hatte. Diese Form des öffentlichen Lügens, der Falschdarstellungen und Verdrehungen ist typisch für ihr Gebahren.
Boßdorf ist Teil des Boßdorf-Clans. Infos dazu findet man unter in diesem Indy-Artikel vom 10. Mai 2020. Ihr Vater war im Thule-Seminar aktiv, ihre Mutter Irmhild arbeitet für einen AfD-Abgeordneten und Reinhild plus Schwester waren bei den faschistischen Identitären aktiv. Reinhild hat diese letztes Jahr verlassen und macht nun mit ähnlichen Inhalten unabhängig von der IB faschistischen Aktivismus. Laut Aussage Daimagülers hat man sich auf einer Burschenschaftsparty getroffen und sei nicht weiter miteinander bekannt. Es reicht aber offensichtlich dafür aus, dass Daimagüler das Profilbild von Boßdorf liked und Sticker von ihrem Post-IB-Projekt rumzuliegen hat, welche dann stolz unter einem Pro-Salvini-Post gezeigt werden. Hier ist dann wieder das typische Muster des Tatsachen verharmlosen und offenen Lügens zu beobachten. Daimagüler ist offenkundig gut in die aktuelle rechte Szene vernetzt und pflegt einen freundschaftlichen Umgang.
Der 1. Mai steht wieder an. Im Gegensatz zu den vorherigen Jahren läuft er 2020 anders ab, die übliche Folklore zwischen Riotselbstbespaßung und dem Schwur auf die Produktivkraft des Proletariats fällt coronabedingt weitestgehend aus. Gut so. Allein schon der Name sollte einem nur mit Graus über die Lippen gehen: „Tag der Arbeit“. Was soll das überhaupt sein? Warum braucht man einen Tag, der die Arbeit feiert? Wer einer Lohnarbeit nachgeht, hat in der Regel vier, fünf oder sechs Mal in der Woche „Tag der Arbeit“. Und zu feiern gibt es daran wenig. Wer hat denn Spaß daran, acht Stunden auf einen Bildschirm zu gucken, Gäste zu bedienen, Wohnungen zu putzen oder Bedienungsanleitungen und Programm-Dokumentationen zu übersetzen? Vielmehr ist es doch die Arbeit, die uns von dem abhält, was wir wirklich machen wollen. Es ist die Arbeit, die unsere Selbstentfaltung behindert, die uns am Leben hindert.
Die Arbeit taktet unser Leben, alles ist auf sie zugeschnitten. Die großen Entscheidungen im Leben sind oft eine zwischen diesem und jenem auf der einen und der Arbeit auf der anderen Seite. Alles muss mit der Arbeit abgestimmt werden: Familie, Freundeskreis, kulturelles Leben, Sport, Hobbys, Reisen, Entspannung und so weiter. Alles muss sich dem Diktat der Arbeit unterwerfen. Und sei es dadurch, dass ein sich Teilzeit schimpfendes Arbeitspensum die finanziellen Möglichkeiten stark einschränkt und somit weniger Optionen zur Gestaltung der restlichen Zeit offen stehen. Diesem Zwangskorsett können nur Wenige entfliehen, der Großteil verweilt in einem Gefängnis abstrakter Herrschaft, quält sich einem ständig wiederholendem und reproduzierendem Trott. Das Leben richtet sich nach den Bedürfnissen der Arbeit, nicht die Arbeit nach den Bedürfnissen des Lebens. Im Kapitalismus brauchen wir Geld für unsere Lebensqualität. Gleichzeitig ist der Gelderwerb oftmals das genaue Gegenteil eines schönen Lebens. Ein Unding eigentlich.
Trotzdem ziehen jedes Jahr Zehntausende auf die Straßen und feiern dieses Mühsal. Es ist eine Absurdität sondergleichen. Diejenigen, die unter der Knechtschaft des Kapitals in Abhängigkeit gehalten und deren Mehrwert zur Profitmaximierung geraubt wird, feiern eben dieses Verhältnis. Jahrein, jahraus, Gefangene der Lohnarbeit mit Stockholmsyndrom, die ihrem Ausbeutungsverhältnis gar noch einen Tag widmen. Allen voran die Gewerkschaften sind Zeugnis der vollständigen Verelendung der Werktätigen und abhängig Beschäftigten. Seit Gründung der ersten sozialistischen Parteien befinden sie sich in einer steten Abwärtsbewegung aus Integration ins System und damit einhergehender Entradikalisierung. Ging man früher gegen den Kapitalismus auf die Straße, besetzte Fabriken, organisierte Generalstreiks und legte notfalls das Land lahm, ist man heute zum Bittsteller verkommen, den man mit ein paar Prozenten hier und da abspeisen kann. Ein Ende der Arbeit steht gar nicht erst zur Debatte, vom Sozialismus will man in den oberen Funktionärsebenen nichts wissen. Ganz folgsam reiht man sich in die bürgerliche Gesellschaft ein und will gute Arbeit für gutes Geld. Das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft ist seit Jahrzehnten oberste Maxime, man ist staatstragend und fügt sich bereitwillig in die Rolle ein.
In diesem Sinne sind die Gewerkschaften gar zu Feindinnen der Selbstentfaltung geworden. Mit großen Worten gewichtig daher salbadernd wird der Wert der Arbeit an sich beschworen. Es soll ein guter Lohn daher für gute, ehrliche Arbeit. Den der Lohnarbeit zugrunde liegenden Abscheulichkeiten und Ausbeutungen will man nicht entfliehen. Vielmehr fordert man Arbeit für alle, um folgerichtig mit der fast täglichen Lohnschufterei Menschen von der Selbstentfaltung fernzuhalten. Verwunderlich ist dies nicht, vertreten die Gewerkschaften heutzutage doch vorrangig die Interessen der Ausgebeuteten im Kapitalismus, nicht gegen den Kapitalismus. Man will das Mühsal und die Plackerei gar nicht so weit es geht reduzieren. Statt auf Gegnerschaft zu den Verhältnissen zu setzen, kumpeln dich die Gewerkschaften als Good Cop an, während die Arbeitgeber*innen den Bad Cop spielen. Aber im Endeffekt wollen sie beide das Gleiche: Reihe auch du dich in kapitalistische Verwertungslogik ein! Tritt dein Hamsterrad und freue dich dabei!
Aber warum? Warum soll man sich im 2020 noch so lange schinden, um sich für ein wenig Lohn die Illusion zu kaufen, man lebe im besten aller möglichen Systeme? Und warum sollte man der Lüge anheim fallen, die Arbeit, die man mache, sei tatsächlich notwendig und man könne die Welt nicht anders einrichten als jetzt. Und warum verdammt noch mal soll man der Hackelei noch einen eigenen Tag widmen?
Historisch korrekter wäre es, wenn man statt vom „Tag der Arbeit“ vom „Arbeitskampftag“ oder vom „Tag des Arbeitskampfes“ sprechen würde. Allein schon der Verzicht auf diese Distinktion zeugt vom Kniefall der Gewerkschaften vor den Verhältnissen. Man will ja nicht einmal mehr den Arbeitskampf würdigen. Die Ursprünge des 1. Mai liegen im Jahr 1856: In Australien wurden für diesen Tag Massenproteste organisiert, auf denen unter anderem der 8-Stunden-Tag gefordert wurde. In Anlehnung daran wurde im Jahr 1886 in den USA für den 1. Mai zum Generalstreik aufgerufen. Die Proteste wurden teilweise von der Polizei niedergeschossen, wegen eines Bombenwurfs in Chicago wurden acht Anarchisten verurteilt, sieben davon zum Tode. Beweise für eine Tatbeteiligung gab es keine, drei von ihnen wurden später begnadigt. Um die 20 Personen wurden direkt nach dem Bombenwurf von der Polizei erschossen, über 200 verletzt. Diese Proteste wurden als Haymarket Riot weltbekannt und letztendlich proklamierte die 2. Internationale bei ihrer Gründung im Jahr 1869 den 1. Mai 1890 als Kampftag zur Erinnerung an die verurteilten und gefallenen Genossen. Seither ist der 1. Mai ein international fest verankerter Tag. Und es ist eben kein Tag, der die Arbeit feiern soll, sondern ein Tag des Kampfes gegen die Ausbeutung. Heutzutage die Arbeit zu feiern pisst förmlich auf die Gräber derer, die damals gestorben sind.
Ein Arbeitskampf im Sinne einer tatsächlichen historischen Kontinuität muss drei Dinge begreifen und umsetzen:
1. Es gibt keinen Kompromiss zwischen Kapital und Angestellten, der das System stürzen kann. Es kann immer nur gegen die Wirtschaft und gegen den Staat gehen.
2. Die Wahl der Mittel muss radikal sein. Die Stärke der organisierten Lohnabhängigen besteht in der Anzahl der organisierten Personen und dem Willen diese Anzahl konsequent einzusetzen.
3. Als letztendliches Ziel des Arbeitskampfes muss die Überwindung der Lohnarbeit und des Kapitalismus stehen. Ist dies nicht der Fall, gliedert man sich in die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse ein und nimmt dem Mittel des Arbeitskampfes ein äußerst gewichtiges Moment: Man will gar nicht mehr radikal sein, also sinkt auch die Furcht vor einem Arbeitskampf auf gegnerischen Seite.
In einem zweiten, ausführlicherem Text wird näher darauf eingegangen werden, was denn der Arbeitskampf jetzt genau beinhalten solle und was es mit dieser Arbeit eigentlich so auf sich hat. Welche Zielsetzung ist sinnvoll und welche Gefahren bestehen aktuell? Und wie kann sich das Krisenmoment in den nächsten Jahren auf die gesellschaftliche Ausprägung der Arbeit insgesamt und der Lohnarbeit im Speziellen auswirken? Denn es darf nicht nur gegen den „Tag der Arbeit“ gehen, es muss auch gegen die Arbeit an sich gehen.
Aktuell macht der Q-Anon-Wahn auch in Deutschland ziemlich Welle. Unter anderem durch Xavier Naidoo vertreten erfreut sich dieser Mythos einer immer größeren Beliebtheit, der zumindest anekdotischen Erfahrungsberichten nach mehr Leute erreicht als man annehmen könnte. Auch vorher unauffällige Personen teilen Q-Inhalte im Familien- oder Arbeitschat. Eine gute Gelegenheit also, um sich ein wenig mit Verschwörungswahn als Welterklärung zu beschäftigen.
Was ist Q-Anon eigentlich?
Dazu muss ein wenig in die Welt der US-amerikanischen Wahnvorstellungen eintauchen, genauer gesagt in die Welt des sogenannten „Pizzagate“. Pizzagate behauptet, es gäbe einen Pizzaladen in Washington DC, der als Ladenfront für einen Pädophilenring für die Reichen und Mächtigen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten dienen soll. Mit den Pizzabestellungen würden in Wahrheit nur Codes durchgegeben, die dann entsprechend Kinderblut oder Babys sein sollen. Es hängen natürlich alle mit drin, die man so aufzählen kann: Soros, die Obamas, Bill Gates, die Clintons und so weiter und so fort. Dieses Märchen erlangte einige Popularität und wurde aufgrund der völligen Absurdität vergleichsweise bekannt. Q-Anon hat Pizzagate jetzt abgelöst. Wobei abgelöst ist das falsche Wort, da Pizzagate ein Teil von Q-Anon ist.
Im Zentrum von Q-Anon steht eine unbekannte Person namens Q, die „die Wahrheit“ über die Verschwörung verbreiten würde. In den USA richtet sich diese wie bei Pizzagate vor allem gegen das liberale und demokratische Establishment mit all den üblichen antisemitischen Ausläufern, die solche Wahnideen dann gerne annehmen. Der eh in seinen Ausprägungen bizarre Personenkult um Donald Trump hat dann dazugeführt, diese Verschwörung als gegen Trump als Person gerichtet zu sehen, teilweise soll Trump sogar Q selber sein. Ab 2018 gab es deshalb immer wieder Schilder mit dem Buchstaben „Q“ auf öffentlichen Veranstaltungen von Trump zu sehen. Sein bonarpartistischer, volkstribunenartiger Stil, bei dem er ständig gegen die Eliten wettert, zu denen er selbst ganz besonders zählt, bietet sich an, um Trump als Heiland zu identifizieren.
In Deutschland nimmt dieser Wahn nun noch einmal eine ganz besondere Form an. Zuletzt wurde Q-Anon insbesondere im Zuge des finalen Outings von Xavier Naidoo stark in die Öffentlichkeit gerückt. Was man seit über zehn Jahren wissen konnte, wenn man denn nur wollte, hat Naidoo jetzt in Gänze selber bestätigt. Mehr oder weniger munter (wenn er nicht gerade vor der Kamera in Tränen ausbricht) berichtet er die neuesten Neuigkeiten aus Schwurbelhausen. Ob durch sein öffentliches Einstehen jetzt einfach mehr Leute den gleichen Schritt vollziehen und mit ihrem verschwörungsmythologischen Denken an die Öffentlichkeit treten, oder ob gerade tatsächlich mehr Leute diesem absurden Wahn verfallen, lässt sich schwer sagen und müsste in Einzelgesprächen mit den Betroffenen ermittelt werden.
