Mad Marx – Teil 2: Der Vorschein der Donnerkuppel – Zu den ökonomischen Zusammenhängen der Corona-Krise und der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden.

Hätte man Peter Altmeier noch vor ein paar Wochen gefragt, was er so von Verstaatlichung hält, er hätte wohl auf die finstersten Zeiten des „real-existierenden Sozialismus“ verwiesen und ein flammendes Plädoyer für die Stärke, Vitalität und Produktivkraft der deutschen Wirtschaft gehalten.
 
Zeitsprung. Vor wenigen Tagen stand dann folgender Satz im Spiegel: „Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) schließt für strategisch wichtige Unternehmen, die wegen der Coronakrise in Schieflage geraten, eine staatliche Beteiligung nicht aus.“ [1]. Ein Satz, der dem „Genossen“ Altmeier nicht einfach so rausgerutscht sein dürfte.
 
Auch Bundeskanzlerin Merkel, deren ganzes politisches Schaffen sich in einer geradezu irrationalen  Fetischisierung der „Schwarzen Null“ zusammenfassen lässt, ist vom Mantra der „ausgeglichenen Staatshaushalte“ abgerückt [2]. Das muss man sich tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen: Auf das ideologische Wirken dieser Bundeskanzlerin und ihrer „Wirtschaftsweisen“ hin wurde ganz Europa eine Austeritätspolitik nie dagewesenen Ausmaßes auferlegt, in deren Zuge ganze Volkswirtschaften in den europäischen Nachbarländern plattgemacht wurden, und welche in den Staaten des europäischen Südens zum radikalen Abbau des Wohlfahrtsstaats und zu Massenverelendung geführt hat. Sie braucht in einer Pressekonferenz keine 1,7 Sekunden, um sich vom ehemaligen Markenkern ihrer Politik zu verabschieden und den Märkten zu signalisieren, dass man von Seiten der Bundesregierung wirklich zu Allem bereit ist, um die Krise in den Griff zu bekommen…Sogar die eigene Überzeugungen zu opfern.
 
Dass die VertreterInnen bürgerlicher Parteien nun doch noch zur Einsicht gekommen wären, dass eventuell das vorherrschende System und die damit verbundene Form der Vergesellschaftng vielleicht doch nicht „die besten“ seien, und man die Sache mit dem Kapitalismus vielleicht nochmal überdenken sollte, ist indes nicht zu befürchten. Es sind die Umstände der Krise, die sie zum „Vorzeigen der Instrumente“ zwingen. 
 

Die Anatomie einer Krise und der permanente Ausnahmezustand

 
Wenn also, wie bereits angesprochen, die VertreterInnen einer bürgerlich-konservativen Partei in einen ungewohnten Verbalradikalismus verfallen und sogar damit drohen, einen SPD-Finanzminister links zu überholen [3], dann hängt es nicht damit zusammen, dass sie den Verstand verloren hätten, sondern im Gegenteil: Sie wissen sehr genau um den Ernst der Lage. Und spätestens hier sollte sich niemand etwas vormachen: Die Lage ist ernst. 
Die „warenproduzierende Gesellschaft“ steht vor einer Mammut-Aufgabe, an deren Ende nicht unbedingt geschrieben steht, dass sie überlebt, sondern die Krise könntegenauso gut in gesellschaftlichem Zerfall und weltweiter (!) Massenverelendung enden. Und das hängt mit dem derzeitigen Zustand des sogenannten Spät-Kapitalismus zusammen.
 
Was ist damit konkret gemeint? (Spoiler Alert: Jetzt wird’s leider ein wenig Theorie-lastig).
 