Die Meta-Wahnidee
Da man den regionalen Bezug zu den USA nicht hat, baut man Q-Anon zur weltweiten Verschwörung aller Eliten gegen die Schlafschafe aus. Dies geschieht auch in den USA selber, man tauscht sich ja eh weltweit aus. Dennoch gibt es regionale Besonderheiten durch unterschiedliche Sozialisation und Differenzen im kollektiven (Schwurbel-)Gedächtnis. Einen Axel Stoll, Gottvater des Wahns, wird außerhalb des deutschsprachigen Raums kaum bekannt sein. Ebenso sind Reichsbürger*innen ein recht spezifisches Phänomen hierzulande. Welche Verzweigungen Q-Anon in Zukunft nehmen wird, ist noch unklar. Sicher ist aber, dass Q-Anon auch eine Form des Eskapismus darstellt. Man kann sich in Echtzeit in einer Form globalen Live-Krimis die Zeit vertreiben und sich die Geschichte selbst erarbeiten. Es ist spannend, mitreißend, emotional und beschäftigt gut. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt davon, dass man sich die Welt erklärt.
Aber es bietet sich an, in einer Zeit wie der aktuellen mit der Corona-Krise die perfekte Erklärung für alles zu liefern. Q-Anon fungiert momentan als Meta-Wahnidee, welche in der Lage ist, so gut wie alle anderen einzubauen. Damit liefert Q-Anon die Blaupause schlechthin für ein geschlossenes Weltbild, mit dem alles erklären kann. Aber wie funktioniert eigentlich so ein geschlossenes Weltbild? Zusammenfassen kann man es mit Pippi Langstrumpf:
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt
Wir alle sehen unsere Umgebung durch unsere subjektive Perspektive. Wie wir Ereignisse, Gegenstände und Beobachtungen einordnen, bestimmt auch welche Schlüsse wir aus ihnen ziehen und wie wir handeln. Um uns das Leben zu vereinfachen und nicht jede einzelne Beobachtung jedes Mal aufs Neue analysieren zu müssen, bilden wir ein Weltanschauung heraus. Mit ihr ordnen wir in bestimmte Kategorien ein und können mögliche größere Sinnzusammenhänge erkennen und verstehen.
Unterschiedliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Theorien sind zumindest in Teilen solche Weltanschauungen. Alle haben sie ihre spezifischen Herangehensweisen, interpretieren und verstehen Zusammenhänge anders. Manchmal nur in Nuancen, manchmal mit einem Unterschied ums Ganze. Oftmals stoßen Weltanschauungen aber an ihre Grenzen. Es ist unmöglich, alle Ereignisse und alle Handlungen vollständig mit einem einzigen theoretischen Ansatz zu erklären, oftmals liefert die Realität Widersprüche in sich selbst und zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Theorien.
Das Begreiflichmachen des nicht vollständig Begreifbaren
An solchen Stellen entscheidet sich dann, ob man in die Richtung eines notwendig falschen Bewusstseins, einer ideologischen Zurichtung geht, oder ob man das eigene Weltbild modifiziert und der Realität anpasst. Was ist ein notwendig falsches Bewusstsein? Die Formulierung geht auf Marx zurück, der von einem „falschen Bewusstsein“ sprach, und wurde von Georg Lukács weiterentwickelte. Um sich selber Dinge in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen und sich die Welt zu erklären, bildet man eine eigene Weltanschauung aus. Diese beinhaltet auch eine Erklärung von Widersprüchen, welche man sich selber verständlich macht. Beeinflusst wird man dadurch maßgeblich durch das private und das gesellschaftliche Umfeld. Man ist sich bestimmter Widersprüche möglicherweise theoretisch bewusst, übergeht sie aber einfach oder liest sie anders. Ziel ist dabei, die Grundprämissen des eigenen Weltbildes nicht korrigieren zu müssen. Diesen Vorgang nennt man auch Rationalisieren, weil man sich unlogische Dinge selber rational verklärt.
Zu einem gewissen Grad machen wir das alle, insbesondere im Kleinen. Niemand ist frei davon, sich das Dasein in dieser Gesellschaft dadurch ein wenig zu einfacher zu gestalten und sich nicht den ganzen Tag an allen Widersprüchen den Kopf zu zerbrechen. Ab einem gewissen Grad fängt es aber an problematisch zu werden. Irgendwann wird der Widerspruch zu groß. Von einem geschlossenen Weltbild spricht man dann, wenn man die Realität immer weiter der Erklärung anpasst und die Ereignisse dieser Welt immer verzerrter wahrnimmt.
Das offensichtliche Beispiel sind hier Personen, die Verschwörungsmythen anhängen. Wenn die Juden die Welt im geheimen kontrollieren, kann das mit dem Holocaust ja gar nicht stimmen und der wurde nur als perfider Trick erfunden, um die Menschen noch weiter zu knechten und im Griff zu haben! Alle Beweise des Gegenteils werden dann als Teil des Verschwörungsmythos in diesen integriert und somit für die betreffende Person rationalisiert. Man macht sich die Welt dann so, dass sie zur eigenen Weltanschauung passt. Ab einem gewissen Punkt ist dieser Rationalisierungsprozess so weit fortgeschritten, dass die Person nicht mehr für rationale Argumente und logische Herleitungen erreichbar ist. Das Weltbild ist dann in sich geschlossen und erklärt alles aus sich selbst heraus – auch wenn die Realität eine ganz andere ist. Q-Anon ist dafür aktuell das prominenteste Beispiel.
Um die aktuelle Krisensituation in ihrer Tragweite adäquat zu begleiten, haben wir uns dazu entschieden, unsere Einordnungen und Analysen in einer ausführlichen Artikelreihe zu sammeln. Vorerst auf drei Teile angelegt, kann die Reihe „Mad Marx – Corona und der Vorschein der Donnerkuppel“ in Zukunft noch erweitert. Mit diesem hier vorliegenden dritten Teil kommt sie aber zu einem zwischenzeitlichen Ende. In Teil 1 haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie allgemein, aber auch im linken Spektrum, auf die bisher einmalige Situation reagiert wird. Fokus war hierbei vor allem das Begreiflichmachen und das Verarbeiten der Vorgänge, was in mehr und oftmals weniger guten Rationalisierungsversuchen mündet. Eine Linke mit einem gesellschaftsverändernden Anspruch darf dabei aber nicht stehenbleiben. Des Weiteren wurde ein Überriss über den Kapitalismus als Wirtschaftssystem gegeben, wo es sich anbot mit Veranschaulichung an der aktuellen Krisensituation. Der zweite Teil konzentrierte sich dann auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Durch eine immer weiter vorangetriebene Blasenökonomie, finanziert durch immer neue Schulden, steht die Weltwirtschaft unmittelbar vor dem Kollaps. Die Krise der Jahre 2008/09 ist im Vergleich nicht so systemgefährdend wie das, was jetzt auf uns zukommt. In Verbindung mit sozialdarwinistischen Forderungen, die Wirtschaft schnellstmöglich wieder anzukurbeln und dabei Millionen Menschen wissentlich dem Tod zu überlassen, wurde dann das drohende Szenario der titelgebenden Donnerkuppel skizziert. Das Recht der Stärkeren soll es richten und den Kapitalismus retten, an eine postkapitalistische Option wird gar nicht erst gedacht.
Was noch fehlt, ist eine Bestandsaufnahme der Krisenmaßnahmen (in Teil 2 bereits als „Krisensozialismus“ definiert) und des linken Spektrums. Außerdem werden Maßnahmen und Betätigungen vorgeschlagen, mit denen die Linke die Krisensituation beantworten sollte. Dabei wird in Akutmaßnahmen und in perspektivisches Agieren unterschieden. Ein Patentrezept ist es nicht und es wäre vermessen zu behaupten, hier würde der Masterplan ausbuchstabiert, der in 30 Jahren die befreite Gesellschaft herbeiführen wird. Dennoch hoffen wir (und sind auch zuversichtlich), einen sinnvollen Debattenbeitrag zu liefern und hoffentlich weitere Diskussionen anzuregen. Es wurde ganz bewusst auch das linke Spektrum jenseits der radikalen und autonomen Linken in die Betrachtungen miteinbezogen, die Gründe dafür werden später ersichtlich. Auch ein Grund ist, dass viele Personen aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien zum Pool unserer Leserschaft gehören und die Probleme in der Linken das gesamte Spektrum betreffen.
Während die Welt im Chaos der Ersten Weltkriegs versank und einen Zivilisationsbruch von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes erlebte, schrieb Rosa Luxemburg folgende Zeilen: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: Entweder Übergang zum Sozialismus, oder Barbarei!“ Angesichts der sich entwickelnden Krise stellt sich diese Frage tatsächlich mit erneuter Dringlichkeit. Eigentlich stand die Gesellschaft schon seit den Tagen der Ehrengenossin Luxemburg vor dieser Wahl. Die aktuelle Krise, bei der das Virus tatsächlich nur der Auslöser, nicht aber die Ursache ist, lässt die Widersprüche des Kapitalismus offen zu Tage treten und konfrontiert die Weltgemeinschaft damit: Ist ein System, in dem ein Gesundheitswesen auf die abstrakten Zwänge des Marktes und nicht auf die Rettung von Menschen ausgelegt ist, wirklich das „beste System“? Ist ein System, in dem Krankenhäuser aus Kostengründen sogar noch im Angesicht einer heraufziehenden Pandemie geschlossen werden wirklich „das beste System“? Ist es gerechtfertigt, Menschenleben gegen ein abstraktes System der Wertverwertung aufzuwiegen? Wäre es nicht an der Zeit, sich gesamtgesellschaftlich mit der ganz Grundlegenden Frage zu beschäftigen, ob das so richtig ist? Oder ob nicht eine andere Gesellschaft möglich wäre, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz und Vereinzelung der Subjekte setzt.
Die Antwort, die von der Politik momentan gegeben wird, ist allerdings in diesem Zusammenhang ebenso erschreckend wie vorhersehbar und altbekannt. Die von uns bereits als „Krisensozialismus“ beschriebenen Automatismen greifen. Die Vergesellschaftung privater Verluste durch den Staat hat bereits begonnen. Bis zu 760 Milliarden Euro will alleine der Deutsche Staat an Steuermitteln aufwenden, um vom mittelständischen bis zum Großunternehmen die deutsche Wirtschaft zu stützen. Das geradezu wahnhaft-religiös anmutende Festhalten an der „Schwarzen Null“ ist mit dem lakonischen Hinweis des Finanzministers, dass man ja nur durch diese Austeritätspolitik „Reserven“ zum Einsatz bringen könne, beiseite gewischt worden. Jene, die diese Austeritätspolitik in erster Linie bis zum heutigen Tage getragen haben, waren die lohnabhängig Beschäftigten. Genau diese Gruppe wird aber vom Maßnahmenpaket der Regierung hart getroffen.
Eine der ersten umgesetzten Maßnahmen, das Kurzarbeitergeld, soll es Unternehmen erlauben, ihre Lohnkosten drastisch zu reduzieren, in dem sie ihren Angestellten nur noch 60 Prozent ihres üblichen Lohns auszahlen. Für eine nicht unerhebliche Gruppe von Lohnabhängigen bedeutet das unmittelbar ein Fall auf Harz IV-Niveau, bei dem die nächste fällige Miete bereits existenzbedrohend ist. Eine Erkenntnis aus dieser Tatsache ist, dass in einem eigentlich reichen und entwickelten Land wie Deutschland, ein substantieller Teil der abhängig Lohnbeschäftigten permanent nur einen Gehaltscheck von der Privatinsolvenz. Studierende dürfen nicht einmal Hartz IV beantragen. Sofern sie kein volles Bafög bekommen, sind sie aktuell fast ohne Verdienstmöglichkeit. Die einzige Option wäre die Exmatrikulation, womit aber sehr wahrscheinlich langfristige Konsequenzen für das Studium verbunden sind.
Für das Heer der nun durch Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust oder Studiumsplatz existentiell Bedrohten sind das schlechte Aussichten. Da zur gleichen Zeit, bedingt durch die Maßnahemn der Corona-Bekämpfung, die Einreise von vor allem osteuropäischen Erntehelfern verboten wurde und viele Bauern öffentlichkeitswirksam beklagt haben, dass ihnen beträchtliche Ernteausfälle drohen, sollte man keinen Ersatz für die Erntehelfer besorgen, ist nun eine gesellschaftliche Debatte um das utilitaristische Ausnutzen der Notlage von ganz allgemein von Armut bedrohten und marginalisierten Gruppen entbrannt.
Flankiert von dem, was hierzulande als „bürgerliche Presse“ bezeichnet wird, dreht sich diese Debatte nun darum, welche Gruppen von armen Schluckern man zur Spargelernte schicken solle – mal sind es SchülerInnen oder StudentenInnen, dann Asylsuchende, wie von Julia Klöckner vorgeschlagen, oder Arbeitslose. Die AfD will dann gleich Fridays for Future zwangsverpflichten und somit Minderjährige zur Arbeit zwingen. In Bayern ist Klöckner’s Parteikollege und Wirtschaftsminister auf Landesebene zu einer ganz ähnlichen Lösung gekommen und will die nun derart in finanzielle Notlage geratenen KurzarbeiterInnen auf die Felder schicken[1].
Ebenfalls in Bayern sind derweil weitere ArbeitnehmerInnenrechte abgeräumt worden. Im Zuge der Krisenbekämpfung wurde die Höchstarbeitszeit für Angestellte einkassiert[2]. Kurzerhand wurden in einem Zuge das Arbeitsverbot für Sonn- und Feiertage aufgehoben (ohnehin schon Schauplatz einer permanenten Abwehrschlacht gegen das Kapital seitens der Gewerkschaften) sowie die Pausenzeiten für Angestellte in systemrelevanten Betrieben um eine Viertelstunde gekürzt. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeiten wurden ebenfalls aufgehoben. Betriebe können ArbeiterInnen somit länger am Stück arbeiten lassen und müssen ihnen nicht mehr so lange Ruhezeiten gewähren. Schlechte Nachrichten also vor allem für Beschäftigte im Schichtbetrieb.
Nur gut also, dass da das Heer der Lohnsklaven so lange brav den Gürtel enger geschnallt und sich in „Lohnzurückhaltung“ geübt hat – Als Belohnung dürfen einige nun in die Kurzarbeit gehen und sich bei Feldarbeit an der frischen Luft bewegen, um nicht unter das Existenzminimum zu fallen. Profitiert hatten die unteren Lohnschichten von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 15 Jahre nicht. Die Einkommensschere driftet immer weiter auseinander und unten gibt es Reallohneinbußen, während es oben kräftige Zuwächse zu verzeichnen gibt.
Die Devise ist also klar: Der Klassenkampf von oben ist wieder in vollem Gange. Während Unternehmen, mittelständische Betriebe und Selbstständige vom Staat auf finanzielle Hilfe zumindest hoffen dürfen, soll besonders den Lohnabhängigen wieder mittels drastischer Gehaltseinbußen und der de facto weitreichenden Aufhebung von ArbeitnehmerInnenrechten die Kosten der Krise aufgebürdet werden. Ausbaden sollen es also mal wieder diejenigen, die vom mageren Aufschwung seit 2009 wenig bis gar nichts hatten. Der Gipfel des Zynismus ist in diesem Zusammenhang der von der Regierung geradezu staatstragend formulierte Ruf nach „Solidarität untereinander“, mit der man dann bis zur Erschöpfung getriebenes Pflegepersonal in Krankenhäusern mit ein paar Beifall-Klatschern für die geleistete Mehrarbeit abspeisen kann, bevor es für sie wieder zurück in die Verwertungsmühle geht. Auf der anderen Seite werden riesige Summen für Bailouts zur Verfügung gestellt, um verschuldete Unternehmen mit zeitlich begrenzter Staatsbeteiligung vor dem Konkurs zu bewahren. Die Verluste werden dadurch vergesellschaftet, um die Unternehmen dann wieder komplett unter private Führung zu stellen, wenn die finanzielle Situation Richtung Gewinnerzielung geht. Auch wenn für diesen Vorgang der Begriff „Verstaatlichung“ verwendet wird, ist dieser irreführend. Verstaatlichung würde bedeuten, die Unternehmen dauerhaft und unbegrenzt dem Staat zu unterstellen.
Leider ist auch davon auszugehen, dass mit diesen angedrohten oder bereits umgesetzten Boshaftigkeiten seitens der Politik das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, sondern dass die Krisendynamik den bereits eingeschlagenen Kurs autoritärer Notverordnungspolitik seitens der Regierenden verschärfen wird. Inwieweit die umfassenden Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte im Rahmen der Corona-Pandemie notwendig war, darüber lässt sich diskutieren. Mit welcher Selbstverständlichkeit diese Freiheiten im Vorbeigehen einkassiert und mit der Ausweitung der anlasslosen Überwachung von BürgerInnen über ihre Handy-Daten begonnen wurde (und das zum Teil unter Beifall gewisser linker Kreise), lässt tief blicken.
Unter diesen Umständen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, dass seitens der Politik Skrupel herrschen würden, den BürgerInnen weitere schmerzhafte Einschnitte wie etwa eine weitere Schröpfung des Sozialstaates zuzumuten. Weitere Kürzungen des Rentenniveaus, weitere Anhebungen des Renteneintrittalters, das alles wurde auch schon vor der Krise hinter verschlossenen Türen diskutiert. Die hereinbrechende Krise kommt gerade recht, um Unappetitlichkeiten unter dem Vorwand instrumenteller Vernunft offen auf die Agenda zu setzen. Auch ist nicht vorauszusagen, wie die Politik angesichts einer Flut neuer Arbeitssuchenden reagieren wird. Die Studie des IFO zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise geht von bis zu 1,8 Millionen Menschen aus, die zusätzlich in die Jobcenter strömen werden [3](zum Vergleich. Arbeitslosenzahl laut Arbeitsagentur im Februar 2020: 2.396.000 [4]). Dass die Überforderung und Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschen in den Jobcentern dieser Republik angesichts dieser anrollenden Flut abnehmen wird, darf bezweifelt werden. Es dürfte eher so sein, dass, da noch mehr Menschen aus dem gleichen Topf versorgt werden müssen, die Leistungen für die/den einzelnen LeistungsbezieherIn drastisch gesenkt werden dürften. Und wie es um den schon vor der Krise bis an die Belastungsgrenze gespannten und durch Privatisierung und Rentabilitätszwänge zugerichteten Gesundheitssektor in unmittelbarer Zukunft bestellt sein wird, wagt niemand zu prognostizieren. Wie angespannt die Situation momentan ist, verdeutlicht ein Aufruf des Vorsitzenden des Verbandes der Krankenhausdirektionen im DLF vom 21. März, in dem er eindringlich, ja geradezu flehend warnt, dass einer ganzen Reihe von Krankenhäusern im Mai die Insolvenz drohe, falls nicht schleunigst mit Notkrediten geholfen wird [5].
Unterm Strich ist das Zukunftsszenario, dass sich unserer Gesellschaft bietet nicht der Vorschein der befreiten Gesellschaft, sondern das krasse Gegenteil. Während substantielle Gesellschaftsschichten vor dem existentiellen Aus stehen und potentiell den Weg ins Prekariat antreten werden müssen, droht den Sozialsystemen eine weiter Schleifung, während der Staat im Sinne der instrumentellen Vernunft immer weiter autoritär durchgreift und sich in den sprichwörtlichen „Leviathan“ von Thomas Hobbes verwandelt – eine staatliche Entität, der jeglicher Sinn für Gemeinwohl abgeht und der seine eigentliche Daseinsberechtigung (Schutz und Garant des Wohlstands für Alle) in sein Gegenteil verkehrt hat und für dessen nun eigentlich überflüssig gewordene Existenz ganze Bevölkerungsschichten geknechtet werden müssen.
Wir stehen also am potentiellen Beginn eines Rückbaus zivilisatorischer Errungenschaften und eines weiteren gesellschaftlichen Zerfalls, der nicht nur die Spaltung in Arm und Reich vorantreiben wird, sondern bei dem eine weitere Verrohung der Gesellschaft vorprogrammiert ist. Die Donnerkuppel aus „Mad Max 3“ als Symbol einer durch die Verhältnisse geknechteten Gesellschaft, die ihre letzten Ansprüche an Menschlichkeit und Aufklärung über Bord geworfen hat und in der die Gemeinschaft der „Vereinzelten Einzelnen“(Karl Marx) zum Synonym für den „Kampf Jeder gegen Jeden“ geworden ist, wirft ihren Schatten voraus.
Im Folgenden wird in drei Abschnitten sukzessive erörtert, was die Linke als gesamtes Spektrum jetzt leisten kann und vor allem leisten sollte. Die Abschnitte sind „Der desolate Zustand der Linken“, „Das Bestehende vor dem Schlimmeren bewahren“ und „Die Systemfrage als Perspektive“. In ihnen werden jeweils die darin abgehandelten Aspekte stichpunktartig vorangestellt, um einen Überblick zu ermöglichen. Wichtig ist auch die Frage, was dafür zur Linken gezählt wird. Die Betrachtungen sind vor allem organisations- und strukturbedingten. Deshalb werden alle Gruppen und Organisationen zur Linken gezählt, die an einer Emanzipation von den aktuellen Verhältnissen arbeiten und im Idealfall postkapitalistisch und postbürgerlich eingestellt sein sollten. Dazu zählen: alle (Struktur-)Gruppen der radikalen Linken, antifaschistische Gruppen und Bündnisse, autonome Gruppen und Strukturen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Interessenverbände diskriminierter Gruppen der verschiedenen Bereiche (Rassismus, Antisemitismus, Feminismus, Ableismus, Antiziganismus usw.), Parteien (Linkspartei und mit starken Abstrichen SPD und Grüne), Zeitungen, Verlage, NGOs, Think Tanks, akademische Zusammenschlüsse und ähnlich gelagerte Bereiche. Es geht hier nicht um ein Reinhalten des Begriffes „links“, um damit möglichst die eigenen Ansichten als den heiligen Gral festzulegen, sondern vielmehr um den theoretischen und praktischen Anspruch der Emanzipation im postkapitalistischen und postbürgerlichen Sinne. Im Idealfall könnten alle diese Gruppen auf unterschiedlichen Wegen gemeinsam und koordiniert am Überwinden der Verhältnisse partizipieren. Es ist klar, dass konkrete Weltanschauungen dies in der Praxis stark einschränken oder verhindern, es geht hier aber um eine ganz grundsätzliche Betrachtung. Ebenso gibt es immer positive Gegenbeispiele für Kritik, welche mitunter auch genannt werden. Da es aber der kommende Abschnitt eine grundsätzliche Betrachtung ist, geht es um das Gesamtbild. Konkrete Vorschläge folgen dann in den beiden Schlussabschnitten des Artikels.
Beleuchtet werden die Problembereiche: radikale Linke, Gewerkschaften, soziale Träger und Interessenverbände, Parteien
Bevor es um konkrete und perspektivische Handlungsoptionen geht, muss eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands erfolgen. Und dieser ist desolat, schaut man einmal gesamtgesellschaftlich und mit Fokus auf postkapitalistische Bewegungen. Dabei sind die Voraussetzungen auf dem Zettel gar nicht mal so schlecht, gibt es doch all die Absatz davor genannten Gruppen und Strukturen. Nur sind diese aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Graden ohne vorhandene Wirkungsmacht. Dafür gab es vor der jetzigen Krise etliche Indikatoren, aber auch jetzt ganz unmittelbar zeigt sich eine relative Handlungsohnmacht.So wurden zum Beispiel die Gewerkschaften erst spät und mit Einschränkungen in die Maßnahmenberatungen in Bayern eingebunden, die ArbeitgeberInnen saßen dagegen von Anfang an am Beratungstisch. Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden wurden im Maßnahmenpaket nicht berücksichtigt oder verschwanden vom Verhandlungstisch. Davon betroffen sind unter Anderem die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent und finanzielle Verbesserungen im Pflegesektor. Mehr als Forderungen sind dazu auch noch nicht zu vernehmen, Arbeitskampf (in welcher Form auch immer) wurde bisher nicht ins Spiel gebracht. Von der Linkspartei ist ebenfalls wenig mehr zu vernehmen, als Detailkorrekturen der Maßnahmen oder eine Erweiterung in den unteren Einkommensschichten zu fordern. Die radikale Linke ist sicherlich privat mit nachbarschaftlichen Hilfsaktionen beschäftigt, sie tritt aber gar nicht erst als gesellschaftlich relevanter Faktor auf. Mehr als Apelle, Aufrufe und Texte (ja, auch die Mad Marx-Reihe zählt dazu) gibt es kaum. Insgesamt geht von der Linken kaum eine reale Gefahr aus, bestimmte Maßnahmen der Regierung zu ändern oder eigene Forderungen durchzusetzen, geschweige denn gerade eine gesellschaftliche Debatte zum bestehenden System und seinen Widersprüchen anzustoßen. Weder Streiks noch großangelegte Proteste stehen derzeit als Optionen für jeweils mögliche Zeitpunkte öffentlich breit zur Diskussion, sieht man von Phrasen ab.