Rückblick 2008/09

 
In den ausgehenden „Nullerjahren“  war die globale Ökonomie bereits durch mehrere Jahrzehnte neoliberaler Deregulierungspolitik geprägt. Mit Deregulierung ist in diesem Zusammenhang hauptsächlich ein Maßnahmenpaket von Steuererleichterungen für Reiche und weitgeheder Lockerung der Regularien für Finanzmarktgeschäfte gemeint, die vor allem von „Markt-Gläubigen“ wie etwa US-Präsident Ronald Reagan oder der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher umgesetzt wurden. Die Idee dahinter war, dass, wenn Unternehmen und Vermögende weniger Steuern zahlen, sie mehr von ihrem Kapital reinvestieren würden und somit auch mehr nach „unten“ umverteilt wird (Trickle-Down-Ökonomie).Bereits in den Siebzigern wurden einige lateinamerikanische Länder durch die Wirtschaftsexperimente der sogenannten „ChicagoBoys“ um den Ökonomen Milton Friedman zugrunde gerichtet, der US-gestützte Putsch Pinochets in Chile gilt als Startpunkt des Neoliberalismus als Realpolitik.  Wie nicht anders zu erwarten und trotz der warnenden Beispiele aus Lateinamerika, folgte daraus allerdings keine Mehrung des Wohlstands für alle, sondern mündete in einer sich daraus direkt ergebenden Aneinanderreihung von Wirtschaftskrisen, die durch das Kollabieren von Spekulationsblasen ausgelöst wurden (Asienkrise ’97, Russlandcrash ’98, Dotcom-Krise 2000). Die US-Notenbank FED versuchte durch niedrige Leitzinsen die Kapitalzirkulationssphäre, also die Finanzmärkte, mit billigem Geld zu fluten, um eine Rezession zu verhindern. Sie schaffte damit aber lediglich die Voraussetzungen für die darauf folgende US-Immobiliekrise, die weite Teile der USA und Europas erfassen sollte. Defacto leistete der durch die Zentralbank induzierte Liquiditätsschub nämlich der massiven Kreditaufnahme Vorschub, die durchaus auch beabsichtigt war. Das Geld sollte dazu dienen, die ins Stocken geratene Produktion durch Kreditfinanzierung wieder anzuwerfen.
 
Dies ist die Grundlage einer auf kreditfinanzierten Produktion im Kaptitalismus. Der Haken an der Sache ist: Je mehr Geld in die Kapitalzirkulationssphäre und damit in das System gepumpt wird, desto mehr von diesem Geld wird letztlich als Kredit aufgenommen, desto höher ist am Ende der Schuldenberg. Hinzu kommt, dass die Produktion mittlerweile derart effizient geworden ist und die Märkte mit einer Warenschwenmme versorgen kann, dass die Nachfrage ebenfalls nur durch Kreditfinanzierung künstlich erzeugt werden muss. Vom Hausbau über den Autokauf bis hin zum Macbook, alles wird auf Raten oder per Kredit gekauft, weil der Tauschwert reell bei den KäuferInnen nur durch die Aufnahme fiktiven Kapitals ausgeglichen wird.
 
Ob Dotcom-, Immobilien- oder Liquiditätsblase: die Blasenbildung auf den Finanzmärkten wirkt also immer auch als ein systemischer Transmissionsriemen zur Generierung weiterer Schuldenberge, da der Kapitalismus aufgrund der ungeheuren Produktivitätsfortschritte der letzten Dekaden seinen Verwertungskreislauf in der Warenpruduktion nur noch durch kreditfinanzierte Nachfrage aufrechterhalten kann. So funktioniert in Ansätzen die Bildung einer Kreditblase. Die Art, wie nun Produktion im Spätkapitalismus funktioniert, also durch schuldenfinanzierte Produktion und auf Pump induzierte Nachfrage, bildet nur scheinbar die Grundlage einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung – tatsächlich birgt sie die systemische Krise schon in sich.
 
Somit war und ist das spätkapitalistische Weltsystem  weiterhin von einer Finanzblasenbildung erfasst. Tatsächlich befindet es sich eigentlich seit dem Durchmarsch des Neoliberalismus und der damit einhergehenden „Finanzialisierung“ des Kapitalismus in einer beständig anwachsenden Blasenökonomie, mit der die Schuldenberge generiert werden, die eine hyperproduktive Warenproduktion mittels ebenfalls kreditfinanzierter Nachfrage überhaupt am Laufen halten [4].
 

Eine beispiellose Rettung

 
Als am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman-Brothers Holding dann pleite geht, droht weltweit der Zahlungsausfall. Banken können die laufenden Kredite nicht mehr bedienen, die Zinsen auf Kredite steigen ins Unermessliche, die Versorgung mit frischem Kapital an den Finanzmärkten wird unmöglich, Hedgefond-Manager müssen dabei zusehen, wie der Wert ihrer Finanzmarktprodukte dahinschmilzt, sprich: Die Blase ist geplatzt, die große Entwertung hat begonnen. 
Schnell wird klar: Das ist nicht einfach nur eine weitere Kreditblase die da geplatzt ist. Es drohen mehrere „system-relevante Banken gleich mit entwertet zu werden. System-relevant deshalb, weil sie sehr viele, sehr große Unternehmen mit Krediten zur Finanzierung ihrer Produktion versorgen. Fallen diese Banken weg, fallen die Unternehmen weg. Fallen die Unternehmen weg, fällt die Produktion weg. Fällt die Produktion weg, ist der globale System-Crash nicht mehr abzuwenden. 
 