Die Strukturprobleme der Linken zeichnen sich mitunter seit Jahrzehnten ab und haben dafür gesorgt, dass man in einer Krisensituation wie der jetzigen nur reagieren kann und keine offensiv agierende Akteurin auf gesellschaftlicher Ebene und der politischen Bühne darstellt, die weitreichende Forderungen stellen und durchsetzen kann. Die radikale Linke hat dabei vor allem ein organisatorisches und ein inhaltliches Problem. Beide bedingen sich gegenseitig. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich grob zwei Richtungen herausgebildet, denen eine organisatorische Vermittlung fehlt. Zum Einen gibt es die Bewegungslinke mit Fokus auf Antifaarbeit und autonome Gruppen. Dies ist insbesondere im Antifabereich nicht wirklich anders zu bewerkstelligen, agiert man hier doch bewusst mit illegalen Mitteln und kann so die Strafverfolgung erschweren. Hier ist man auch noch stärker auf konkrete Aktionen und praktisch umsetzbare Ziele fokussiert. Ein autonomer Hausbesuch ist konkret planbar und durchführbar, die Zerschlagung existierender Nazistrukturen erfordert eine koordiniertes und planvolles Vorgehen. Doch die Erfolgsrate eines solchen Aktivismus ist regional stark unterschiedlich, was auch an den jeweiligen örtlichen Begebenheiten liegt. Leider gibt es keinen flächendeckend erfolgreich und konsequenten Antifaschismus, der wirklich für alle Nazistrukturen eine handfeste Gefahr darstellt. Dem Hannibalnetzwerk hat die radikale Linke nicht viel entgegenzusetzen. Auch ist eine solche sehr eng auf das Thema „Kampf gegen Nazis“ ausgelegte Praxis keine Organisationsform, die auf die anstehenden Aufgaben der Coronakrise übertragbar ist. Es ist eine Erweiterung des Organisationsrepertoires nötig, um auch in Bereichen jenseits des autonomen Kleingruppenantifaschismus Ziele erreichen zu können.
Auf der anderen Seite hat sich die radikale Linke, was die Beschäftigung mit den Verhältnissen im Kapitalismus angeht, vor allem auf Theorie und Analyse der eben genannten Verhältnisse versteift. Daraus ist aber keine irgendwie geartete Praxis erwachsen, die dazu geneigt wäre, eine Verbesserung des Bestehenden auch nur irgendwie perspektivisch realistisch erscheinen zu lassen. Containern mag zwar eine wirksame Praxis zum Durchbrechen kapitalistischer Verhältnisse im ganz Kleinen sein, den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung und Organisationsform der Produktion wird man damit nicht besiegen. Das Ganze nimmt sich eher aus, wie die sprichwörtliche Maus, die versucht dem Elefanten auf den Fuß zu treten, wie es Wolfgang Pohrt mal treffend beschrieb. Das sich Zurückziehen auf den makropolitischen Theorie-Elfenbeinturm hat zwar dazu geführt, die aktuelle Krise recht gut erklären zu können. Eine Praxis ist indes aber nicht vorhanden, wie man in dieser Krisensituation landesweit effektiv agieren und gestalten könnte. Und das, obwohl die letzte Systemkrise von 2008/9 das gleiche Problem offenbart hat. So nimmt sich das Ergehen in (pseudo-)intellektuellem Theorie-Geflexe zum Teil selbst nur als Phrasendrescherei aus. Marx hat das Problem in der Deutschen Ideologie gleich zu Beginn in Bezug auf Junghegelianer auf den Punkt gebracht:
„Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich „welterschütternden“ Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen „Phrasen“ zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“
Der Anspruch und die Haltung lassen sich exemplarisch mit einer Formulierung darstellen: Es geht ums Ganze. (Der Text vom Bündnis „Ums Ganze“ zur Coronakrise sei hier empfohlen, er arbeitet mit weniger Umfang etliche Punkte ab, die auch in dieser Reihe hier zur Sprache kommen.) Und damit ist dann wirklich der ganz große Wurf gemeint. Mit groß klingenden Kampfansagen und selbstversichernden Phrasen holt man zum verbalen Generalangriff auf alles und jeden, am liebsten aber Staat, Gesellschaft, Patriarchat und Kapitalismus, aus. Da wird dann teilweise mit Worthülsen um sich geschossen, als gäbe es kein Morgen mehr. „Die Kämpfe müssen radikalisiert und zugespitzt werden“, „gegen die Gesamtscheiße“, „deutsche Zustände angreifen“, „den nationalen Konsens brechen“ und noch viele, viele Formulierungen mehr sind fester Bestandteil des Textbaukastens der radikalen Linken. Zum Teil lässt sich das nicht vermeiden, es darf aber nicht dabei bleiben. Wer sich ausschließlich auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene bewegt, wird damit außer einer Selbstbespaßung und dem Signalisieren einer Haltung höchstens noch eine grundlegende Einstellung beim geneigten Publikum erreichen können. Eine auf konkrete Erfolge zielende Praxis ist das aber nicht und sie wird in den meisten Fällen auch gar nicht erst skizziert. Es bleibt beim Appell zur Aktion, zur Verschärfung, zum Widerstand. Wie das aber genau aussehen soll, welche Handlungen man dafür vollziehen kann und welche realistisch erreichbaren Ziele angestrebt werden, bleibt oft das Geheimnis der Autor*innen. Außer wohlformulierter und maximalistischer Phrasen hat man der Realität in den meisten Fällen nichts entgegenzusetzen. Antikapitalistische Phrasen gegen bürgerliche Realität.
Und so verbleiben sehr viele Einzelgruppen und Freiräume organisatorisch mehr oder weniger für sich alleine und können dadurch keinerlei transformatorische Politik über ihren kleinen Bereich hinaus betreiben, während sie mit viel Pathos und Getöse zum Gefecht rufen. Projekte auf der Mikroebene treffen auf makropolitisch (gesamtgesellschaftlich) formulierte Ansprüche, ohne das es einen Mittelbau gäbe, der das Aktionspotential im Kleinen für eine Wirkmacht im Großen bündeln könnte.
Einen entsprechenden Mittelbau stellen Gewerkschaften für ihre jeweiligen Bereiche dar. Die Gewerkschaften sind ursprünglich als organisierte (Arbeits-)Kampforganisationen gegründet worden, was im 19. Jahrhundert tatsächlich sehr oft physische Kämpfe und Waffengewalt beinhaltete. Die Staatsgewalt und die Industriellen waren nicht gerade zimperlich, wenn es um das Zerschlagen organisierter Gegenwehr ging. Im Laufe der letzten ca. 150 Jahre haben die Gewerkschaften viele Erfolge erkämpft und sind seit Langem staatlicherseits anerkannt und fest verankert. Mit fortschreitendem Erfolg und mit wachsender Anerkennung haben sich die Gewerkschaften im deutschsprachigen Raum immer weiter entradikalsiert. Der Anspruch wurde immer bescheidener, inzwischen sind sie staatstragend und systemstabilisierend geworden. Wer bringt mit dem DGB in Deutschland oder mit dem ÖGB in Österreich den Kampf zur vollständigen Überwindung des Kapitalismus in Verbindung? Die Integration der Gewerkschaften in den akzeptierten Interessenaustausch hat sie Stück für Stück entschärft.
In Österreich hat man dem Ganzen dann auch vor 100 Jahren das passende Unwort gegeben: Sozialpartnerschaft. Hier sollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vom offenen Konflikt abrücken und in einem Dialog Konsenslösungen finden. Die Konfliktparteien des Arbeitskampfes und der Klassengesellschaft sollen möglichst so miteinander ausgesöhnt werden, dass sie den Staat nicht gefährden. Ein Überwinden der Verhältnisse ist damit von vornherein ausgeschlossen. Mit der Sozialpartnerschaft sagt man nicht nur einem revolutionärem Umsturz auf Wiedersehen (in Österreich hat es die Sozialdemokratie zum Beispiel auch verpasst, zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Coup aufzurufen, obwohl man dafür gerüstet war), man verabschiedet sich auch von einem syndikalistischen Ansatz, durch transformatorische Politik und das Aufbauen eigener Strukturen den Kapitalismus durch praktisches Handeln zu überwinden. Auch bei dieser Taktik wird auf die Wirtschaftsseite nicht eingegangen, man schaut lediglich, wie man unter aktuellen Bedingungen am besten Wirtschaft und Gesellschaft zum Sozialismus bringen kann – der immer und bei jedem erzielten Erfolg das Ziel bleibt und die Wahl der Mittel und Methoden bestimmt.
In Deutschland setzte man ab den 20ern auf die soziale Marktwirtschaft, die SPD-Führung hat mehrere Gelegenheiten zum revolutionären Umsturz konterrevolutionär beantwortet und die Gewerkschaftsarbeit damit nachhaltig entradikalisiert. Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft sind zwei Ausprägungen des selben Grundkonzepts. Wer sich zur sozialen Marktwirtschaft bekennt, will den Kapitalismus nicht überwinden. Der DGB-Vorsitzende Rainer Hoffmann bekennt sich ausdrücklich zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Sozialpartnerschaft und bekommt dafür Gratulationen aus der CDU. Eine bessere Veranschaulichung des staatstragenden, systemkonformen Elends der Gewerkschaftsentwicklung gibt es wohl kaum. (https://jungle.world/index.php/artikel/2018/49/hauptsache-stabilitaet ) Man muss der Realität ins Auge sehen und feststellen, dass die Gewerkschaften kein Teil der radikalen Linken sind und inzwischen dermaßen in das System eingehegt wurden, dass sie als Beruhigungstropfen für die fungieren, deren Interessen sie idealerweise radikal vertreten sollten.
Ein ähnliches System mit der Integration und Einhegung in das bestehende System haben soziale TrägerInnen und Interessenvertretungen wie zum Beispiel Frauenverbände oder antirassistische Gruppen. Der Staat und die Wirtschaft verlassen sich zum Teil bewusst darauf, dass Einrichtungen wie die Volkssolidarität oder die Tafeln Versorgungsaufgaben übernehmen, die eigentlich von der öffentlichen Hand geleistet werden sollten. Der Staat, welcher aktuell eben die öffentliche Hand darstellt, überlässt Teile der Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsteile der Hilfsbereitschaft und Organisation von Privatpersonen, spart sich also die entsprechenden Kosten. Bei Hartz 4 sieht man aktuell, dass die Politik aktiv darauf setzt. Die FDP! forderte eine zeitweise Anhebung der Mindestsicherung, da durch den Wegfall der Tafeln viele nicht mehr über die Runden kämen. Man weiß also, dass die Tafeln überlebensnotwendig sind, tut aber nichts, um die Grundversorgung staatlich abzusichern.
Was soziale TrägerInnen, Interessenverbände und NGOs (z.B. Stiftungen) gemein haben, ist ihre Abhängigkeit vom Staat. Viele Projekte werden staatlich gefördert oder profitieren von Steuerbefreiungen im Vereinsrecht. Auch werden oft Räumlichkeiten gestellt oder zumindest teilfinanziert. Ein großes Programm wäre hier zum Beispiel das Programm „Demokratie fördern“, bei dem zivilgesellschaftliche Projekte gegen Rechts mit Mitteln versorgt werden. Alle Bereiche, die sich gegen Rechts engagieren, soziale Aufgaben übernehmen und diskriminierte Gruppen und Minderheiten vertreten, würden von einer postkapitalistischen, postbürgerlichen Gesellschaft profitieren. (Hier wieder der Hinweis, dass es um eine grundsätzliche Betrachtung geht und es einige Ausnahmen gibt.) Da sie im Gegensatz zu Gewerkschaften aber selten über ausreichend Eigenmittel verfügen, um völlig unabhängig von Staat und Wirtschaft zu bestehen, sind sie auf finanzielle und logistische Unterstützung angewiesen. Das bereits angesprochene Programm „Demokratie fördern“ integriert Projekte dann wieder so in das bestehende System, weil die Mittel an eine Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekoppelt sind. Je nach aktueller politischer Lage können ausschließlich auf Rechtsradikalismus spezialisierte Projekte unter Druck geraten, sich zumindest öffentlich gegen die radikale Linke zu positionieren, um die Förderung nicht zu verlieren. Die Gefahr einer linksradikalen Orientierung, welche perspektivisch systemgefährdend werden könnte, wird in der Breite effektiv entschärft.
In der Gesamtbetrachtung fällt auf, dass soziale TrägerInnen und Interessenorgas als eigentlich realpolitischer Mittelbau entweder über Finanzierungsprobleme vom Staat eingehegt werden und von ihm abhängig sind, oder sich durch bestimmte inhaltliche Problemstellen nicht in eine radikal linke Politik der Transformation einfügen können. Zudem wird hier oft eine passive Rolle gesetzt, die sich um das Abmildern der schlimmsten Zustände bemüht, aber nicht den Horizont zur radikalen Gesellschaftstransformation aufweist, um sich im besten Falle selbst überflüssig zu machen. Die Tafeln und andere Wohlfahrtsverbände müssten eigentlich postkapitalistisch eingestellt sein, sollten sie dem Anspruch ihrer Tätigkeit konsequent nachkommen.
Zu den linken Parteien zählt man gemeinhin die Linkspartei, die SPD und die Grünen. Schaut man sich die tatsächlichen Positionen an, ist einzig die Linkspartei als klassisch sozialdemokratisch zu sehen. Ein reformistischer Flügel steht im ständigen Clinch mit einem transformatorischen Flügel und es gibt auch tendenziell revolutionär ausgerichtete Grüppchen, die in Teilen offen davon sprechen, den Kapitalismus zu überwinden. Die SPD hat sich seit der vorletzten Jahrhundertwende immer weiter weg vom Anspruch des eigenen Parteiprogramms (demokratischer Sozialismus) hin zu einer staatstragenden Partei der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Eine tatsächliche Transformation des Bestehenden hin zu einem Aussetzen der Marktwirtschaft will niemand dort, unter Gerhard Schröder hat man einen radikalen Sozialabbau durchgezogen, den die CDU niemals hätte durchsetzen können. Dies führte letztlich zum Bruch mit den Gewerkschaften (die sich selbst schon vom Sozialismus verabschiedet hatten), weil man nicht mal mehr sozialdemokratisch agierte. In den letzten Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Flügel der SPD zusehends mit Erfolg, den Einfluss des Seeheimer Kreises und der Nachwehen der Schröder-Gang zurückzudrängen und die neue SPD-Spitze ist tatsächlich eine, die man als im weitesten Sinne links bezeichnen könnte. Aber die SPD war über 100 Jahre bereit, sich selbst aufs Schafott zu schleifen und das Fallbeil auszulösen, wenn es nur darum ging, staatstragend Deutschland zu retten. Man sollte also selbst im sozialdemokratischen Sinne nicht zu viele Hoffnungen haben. Die Grünen sind inzwischen von einer sozialliberalen Partei in Teilen schnurstracks ins konservative Lager gewandert. Die antikapitalistischen Kräfte sind bereits um 1990 herum aus der Partei ausgetreten, die nächste GroKo dürfte auch nicht die SPD beinhalten und auf Landesebene versteht man sich teilweise blendend mit der CDU in den Regierungen. Hier ist man Fair Trade-bürgerlich, nicht antikapitalistisch.
Da man unter den gegebenen Umständen nicht umhin kommt, sich auch mit dem Staat als Akteur und möglichen Kampfplatz für transformatorische Politik auseinanderzusetzen, sind Parteien in jedem Fall ein wichtiger Faktor. Selbst anarcho-syndikalische Ansätzen profitierten davon, wenn die Linkspartei die Kanzlerin stellte. Parteien sind allerdings als Organisation an das Parteienrecht gebunden und unterliegen somit der Gefahr, bei realer Wirkmacht zur Systemveränderung vom Verfassungsschutz beobachtet und möglicherweise als verfassungsfeindlich eingestuft zu werden, was dann wiederum ein Parteiverbot nach sich ziehen würde. Dieses Verbot ist nach aktueller Rechtslage in der BRD an die Wirkmacht gebunden, die sogenannte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ ernsthaft zu stören und zu gefährden. Ab dem Moment, ab dem eine Partei anfangen könnte, die Systemfage zu stellen, wird sie verboten. Damit fällt der alte marxistische Ansatz in Teilen weg, mit der Kaderpartei auf Massenbasis staatsfeindlich zu agitieren, die Revolution herbeizuführen und diese dann zu gewinnen.
Trotz allem gibt es aber Möglichkeiten, sich mit Sozialverbänden, Gewerkschaften, Interessensgruppen und außerparlamentarischer Linker auf erreichbare Ziel, koordiniertes Handeln und Aktionskonzepte zu verständigen. Die Möglichkeiten, in einem offensiven Zusammenspiel von parlamentarischem und außerparlamentarischen Druck Forderungen durchzusetzen, wäre gegeben – man müsste nur aggressiver auftreten und einen aktionsorientierten Anspruch formulieren. Eine ohne Frage schwierige Aufgabe, aber eine machbare und angesichts der aktuellen Machtlosigkeit eine erforderliche. Deshalb wird in den folgenden beiden Parts beleuchtet, was die Linke jetzt trotz ihrer Struktur- und Organisationsprobleme machen kann und vor allem sollte.
Die Problemstellen der radikalen Linken im Kontext des linken Spektrums im Speziellen und der Gesellschaft allgemein sind nicht neu. Verschiedene Organisationsmodelle sind im Laufe der Jahrzehnte gescheitert oder aufgegeben worden, der Kampf hat sich zusehends entradikalisiert und der Ruf der Krawalllinken ist weit schlimmer als es die Realität hergibt. Staat und bürgerliche Gesellschaft werden vor allem im Kleinen herausgefordert, ohne sich damit aber jemals dem Ganzen entziehen zu können. Aber ob vor der Rigaer 94 eine Barrikade brennt oder nicht, ändert nichts an den Verhältnissen jenseits des Kleinen. Die Interventionistische Linke verfolgt daher einen klar mesopolitischen Ansatz. Man setzt auf Ortsgruppen im ganzen Bundesgebiet, man kann sich auf der Website nach Möglichkeiten in der (relativen) Nähe umschauen. Die Ortsgruppen agieren dann als Strukturgruppen, während man sich überregional auf einige Schwerpunktereignisse im Jahr konzentriert. G20, Ende Gelände, Pflegestreik, Rojava, Rheinmetall – man wählt die Projekte mit Bedacht und arbeitet dann Aktionsstrategien aus.
Hier geht es jetzt nicht um die inhaltliche Ausrichtung der IL und einzelner Ortsgruppen, im Fokus steht hier der Aufbau und die damit gegebenen Möglichkeiten. Durch die überregionale Struktur kann man sich Aktionen im ganzen Bundesgebiet zur Aufgabe machen. Dabei zerfleddert sich die IL aber nicht in viel zu viele Einzelthemen, sondern fährt teilweise über Jahre hinweg strukturiert und planvoll Kampagnen zu ihren Schwerpunkten. Durch die größere Anzahl an Mitgliedern und die Vernetzung zu anderen Gruppen hat man auch größere finanzielle und logistische Möglichkeiten als die Autonome Antifa Demmin mit fünf Leuten. Man hat presseerfahrene Personen, Kontakte und Erfahrungen, die alle für das Planen und Durchführen zukünftiger Kampagnen und Großaktionen hilfreich sind. Die Problematik vor allem der radikalen Linken, keine Vermittlung zwischen Kleingruppenaktivismus und radikalem Anspruch an die Gesellschaft zu haben, wird hier im Rahmen der Möglichkeiten der IL gelöst.
Ein Knackpunkt wird aber auch die IL vor eine Entscheidung stellen. Wenn sie tatsächlich einen transformatorischen Anspruch umsetzen will, muss sie sowohl zahlenmäßig als auch kampagnenbezogen größer werden. Ende Gelände ist richtig und wichtig, hat seinen Hauptimpact vermutlich aber schon gehabt. Hier ist jetzt eine Art Feedbackschleife notwendig, um die einzelnen Kampagnen auf ihren jeweiligen Status Quo abzuklopfen und zu schauen, wo man Veränderungen vornehmen muss, um dem transformatorischen Anspruch gerecht zu werden. Nicht nur Wachstum, sondern auf Schwerpunktverschiebungen hin zum Sozialismus sind notwendig. Hier wird die IL aber zwangsläufig in einen Bereich kommen, der für den Staat verbotswürdig ist. Eine radikale Linke kann nicht die BRD als bürgerlichen Staat erhalten, sondern steht ihr per Definition feindlich gegenüber. Ob und wie die IL diese Gratwanderung meistern wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Denn was ihren bisherigen Aktionsradius angeht, läuft sie Gefahr, es sich in ihrer (im Vergleich mit anderen Gruppen relativ großen) Nische gemütlich zu machen und in eine Stagnation zu verfallen.
Es handelt sich um einen Gastbeitrag der Facebookseite Das goldene Hufeisen.
Aller Anfang ist schwer besagt ein Sprichwort. Das stimmt nicht immer, in diesem Fall aber schon. Damit ist nicht nur der formelhafte Einstieg in den Text mit einem Stichwort (wahlweise auch Zitat einer berühmten Person) gemeint, sondern auch die Wahl des Zeitraums, der in diesem Artikel verhandelt werden soll. Fängt man beim NSU an? Nimmt man die Hogesa-Demo 2014 in Köln? Die darauf folgenden Ausschreitungen der Jahre 2015/16 oder den Mob von Chemnitz? Den Anschlag von München? All das spielt sicher mit rein, insbesondere NSU und München, trotzdem scheint es am sinnvollsten zu sein, den Mord an Walter Lübcke als Startpunkt für die Betrachtungen zu nehmen.
Diese Seite beschäftigt sich mit der Hufeisentheorie, angeschlossen daran wird insbesondere die damit eng verknüpfte Extremismustheorie beleuchtet. Diese baut wiederum auf Totalitarismustheorien auf. Damit steht ein zentrales Merkmal der bundesdeutschen Politikbetrachtung im Fokus. Näheres dazu ist unserem Interview im empfehlenswerten Buch „extrem unbrauchbar“ zu entnehmen, welches wir dankenswerterweise veröffentlichen durften. Nachzulesen ist es mit einem Rückblick aus dem Dezember 2019 hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/12/25/rueckblick-ausblick-und-das-interview-aus-extrem-unbrauchbar/ Und in den letzten Monaten macht es immer mehr den Anschein, als ob eben dieses zentrale Denkmodell der BRD langsam anfängt zu wackeln. Der Mord an Walter Lübcke hat in Verbindung mit vielen anderen Ereignissen und Entwicklungen im rechtsradikalen Spektrum eine inzwischen spürbar breite Debatte in der Öffentlichkeit angestoßen. In überregionalen Zeitungen wie im Tagesspiegel und der Zeit, im Spiegel und bei ZDF heute wird die Hufeisentheorie kritisch diskutiert.
Das Hufeisenmodell ist ebenso simpel wie anschaulich und falsch. Darin liegt seine agitatorische und propagandistische Stärke – aber ebenso auch seine Schwäche, wenn es eine Situation wie die jetzige gibt. Da es simpel und gleichzeitig auch grafisch sehr anschaulich ist, spricht es intuitiv auch Personen ohne größere Kenntnis politischer Theorie an und erschließt sich sofort. Die letzten Jahre sind aber mit wenigen Ausnahmen, die prominentesten wären hier G20 in Hamburg und die maßlos überzogene Kantholzdebatte um Magnitz, von rechten Mobs, rechter Gewalt, rechter Landnahme und rechtem Terror geprägt. Alle paar Monate wird eine rechte Terrorgruppe aufgedeckt, rechte Bedrohungen veranlassen Lokalpolitiker*innen zum Rücktritt und zum Beantragen von Waffenscheinen, es gibt Sprengstoffanschläge und Mobs auf den Straßen. Zusätzlich wurde noch das rechtsterroristische Hannibalnetzwerk offengelegt, welches Verbindungen zu Terroristen und lokalen Terrorzellen hat, bestens in Armee, Spezialeinheiten und Behörden vernetzt war bzw. ist und Vorbereitungen für einen Tag X mit Waffentrainings und Exekutionen linker Politiker*innen eine ganz reale und realistische Gefährdung darstellt. Zusätzlich werden teilweise im Wochentakt Waffenlager von Rechten ausgehoben, welche teilweise mit Waffengebrauch dagegen halten und einen Polizisten erschossen haben.
In diese Gemengelage fügen sich jetzt drei Ereignisse in Deutschland und eine Entwicklung ein, die offenkundig zu einem Umdenken bei Einigen geführt haben. Da wäre der Mord an Walter Lübcke aus Kassel. Von Rechten und Rechtsradikalen wie Erika Steinbach (bis 2017 Parteikollegin von Lübcke in der CDU) wurde er wegen seiner humanistischen Haltung und entsprechenden Äußerungen ab 2015 als Ziel für den rechten Onlinemob markiert. Wenige Monate vor seiner Ermordung befeuerte Steinbach 2019 erneut den Mob gegen ihn. Der Täter, Stephan Ernst, ist seit Jahrzehnten in Neonazikreisen aktiv, hat Verbindungen zu Combat 18, zum NSU-Komplex und anderen rechtsterroristischen Kreisen, ist also alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Die Verbindung von Onlinemob, Angriffen rechtsradikaler Leitfiguren und -medien und den Untergangsbeschwörungen des rechten Lagers sind offensichtlich. So sehr man auch versuchen mag einen Einzeltäter zu stilisieren, Ernst kann nicht losgelöst vom rechten Onlinediskurs betrachtet werden. Und es gibt noch sehr viele andere Personen, die ähnlich wie Ernst ticken.