Was nun von staatlicher Seite weltweit anlief, ist eine in ihrer Größe und Verzweiflung beispiellose Rettungsaktion dieses Systems. Die Notenbanken setzten ihren Leitzins noch weiter nach unten, es wurde damit begonnen, die faulen Papiere in großem Stil aufzukaufen, Staaten setzen kostspielige Konjunkturpakete auf und treiben ihre Staatsverschuldung zur Bankenrettung enorm in die Höhe. Für die Spielschulden der geplatzen Spekulationsblasen mussten erhebliche staatliche Steuermittel aufgewendet werden. Es setze global ein Phönomen ein, dass man vieleicht als „Krisensozialismus“ bezeichnen könnte: Während die Gewinne des Kasinospiels privatisiert wurden, wurden die Verluste mittels Verstaatlichung, also sozusagen „Sozialisierung“, an diejenigen weitergereicht, die überhaupt nicht am Spieltisch gestanden hatten – an die SteuerzahlerInnen
Angesichts von Milliarden Steuergeldern, die von den nationalen Haushalten zur Rettung des Systems in letzer Sekunde aufgewendet werden mussten, kam es tatsächlich für einen kurzen Augenblick zur offenen Systemfrage, und zwar ausgerechnet nicht von den Linken. PolitikerInnen aller Couleur brachten ihre Wut über den „Kasino-Kapitalismus“ zum Ausdruck und überschlugen sich mit Regulierungsmaßnahmen. Aufhorchen ließ ausgerechnet ein Artikel des Journalisten und FAZ-Mitbegründers Frank Schirrmacher, ausgewiesener Konservativer, in dem er sich selbst die Frage stellte, ob Marx und diese Linken, gegen die er Zeit seines Lebens polemisiert hatte, angesichts der sich ereignenden Katastrophe nicht vielleicht die ganze Zeit recht gehabt hätten [5]. 
 
Kaum hatte sich der ökonomische Normalbetrieb wieder eingestellt, war davon freilich keine Rede mehr. Warum auch, es lief doch alles wieder… 
Defacto ging die Blasenbildungsökonomie weiter, nur dass dieses mal die Schuldenblase verlagert worden war, nämlich von den nun mit frischem Steuergeld versorgten Banken in die nun wegen der Bankenrettung hoch verschuldeten Staatshaushalte. Die direkte Folge davon war eine gerade in Europa von Deutschland vorangetriebene, gnadenlose Austeritätspolitik. Unter dem deutsch-europäischen Spardiktat wurden insbesondere die Länder des europäischen Südens gezwungen, ihre Staatshaushalte zu sanieren, indem sie ihre Rentenkassen rigoros zusammenkürzten, ihr Gesundheitswesen und ihre Sozialsysteme rasierten und ihr „Tafelsilber“, also Staatsbetriebe, Flughäfen oder Häfen, privatisierten. Von weitreichenden Regulierungsmaßnahmen, die noch während der Krise diskutiert wurden, etwa einer Finanztransaktionssteuer oder Ähnlichem, war nun keine Rede mehr. Für den Kapitalismus als Wirtschaftssystem bedeutet dies nach wie vor, dass diese systemische Krise des Kapitals – begriffen als ein sich schubweise entfaltender historischer Prozess zunehmender innerer Widerspruchsentfaltung – somit nie überwunden worden ist.
 