Die beiden anderen Ereignisse sind Teil einer weltweiten Entwicklung: Der Anschlag von München und der Anschlag von Halle als Teil der Onlineradikalisierung ansonsten nicht eine klassische rechtsradikale Sozialisierung durchlaufender Terroristen. München ist im kollektiven Gedächtnis nicht stark als rechter Terroranschlag verankert und es ist einer beständigen Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit zu verdanken, dass diese Tat nachträglich als rechter Terror anerkannt wurde und nicht als Amoklauf wie zum Beispiel Winnenden klassifiziert wird. Dennoch ist er einer der weltweit ersten Anschläge des neueren Typus rechten Terrors, der mit Christchurch seinen bisher blutigsten Höhepunkt fand und zu dem auch der Anschlag in Halle, bei dem ein größeres Blutbad durch die gesicherte Tür der Synagoge verhindert wurde, zu zählen ist. Halle wurde durch die komplette Offenheit des Täters bezüglich seiner Motive sofort als rechter Terror begriffen und die ideologischen Schnittstellen zu meinungsführenden Personen, Gruppen und Parteien im rechtsradikalen Spektrum in Sachen Antifeminismus, Antisemitismus, völkischem Denken, Maskulinismus und Umvolkungswahn wurden schnell aufgezeigt.
Auch die Art der Radikalisierung ist breit diskutiert worden. Im Gegensatz zur klassischen Nazisozialisation über Stiefelnazikreise und Kameradschaften haben wir es hier mit im realen Leben eher wenig vernetzten Rechtsradikalen zu tun. Das Antifa Infoblatt hat sich in den letzten beiden Ausgaben ausführlich mit dieser weltweiten Entwicklung beschäftigt, die umfangreichen Recherchen sind empfehlenswert. Und als vorläufiger Schlusspunkt reiht sich nun Hanau als Schauplatz rechten Terrors ein. Lübcke, Halle und Hanau liefern in nicht einmal zehn Monaten drei tödliche Terroranschläge mit rechtsradikaler Motivation zusätzlich zu den bereits angesprochenen Waffenbeschlagnahmungen, Festnahmen rechter Terrorgruppen, dem Hannibalnetzwerk und so weiter. Eine ähnliche Entwicklung gibt es linksradikalen Lager nicht, das simple Adäquanzdenken des Hufeisens lässt sich nicht mit der Realität abgleichen.
Im Gegenteil sind es gerade Linke, die sich nach allen Fällen rechtsradikalen Terrors als Erste an vorderster Front gegen Rechte stellen. Nach allen drei Anschlägen sind umgehend Linke in allen Landesteilen auf die Straße gegangen und haben gegen rechten Terror und für eine schonungslose Aufklärung demonstriert. Antifaschist*innen waren vielfach direkter und weitreichender in ihren Forderungen und Solidaritätsbekundungen mit Walter Lübcke als dessen Parteikolleg*innen von der CDU. Die Union ist nicht spontan auf die Straße gegangen, Antifas schon. Linke haben ihrerseits die verhaltenen Reaktionen der Union nach dem Mord an einem Unionsmitglied scharf kritisiert. Und das wird auch innerhalb der Union nicht unbemerkt geblieben sein. Ausgerechnet die Antifa, die böse linksextremistische Krawall- und Chaotentruppe, die man mit christlich-konservativen Ansichten aus der bürgerlichen Mitte (so ja das Selbstbild Vieler in der CDU) aus tiefstem Herzen ablehnt, gehen in voller Solidarität mit einem Unionsmitglied auf die Straße und sind wütender als die eigene Partei.
Eine Person, bei der möglicherweise ein Umdenkprozess eingesetzt hat, ist ausgerechnet Horst Seehofer. Ja, es ist sehr spekulativ und weil es sich um den Heimathorst handelt, ist diese Spekulation auch mit höchster Vorsicht zu genießen zu genießen und steht unter jeder Menge Vorbehalt. Dennoch ist das, was man von Seehofer seit dem Anschlag von Halle hört, durchaus ein qualitativer Unterschied zu dem, was man von CSU-Leuten erwarten kann. Gerade dort hat man ja das Hufeisen und die Extremismustheorie für sich gepachtet. Auch an die Berliner JU mit ihrem „Schlager gegen Links“ sei hier verwiesen, was exemplarisch für die weltanschauliche Verzerrung der Realität steht, in der sich Einige dort befinden.
Und ausgerechnet Horst Seehofer verbittet sich nach Hanau sämtliche Verweise auf Linke und erteilt dem Hufeisen somit eine Absage. Möglicherweise hat es bei ihm Klick gemacht, nachdem es in Kassel, Halle und jetzt auch Hanau click click click gemacht hat. Als Bundesinnenminister ist er ja direkt mit solchen Terroranschlägen befasst und bekommt auch alle anderen hier bereits aufgezählten Entwicklungen und Ereignisse auf den Tisch gelegt. Das Wissen, dass es dann auch noch in Armee, Polizei und Behörden potentiell rechtsterroristische Netzwerke gibt, die sich auf einen Tag X vorbereiten und Zugriff auf zumindest Teile der staatlichen Logistik und Informationsressourcen haben, gleichzeitig Waffen, Munition und Namenslisten sammeln, dürfte in Verbindung mit dem Mord an Lübcke zumindest momentan das Seehofesche Hufeisendenken auf den kalten und harten Boden der Realität geholt haben. Es war auch Seehofer, der der Aufzählung von Halle und Hanau richtigerweise den Anschlag von München als ersten des neueren rechtsradikalen Terrortypus vorangestellt hat.
Allerdings darf man nicht den Fehler begehen, diesem möglichen Erkenntnisgewinn einiger Personen zu viel Hoffnung abzugewinnen. Öffentliche Distanzierungen vom Hufeisen sind wegen der genannten Entwicklungen und Bedrohungsszenarien aus dem rechten Spektrum mitunter notwendig, um sich selber öffentlich nicht zu sehr zu diskreditieren. Selbst Friedrich Merz hat sich vom Hufeisen distanziert, während er gleichzeitig rechtsradikale Forderungen umsetzen will um Rechtsradikale zu bekämpfen. Da werden dann nicht mehr Linke mit Nazis in einen Topf geworfen, um unter dem Deckmantel der (nicht existenten) Mitte rechte Politik zu betreiben. Man lässt halt einfach das zusammenschmeißen weg.
Der Bereich, in dem ein Seehofer das Hufeisen beerdigt hat, ist (sollte es denn so sein) auf den des Terroristischen begrenzt. Abseits davon steht das Hufeisen zur Diskussion, wird sich aber vor allem in der Praxis weiterhin äußerster Beliebtheit erfreuen. Als jüngstes Beispiel dafür kann den Scherz über Erschießungen und verpflichtende Arbeit für Reiche und die Reaktionen darauf heranziehen. Da wird dann tatsächlich von der FDP ein Tagesordnungspunkt im Bundestag anberaumt, ob die Linkspartei überhaupt verfassungskonform sei. Die CSU veröffentlicht Sharepics, Abgeordnete wollen die ganze Partei unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stellen und so weiter. Dabei wird nicht unbedingt offen das Hufeisen geworfen, ganz ohne kann man solche Aktivitäten aber nicht betrachten. Zu fest ist das Hufeisendenken gerade durch Union und FDP gehegt und gepflegt worden und wird es auch immer noch. Der Beißreflex Richtung Sozialdemokratie, Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus sitzt tief und wird als fester Bestandteil der bundesrepublikanischen politischen Bildung auch nicht so schnell weggehen. Seit der Französischen Revolution bekämpft die Obrigkeit im deutschsprachigen Raum jegliche Progression von links, da hört man doch nicht wegen ein bisschen rechtem Terror mit auf.
Wirklich interessant und tatsächlich auch spannend (da ist sich das Adminteam einig) wird allerdings die kommende Auseinandersetzung innerhalb von CDU/CSU und FDP in Sachen Umgang mit der AfD. Die Vorgänge in Thüringen rund um die Wahl Kemmerichs mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten haben das Schlaglicht auf ein tiefsitzendes Problem beider Parteien geworfen. CDU/CSU und FDP haben mit der AfD die meisten inhaltlichen Übereinstimmungen und Schnittstellen. Das trifft sowohl auf alle anderen Parteien im Bundestag insgesamt zu, als auch auf Landesverbände und insbesondere die Bereiche Soziales, Wirtschaft, Sicherheit, Familie und alles, was mit Migration und Umverteilung zu tun hat. Bei der CDU gibt es dort mit der Merkel-Fraktion einen klaren Gegenpol, doch aktuell scheint die Partei unter dem Eindruck der AfD-Erfolge auf die Linie Friedrich Merz einzuschwenken. Dabei wirkt es so, als ob man sich in weiten Teilen der Union freut, das Kapitel Merkel hinter sich lassen und endlich wieder nach alter Manier dem Konservatismus frönen zu können. Sozialchauvinisten wie Merz oder der JU-Vorsitzende Kuban sind Aushängeschilder dieser Entwicklung und Marschroute.
Die Selbsttäuschung, in Verbindung mit einer Immunisierungsstrategie und vorweggenommener Kritikabwehr, man habe als „bürgerliche Mitte“ gar nichts mit Rechtsradikalen jeglicher Art zu tun, bröckelt zusehends. Für Kundige des Themenkomplexes war und ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Landesverbände der Union und der FDP offen für eine Koalition mit der AfD positionieren. Die inhaltliche Nähe verbindet dabei genauso wie die tiefsitzende Ablehnung von Allem, was man als links verortet. Die AfD agiert insofern taktisch ziemlich klug mit ihrem wahnhaften Eindreschen auf alles irgendwie Linke. Egal wie hart sie übertreibt, verfälscht und lügt, sie stärkt damit die Fraktion in Union und FDP, die Linke aufs Blut verabscheuen. Und ja, davon gibt es nicht allzu wenige. Die Diskursverschiebung wird dort in Teilen freudig aufgegriffen, die nationalkonservative Werteunion ist da nur das Vorzeigeexemplar entsprechender Aktivitäten. Es ist keine Raketenwissenschaft vorherzusagen, dass es in den nächsten fünf Jahren offene Kooperations- und Koalitionsangebote auf Landesebene geben wird.
Spannend wird dabei vor allem, wo genau innerhalb der Parteien die Bruchlinien zu beobachten sein werden. Denn es gibt bei aller notwendigen Kritik, sei es an den konkreten Positionen oder am illusorischen Selbstbild der Mitte, auch eine starke Fraktion innerhalb der Union, die eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ablehnt. Wie stark diese Fraktion in der FDP ist, können wir nicht sagen. Da Christian Lindner aber bereits vor der Wahl Kemmerichs eine Duldung durch die AfD gebilligt hat, dabei aber den öffentlichen Gegenwind unterschätzte und zurückrudern musste, dürfte sie schwächer als in der CDU sein.
Innerhalb beider Parteien muss man sich aber auch gerade in Hinblick auf das Selbstbild der Mitte zusehends zu der Erkenntnis kommen, dass die eigene Partei diesem Anspruch nicht einmal formal gerecht wird. Die Möglichkeit, dass die AfD eine im bürgerlich-demokratischen Sinne konservative Partei wird, ist seit Jahren vorbei. Mit der Abwahl Luckes war der Weg der Partei entschieden und spätestens nach dem Ausscheiden Petrys 2017 braucht man auch gar keine großen Diskussionen mehr zu führen. Die AfD ist rechtsradikal und wer in ihr Mitglied ist, hat zumindest mit Nazis und Faschos kein Problem. Analog gilt für Personen, die Kooperationen und Koalitionen mit der AfD für möglich halten, dass sie kein Problem haben, mit Faschos und Nazis zu kooperieren und koalieren. Dieser Realität müssen sich alle Mitglieder zwangsläufig stellen.
Welche Konsequenzen daraus erwachsen, wird sich zeigen. Sicherlich werden Personen aus der Partei oder den betreffenden Fraktionen austreten, wenn es zu konkreten Kooperationen kommt. Ebenso wird es zu einem offenen Machtkampf zwischen Bundespartei und den Landesverbänden kommen, die mit der AfD offen zusammenarbeiten wollen. Die Bundespartei wird dabei aller Voraussicht nach verlieren, da der Drang einiger Landesverbände zur Kooperation stärker sein wird.
Neben der Entwicklung hin zur AfD und zur aktiven Stützung des parlamentarischen Rechtsradikalismus gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Man muss registrieren, dass es ebenfalls einflussreiche Kräfte gibt, die eine Normalisierung der Beziehung zur Linkspartei zumindest in Teilen anstreben. Der Unvereinbarkeitsbeschluss mit AfD und Linkspartei wackelt nicht nur hin zur AfD. Gerade die Personalie Ramelow, einem katholischen und sehr moderaten Sozialdemokraten, liefert im Gegenspiel mit Bernd Höcke, völkischer Faschist par excellence, die Gretchenfrage, wie man es denn nun mit dem Hufeisen halte.
In der Praxis hat sich die Linkspartei in den letzten 30 Jahren deutlich von der SED hin zu einer völlig normalen Partei im bundesrepublikanischen Parteiengefüge entwickelt. Der überwiegende Teil der Partei hat kein Interesse daran, die BRD grundlegend über den Haufen zu werfen. Und auch sämtliche Regierungsbeteiligungen haben bisher keine Gulags gebracht. Man kann – im Guten wie im Schlechten – der Linkspartei insgesamt Verfassungstreue attestieren. Sie versucht die Verfassung in einer sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Art auszulegen, nicht mehr, nicht weniger. Aus diesem Grund hat sich auch bei einigen Vertreter*innen von CDU und FDP die Haltung durchgesetzt, die Linkspartei als gleichwertige Partei innerhalb des Parteiensystems zu sehen. Es gibt ja auch immer mal wieder fraktionsübergreifende Absprachen, in die auch die Linkspartei eingebunden wird.
Angesichts des gefestigten parlamentarischen Rechtsradikalismus in Form der AfD stellt sich die ganz praktische Frage, wie man zu einem antifaschistischen Minimalkonsens steht (sprich keinerlei Kooperation und Zusammenarbeit mit der AfD) und welche ideologischen Unterschiede man bereit ist, bei der Bekämpfung der AfD außen vor zu lassen, um handlungsfähig zu sein. In welcher Form und in welchem Umfang das passieren wird ist schwer zu sagen. Es bleibt aus Sicht des Hufeisens aber spannend, was da auf uns zukommt.
Eine Woche ist es jetzt her, dass sich Kemmerich von der FDP mit Hilfe von Stimmen der CDU und der AfD hat zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen. Viel ist passiert in dieser Woche, viel mehr wird passieren. Überraschend ist das Ganze dagegen nun wirklich nicht. Wer sich ein wenig eingehender mit der Normalisierung der AfD im parlamentarischen Betrieb beschäftigt hat, wird die eigenen Erwartungen in weiten Teilen bestätigt sehen.
Im Laufe der letzten zwei Jahre sind immer wieder Kooperationen von Unionspolitiker*innen mit AfD-Leuten zu beobachten gewesen. Diese fanden vor allem auf regionaler Ebene statt, bekannt sein dürfte unter anderem die gemeinsame Front von AfD, Nazis und CDU gegen einen Auftritt von Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus Dessau. Einzelne Stimmen aus Union und auch der FDP haben im Laufe der Jahre immer wieder eine Normalisierung der Beziehungen zur AfD angesprochen, wurden aber vor allem in den Anfangsjahren bis zur letzten Bundestagswahl durch die schrittweise Radikalisierung der Partei hin ins völkische und faschistische Spektrum immer wieder durch die Realität überholt.
Die Radikalisierungsphase der AfD ist nun weitestgehend abgeschlossen. Der Flügel und Höcke sind tonangebend und wer auch immer hoffte, die Partei würde nationalkonservativ bleiben, in einem rechtsliberalen Sinne, der oder die hat die Partei inzwischen verlassen. Wer 2020 in der AfD ist, teilt sich die Partei ganz bewusst mit Faschos und sonstigen Rechtsradikalen – oder zählt selbst zu diesen Gruppen. Und das weiß man auch bundesweit. Die AfD wird in der Öffentlichkeit als die rechtsradikale Partei gesehen, die sie ist. Dieser Punkt ist ebenso banal wie wichtig, ist er doch entscheidend für den Umgang mit FDP und CDU.
Denn hier haben wir es mit Berufspolitiker*innen zu tun, denen täglich Brot der politische Betrieb ist. Wenn irgendwer wissen muss, um was für eine Partei es sich bei der AfD handelt, dann diese Leute. Wer also im Jahr 2020 offen aufruft zur gemeinsamen Sache mit der AfD, der ruft offen zur Kooperation mit dem Faschismus auf. Und das in vollem Bewusstsein aller historischen Lehren und aktueller Entwicklungen. Wer 2020 in irgendeiner Art und Weise mit der AfD kooperieren möchte, hält den Faschos die Steigbügel. Und muss deshalb folgerichtig auch so behandelt werden. FDP und CDU können nicht auf einmal total überrascht tun, wenn sie das direkte Ziel antifaschistischen Aktivismus werden. Sollten weiterhin Teile der Parteien, wie zum Beispiel die Werteunion, offen für die Kooperation mit der AfD werben, dann sind diese auch weiterhin Ziel antifaschistischer Aktivität und den entsprechenden Maßnahmen, welche erforderlich sind für einen erfolgreichen Aktivismus.
Wichtig ist dabei aber auch, dass man in diesem Aktivismus sinnvoll abwägt, ob und inwiefern die diskutierten Mittel hilfreich sind. Nach der Wahl Kemmerichs wurden Beleidigungen und Bedrohungen auch seiner Familie gegenüber berichtet, ebenso soll eine FDP-Abgeordnete im Beisein ihres Kindes mit einem Böller beworfen worden sein. Sollte dies den Tatsachen entsprechen, so ist das abzulehnen. Sippenhaft ist nichts, was man sich als Antifaschist*in zu eigen machen sollte. Auch darf man nicht die Augen vor dem Zustand von FDP und CDU verschließen. Denn diese Parteien verfügen nicht über eine einheitliche Position und stehen in den kommenden Jahren vor ernsthaften internen Problemen.
Ideologisch stehen FDP und Unionsparteien der AfD am nächsten. Dies trifft sowohl auf die Wirtschaftspolitik zu (noch ist die AfD fundamental-liberal eingestellt und damit insbesondere der FDP nahe) als auch auf die Sozialpolitik und den Nationalismus. Verbindend ist auch der Hass auf Linke, in der Frühzeit der BRD haben Union und FDP aktiv die Integration alter Nazisgrößen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft betrieben, es fanden sich einflussreiche Netzwerke alter Nazis in beiden Parteien. Gegen Linke konnte man fast nahtlos weiterarbeiten, der Kalte Krieg bot den entsprechenden Rahmen zur Verfolgung. Die Unionsparteien sind im Laufe der Geschichte der BRD faktisch gesehen immer weiter entfaschisiert worden, ebenso die FDP. Offene Nazianbandelei ist heute nicht mehr ohne bundesweite Aufmerksamkeit möglich, früher bestimmten die Altnazis noch direkt das Bild der Parteien.
Es ist unabdingbar, dass man auch aus der radikalen Linken heraus anerkennt, dass es bei Union und FDP Personen und Gruppen gibt, die das antifaschistische Minimum erfüllen und keine Zusammenarbeit in irgendeiner Form mit Faschos unterstützen oder tolerieren wollen. Auf der anderen Seite gibt es als prominentestes Beispiel die Werteunion, welche offen für eine AfD-Zusammenarbeit wirbt und sich aktiv für die Normalisierung von Faschos einsetzt. In diesem Spannungsfeld zwischen einem Ruprecht Polenz, ehemaliger CDU-Generalsekretär, und einem Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Leiter des Bundesverfassungsschmutzes, wird sich die interne Auseinandersetzung innerhalb der Union abspielen.
Die Werteunion ist noch nicht lange aktiv, aber sie ist eine logische Konsequenz aus dem Geschehen der letzten Jahre. Die AfD hat die ehemals klare Aufteilung im Parteienspektrum insofern ausgehebelt, als dass es jetzt eine rechtsradikale Partei gibt, die teilweise zweitstärkste Kraft ist und somit das rechtsradikale Stimmenpotential fast vollständig abrufen kann. Zur NPD konnte man wegen ihrer Kameradschaftsanbindung leicht Distanz halten, bei einer AfD mit breiter Zustimmung bundesweit fällt dies schwerer. Zumal sich in den Reihen der AfD auch viele ehemalige CDU-Mitglieder finden, die über alte Kontakte verfügen. Die AfD hat rechtsradikale Positionen für erheblich größere Bevölkerungsteile wählbar gemacht.
Der klassische deutsche Konservatismus hat viele inhaltliche Schnittstellen mit unterschiedlichsten rechtsradikalen Ideologien. Der Fokus auf die Nation und das deutsche Volk als zentraler Bezugspunkt der eigenen Weltanschauung sind der größte Anknüpfungspunkt, verbunden mit einem hierarchischen Gesellschaftsbild und einem autoritären Herrschaftsprinzip sowie einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, der Hass und die Ablehnung alles Linkem wurde bereits erwähnt. Wie stark diese Details gewichtet sind und wie sie genau ausformuliert sind unterscheidet unterschiedliche Ansätze, ebenso wie stark man das plebiszitäre Element einer parlamentarischen Demokratie zulässt. Wer behauptet, man könne klassischen Liberalismus und Konservatismus glasklar von nationalrevolutionären Ideologien und dem Faschismus trennen, lügt. Es gibt keine klare Grenze.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Werteunion als Scharnier zwischen einem im demokratischen Sinne bürgerlichen Konservatismus und dem nationalrevolutionären Treiben innerhalb der AfD versteht und versucht. Da der Übergang eh fließend ist, kann man ihn auch organisationstechnisch derart gestalten. Das politische Spektrum innerhalb der Unionsparteien differenziert sich unter Einbeziehung des AfD-Aufstiegs aus. Für die Union wird es daher interessant, wie sie als Gesamtpartei damit umgeht. Die Frage stellt sich nicht nur nach Thüringen, sie wird sich auch in Zukunft weiter stellen.
Thüringen kam für die Werteunion und die offene Kooperation mit der AfD vielleicht ein oder zwei Jahre zu früh. Man hat angetestet und festgestellt, dass die Stimmung noch nicht so weit ist. Es wird aber nicht bei diesem Versuch bleiben. Die Werteunion baut ihr Netzwerk erst auf und es wird genügend Kreis- und Landesverbände geben, bei denen die Machtoption das antifaschistische Minimum übertrumpfen werden. Insbesondere wenn der Antikommunismus tief sitzt, alles Linke mit Insbrunst gehasst und abgelehnt wird, hat die AfD gute Chancen auf Annäherung der Union. Die Linken, die Antifa – ein gemeinsamer Feind verbindet und was sind dann schon die paar etwas zu harschen Aussagen von Höcke? Hauptsache man hat den Linken eins ausgewischt. Genau solche Aussagen gab es unmittelbar nach der Wahl Kemmerichs zu vernehmen, bis die Bundesspitze bei Union und FDP dem einen Riegel vorgeschoben hat.
Für eine direkte Kooperation auf Landesebene bieten sich aktuell insbesondere die neueren Bundesländer an, in denen die AfD teilweise zweitstärkste Kraft ist und auch über sehr rechte Landesverbände von CDU und FDP verfügt. Sachsen-Anhalt und Sachsen sind hier die offensichtlichen Kandidaten, aber auch Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg können in Frage kommen, sollte die Union den Platz in der Regierung verlieren. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer offenen Kooperation kommt.
In den Reihen müssen sich dann die Mitglieder, die das antifaschistische Minimum erfüllen und auch ernsthaft vertreten, mit den Mitgliedern umgehen, die dieses Minimum aktiv untergraben. „Wie hältst du es mit der AfD“ dürfte in den kommenden Jahren zur Gretchenfrage werden. Für einige wird sich auch die Frage stellen, ob sie die Partei verlassen, wenn man Gruppierungen wie die Werteunion nicht ausschließt. Es ist anzunehmen, dass sich in den nächsten zehn Jahren auch auf Bundesebene das absolute Kooperationsverbot als Feigenblatt verabschiedet und man zumindest den Landesverbänden offiziell die Faschokuschelei erlaubt. Konservative und Liberale haben auf Partei- und Organisationsebene noch nie von alleine den antifaschistischen Minimalkonsens gehalten und sie werden es auch in Zukunft nicht.
Aus antifaschistischer Sicht ist es daher geboten, sich die Demarkationslinien innerhalb von Union und FDP genau anzuschauen und nicht blind alle Parteimitglieder als Ziel antifaschistischen Aktivismus anzusehen. So wenig man darauf auch Lust haben mag, im Notfall muss das antifaschistische Minimum auch innerhalb von Union und FDP gestützt werden, sollte die Situation es erforderlich machen. Wichtig ist dabei aber zu beachten, dass es sich ausschließlich um konkrete sachbezogene Aktionen und Themen handeln kann. Jenseits der Fragen des antifaschistischen Minimums gibt es wenig bis gar nichts Verbindendes und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dort Genoss*innen vor sich zu haben.
Auch darf man aus radikal linker und antifaschistischer Perspektive nicht den Fehler begehen und sich zu sehr auf sämtliche Parteien im Parlament verlassen. Insbesondere die gerade überall zu sehenden wehmütigen Gedanken an das Ende von Merkels politischer Karriere strafen jeden eigenen Anspruch Lügen. Ob darin der Wunsch nach gedulsamer Führung durch „Mutti“ oder eine andere Person zum Ausdruck kommt, die eigene Anspruchslosigkeit oder die Angst vor Wandel ist in der Summe nicht zu sagen. Merkel und Co aber über Gebühr als antifaschistische Vorkämpfer*innen zu stilisieren kann aber nicht der Weg sein. Die Union ist auch unter Merkel eine sozialchauvinistische und rassistische Dreckspartei, die nichts gegen den Klimawandel tut und mit Vorliebe auf Linke einprügelt.
Die radikale Linke muss sich in erster Linie auf sich selber verlassen und darf sich auch nicht in inhaltlicher Anbiederung an die eh nicht vorhandene „bürgerliche Mitte“ selbst aufgeben. Es gibt im Falle der AfD nur die Frage, wie konsequent antifaschistisch man ist und wie weit man solidarisch mit entsprechendem Aktivismus ist, auch wenn selbst bestimmte Aktionsformen nicht ausführen würde. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass das alles kein Selbstbespaßungs- und Selbstdarstellungsladen ist. Es muss Antifaschismus immer und vorrangig um die praktische Umsetzung gehen und er muss auf Resultate abzielen. Wenn dann Antifaschist*innen es als erforderlich ansehen ein wenig unverkrampfte Automobilkritik zu äußern oder das Schlüsselbein vom Nazi mal knacken muss, nehmen sie bewusst das Risiko der Strafverfolgung auf sich, um ein Ziel zu erreichen. Und dieses ist nicht die Selbstvergewisserung der eigenen Radikalität. Im Notfall muss man da auch zurückstecken und bei klarer inhaltlicher Positionierung anschlussfähig nach außen bleiben, um eben kein Selbstbespaßungsladen zu werden.
Leicht ist das alles nicht, aber es wird auch in den kommenden Jahren nicht leichter. Die AfD hat es geschafft, dass vorhandene rechtsradikale Stimmenpotential abzugreifen. Was jetzt passiert, wo dieses erstmals eine bundesweit etablierte parteiliche Organisation hat, ist nicht vollends abzusehen. Sicher ist aber, dass es in einigen Regionen zu einem merklichen Einfluss kommen wird und sich nationalistische und völkische Hegemonien ausweiten können. Wie erfolgreich die AfD beim Ausbau ihrer Stimmanteile werden kann, hängt auch zu einem Teil davon ab, wie CDU und FDP es schaffen, den antifaschistischen Minimalkonsens innerhalb ihrer Parteien durchzusetzen. Insbesondere auf Landesebene sollte man sich da aber keinen allzu großen Illusionen hingeben. Liberale und Konservative sind durch die großen inhaltlichen Schnittstellen zu anfällig für die Kooperation, als dass sie es dauerhaft durchhalten könnten, die AfD auszugrenzen. Der Faschismus ist schließlich ein Resultat der Moderne und der bürgerlichen Gesellschaften.
Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat eine neue Ausarbeitung veröffentlicht. Darin geht es um die weltweit wachsende Ungleichheit und das weitere Auseinanderdriften der Einkommensverteilung und Arbeitsbelastung.
Wer sich mit dem Themenkomplex ein wenig auskennt, wird hier keine großen Neuigkeiten vorfinden. Die einzelnen Punkte sind wohlbekannt und wurden hier publikumswirksam mit persönlichen Geschichten garniert, um das manchmal trockene Runterbeten von Zahlen emotional zugänglicher und greifbarer zu machen. Ein alter und weil wirksam gerne genommener Trick. Der Schwerpunkt liegt hier auf zwei Personengruppen: Milliardäre (Oxfam zählt 2153, von denen laut Forbes Magazin 233 Frauen sind) auf der einen Seite und Frauen/Mädchen in den unteren Einkommensschichten auf der anderen Seite. Mit dieser Gegenüberstellung fährt Oxfam die gerade populäre Schiene, sich an den Extremauswüchsen der kapitalistischen Wirtschaftsweise abzuarbeiten und einen faireren Kapitalismus zu skizzieren, ohne jedoch den Kapitalismus in seinen Grundmechanismen überhaupt als Problem wahrzunehmen.
Dieser Umstand zieht sich auch in vielen kleinen wie großen Dingen durch die Veröffentlichung durch und letztendlich führt sie auch zu einer schwierigen Implikation, wie sie mit dem Sharepic von HR Info deutlich wird. Die dahinterstehende Problematik beruht im Grunde auf dem Verständnis von Arbeit und Entlohnung und berührt auch aktuelle Trendbegriffe, die teilweise in urfeministische Bereiche hineinreichen. Zentral ist dabei das Feld der Reproduktionsarbeit bzw. der Care-Arbeit, was sich intuitiv besser greifen lässt. Zu diesem Bereich zählt man Kinderbetreuung, Pflege, Hausarbeit und im weiteren Sinne nach Margrit Brückner „de[r gesamte] Bereich weiblich konnotierter, personenbezogener Fürsorge und Pflege, d.h. familialer und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung und stellt sowohl eine auf asymmetrische Beziehungen beruhende Praxisform als auch eine ethische Haltung dar.“ ^1
Sowohl Feminist*innen als auch radikale Linke haben die geschlechterasymetrische Verteilung dieser Tätigkeiten und somit die Ausbeutung von Frauen im Familienverbund und auf gesellschaftlicher Ebene seit weit über 100 Jahren aufgezeigt und kritisiert. Die Soziologie liefert ebenfalls seit Jahrzehnten entsprechendes Datenmaterial und es liegt vor allem an der eigenen weltanschaulichen Ausrichtung, wie man diese Ungleichverteilung der geleisteten Carearbeit einordnet. Rechte zum Beispiel sehen darin in der Regel kein Problem, da für sie Frauen als selbstverständlich angenommen emotionaler sind und so „natürlich“ besser für Erziehung und Pflege geeignet seien als Männer. Sie nehmen solche Tatsachen daher eher mit einem Schulterzucken zur Kenntnis und bekämpfen im Gegenzug jegliche Gleichverteilungsbestrebungen.
Soweit erst einmal der allgemeine Rahmen, aber wo fangen jetzt aus linker Sicht die Probleme an? Hier wird ja eine Gleichverteilung der zu leistenden Arbeit angestrebt. Im Sharepic des HR kann man das Wort „unbezahlt“ lesen. Und je nachdem, was man jetzt als Arbeit definiert, ist das auch vollkommen richtig. Im Endeffekt gibt es für alles, was man als menschliche Tätigkeit und soziale Interaktion vornehmen kann, eine Möglichkeit der Monetarisierung, also der Lohnarbeit. Insbesondere wenn man von Erziehungs- und Pflegearbeit spricht, gibt es für alles bezahlte Jobs. Aber auch – jetzt folgt ein aktueller Trendbegriff – „emotional labour“ kann bezahlt werden. Eigentlich wird darunter verstanden, dass man sich auf Arbeit für Kolleg*innen und Kundschaft verstellt, heutzutage wird der Begriff aber teilweise für so ziemlich alles verwendet, was man unter „Leuten zuhören“ verstehen kann. Dafür gibt es ausgebildete Psycholog*innen, deren Job es ist, Leuten bei ihren Problemen zuzuhören. Sex wird unter dem Motto „Sexarbeit (ist Arbeit wie jede andere)“ ebenfalls in diesen Bereich eingemeindet.
Unstrittig ist, dass es eine geschlechterspezifische Ungleichverteilung gibt. Die Frage ist nur, ob man diese in Form von Lohnarbeit der kapitalistischen Verwertung unterwerfen soll. Soll jetzt alles, wofür man Geld nehmen kann, auch der Lohnarbeit unterworfen werden? Stellt Mama demnächst Rechnungen für das Putzen der Wohnung und lassen sich Freunde emotional labour auszahlen, wenn sie deinem Liebeskummer für ein paar Wochen zuhören? Diese Beispiele sind zugespitzt, treffen aber den Kern des Problems der unebzahlten Carearbeit. Auf der einen Seite wird der Bereich der Carearbeit momentan immer weiter gefasst (siehe emotional labour, was einem immer häufiger unterkommt), auf der anderen Seite diese Arbeit dann als un- oder unterbezahlt aufgezeigt und somit in letzter Konsequenz zu Lohnarbeit gemacht.
Wer mit der Warenwerdung von Produkten, Tätigkeiten und letztendlich von Menschen selbst im Kapitalismus vertraut ist, muss hier die Alarmsignale wahrnehmen. Die Lösung der ungleichverteilten Tätigkeiten im Carebereich kann nicht sein, dass man noch mehr Tätigkeiten der kapitalistischen Verwertung unterwirft. Zumal die einzelnen Felder in der Regel nicht genau taktbar sind und somit rationalisiert werden können. Die Kindheit und Alter passen schlecht in Verwertungslogiken des Kapitals und Gewinnerzielungsinteressen und Rationalisierung betreffen ganz direkt die Lebenqualität. Wenn man wie Oxfam kein Interesse daran äußert, den Kapitalismus zu überwinden, läuft man Gefahr, hier mit einer an sich unterstützenswerten Forderung neue Bereiche der kapitalistischen Verwertung zu unterwerfen, die dann aber bitte geschlechtergerecht zu verwerten sind. Und die sich auch nicht wirklich kapitalistisch verwerten lassen, ohne das soziale Gefüge zu einem großen Teil zu verkapitalisieren. Niemand sollte ein Interesse daran haben, familiäre und freundschaftliche Interaktionen unter emotional labour einzuordnen und monetär aufzuwiegen, selbst wenn es nur im Kopf geschieht. Was wäre die letztendliche Konsequenz aus einer bis zu Ende gedachten Lohnarbeit für emotional labour? Stellen sich Freundeskreise am Ende vom Monat gegenseitig Rechnungen aus?
Was mit Bereichen passiert, die der kapitalistischen Verwertung unterworfen werden, sieht man im Bereich der Medizinversorgung. Und genauso sieht man die Unterschiede, die Eingriffe von öffentlicher Seite bewirken können. Man muss sich nur einmal die die Gesundheitsbranche in den USA anschauen. Dort kostet die Geburt eines Kindes im Krankenhaus durchschnittlich 10.000 Dollar. Ja, richtig gelesen. Man muss im Schnitt 10.000 Dollar dafür zahlen, dass man im Krankenhaus ein Kind gebirt. Teilweise wird sogar das Halten des Babys nach der Geburt in Rechnung gestellt. Untersuchungen im Krankenhaus kosten schnell vier- bis fünfstellige Beträge und viele Menschen können sich lebensnotwendige Behandlungen und Medikamente nicht leisten. So sieht eine im Vergleich unregulierte kapitalistische Verwertungslogik aus. Bei aller notwendig zu leistender Kritik am deutschen Gesundheitssystem (oder anderen vergleichbaren), sind die Unterschiede in der Breitenversorgung eklatant. Niemand stürzt hier durch die Kosten einer Herzoperation direkt in die Armut.
Der Bereich der Carearbeit, insbesondere der Bereich der Pflege, ist vor solchen Zuständen wie in den USA auf jeden Fall zu bewahren. Eine Ausweitung der Lohnarbeit auf Caretätigkeiten jeglicher Art birgt diese Gefahr immer in sich. Und mit einer CDU am Drücker sollte man auch vorsichtig sein, welche Forderungen man stellt. Spahn wirbt aktuell um Pflegekräfte aus Lateinamerika, um die hiesigen Leerstellen zu besetzen. Das europäische Ausland wurde schon größtenteils abgegrast und es sind solche Vorgänge, die von Oxfam und anderen zurecht kritisiert werden. Genau solche Missstände sollen durch eine Aufwertung der Carearbeit auch monetär behoben werden. Nur werden sie das nicht langfristig verhindern können, wenn sie die Lohnarbeit als Konzept stärken und den Kapitalismus in seinem Lauf nicht überwinden wollen. Oxfam selber fordert auf Seite 43: „[…] shift the responsibility for of unpaid care work to the state and the private sector.“ ^4 Es wird also eine Ausweitung der kapitalistischen Privatwirtschaft gefordert, wenn auch unter gewissen „fairen“ Rahmenbedingungen.
Idealerweise muss der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit bei der zu leistenden notwendigen und erforderlichen Arbeit ein antikapitalistischer sein und Menschen wie menschliche Tätigkeiten entkomodifizieren, sie also der kapitalistischen Verwertung entziehen. Dies trifft vor allem den sozialen Bereich somit die Carearbeit. Sicher ist das schwer inmitten einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Aber in einer postkapitalistischen Gesellschaft mit überwundener Lohnarbeit und einem viel niedrigerem Arbeitspensum als heutzutage nehmen soziale Aktivitäten einen sehr viel größeren Wert ein als heutzutage. Gerade die Benachteiligung von Frauen rührt innerhalb des Kapitalismus zum Teil daher, dass sich die ihr zugeschriebenen Tätigkeiten und das Gebären der Kinder nicht einfach plan- und berechenbar der Verwertung unterwerfen lassen. Man muss also die Gratwanderung schaffen, einerseits die geleistete Arbeit im Carebereich besser zu entlohnen und die Geschlechterasymetrie zu beenden, anderseits aber darauf zu achten, nicht der Verwertbarkeit anheim zu fallen und im Namen der Emanzipation das Spiel des Kapitalismus betreiben und Wege zu finden, dessen Verwertungslogik von links auszuweiten. Stattdessen kann man über den Bereich der Carearbeit einen neuen Gesellschaftsansatz konzipieren, der eben jene Logik überwindet und als Blueprint für andere Dienstleistungsbereiche dienen kann und auch für die Güterproduktion postkapitalistische Anregungen liefert.
^1 Brückner, Margrit: Entwicklungen der Care-Debatte – Wurzeln und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, Ursula; Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2010, S. 43