Krise und Kapitalismus 

 
Seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 und dem daraus resultierenden Zustand der permanenten Krisenabwehr hat sich an der gegenwärtigen Verfasstheit des Spätkapitalismus und der Form seiner Vergesellschaftung nichts geändert. Die Notenbanken halten quasi seit 2009 die Leitzinsen auf einem Niedrigstniveau. Die Kapitalzirkulationssphäre wird weiter mit billigem Geld geflutet, um die kreditfinanzierte Produktion irgednwie am Laufen zu halten. Die Inflation wurde nur verhindert, indem man das frische Geld nicht in den normalen Geldkreislauf fließen ließ, sondern es direkt an die Unternhemen zur Kreditaufnahme weitergereicht wurde. Die Kreditblasen steigen weiter, die Blasenökonomie nimmt wieder ihren Lauf. Doch solange die Maschine läuft, stellt man keine Fragen. Dass man sich angesichts des Zustands des Systems eigentlich seit einem Jahrzent in einem permanenten Ausnahmezustand befindet, wird ausgeblendet. Man hat sich von Seiten der Politik derart in die Krisenfalle manövriert, dass einem überhaupt nichts anderes übrig bleibt, als mit dem Auftürmen des Schuldenbergs weiterzumachen.
 
Nun sind wachsende Schuldenberge an und für sich erstmal noch kein Problem, wenn dadurch die Wirtschaft wächst. Sie dürfen eben nur nicht schneller wachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Genau das ist aber seit den 80er Jahren der Fall. Die Schuldenberge wachsen aus den o.g. Gründen schneller, als das Wirtschafswachstum hinterher käme. Die weltweite Gesamtverschuldung beträgt im Verhältnis zum Weltwirtschaftsprodukt 322 Prozent (zum Vergleich, bei Ausbruch der Krise 2008 waren es 300 Prozent, um die Jahrhundertwende ungefähr 260 Prozent) [6]. Die Ökonomie im Spätkapitalismus wächst also nicht aus ihren Schulden heraus, im Gegenteil: Sie kann sich noch so sehr abstramplen, der Schuldenturmbau ist permanent mehrere Schritte voraus – ein Teufelskreis, der zwangsläufig das System in Schieflage bringen muss.
 

Les Jeux sont faits…

 
In dieser Situation nun entfaltet sich die Corona-Pandemie. Bedingt durch die notwendigen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wird die Warenproduktion weltweit drastisch heruntergefahren und Kapitalgenerierung stark beeinträchtigt. Bei den deutschen Automobilherstellern, also DER deutschen Schlüsselindustrie, an der zusammen mit den Zulieferbetrieben Millionen Jobs hängen, stehen die Bänder still. Da ist nicht nur mal eben ein wenig Sand im Getriebe, da wurde gleich die ganze Brechstange reingesteckt. 
 
Der bisherige Produktionsausfall ist für ein derart instabiles System alles andere als zuträglich und je länger er andauert und umso mehr Betriebe er erfasst, desto drastischer wird die Situation. Das große Problem sind dieses Mal keine Hypotheken, die in Wertpapiere verwandelt wurden, sondern Unternehmensanleihen und Verbindlichkeiten in den Konzernbilanzen. Für den Fall, dass die Unternehmen ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen können, drohen Zahlungsausfälle, die nicht mehr in Milliarden, sondern in Billionen gemessen werden müssen. Genau das könnte bei einem weiteren Produktionsausfall passieren. Um die Ausmaße dieser Verbindlickeiten in etwa zu beziffern: Die Konzernschulden jenseits des Finanzsektors belaufen sich weltweit auf um die 76 Billionen US Dollar (zum Vergleich, 2009 beliefen sie sich noch auf um die 48 Billionen US Dollar)[6] Bedingt durch die Einbindung ganzer Lieferketten und Finanzdienstleister in die Produktion könnte der Zahlungsausfall von nur wenigen Unternhemen also eine Kettenreaktion auslösen, bei der ganze Industriezweige an den Rand des Abgrunds befördert werden. Inzwischen zahlen global agierende Konzerne wie Adidas oder H&M nicht einmal mehr die Miete für ihre Geschäfte, die sie geschlossen halten müssen, und sorgen damit direkt für riesige Löcher in der Immobilienbranche – ein Dominoeffekt. [7]
 
Während in den verschiedendn Wirtschaftsministerien und Notenbankbüros nun hektisch die Taschenrechner gezückt werden, zeichnet sich das Szenario der heraufziehenden Krise bereits ab. Ausgelöst durch die Pandemie beginnt die durch die Notenbanken inflationierte Liquiditätsblase zu platzen. Der jähe Produktions- und Nachfrageeinbruch verwandelt die Unternehmenskredite in Finanzmarktschrott um und löst eine Kreditklemme aus. Eine Welle von Zahlungsausfällen und Anleihenherabstufungen lösen einen Schock an den hypersensiblen Finanzmärkten aus. Diese Kreditklemme würde dann in Wechselwirkung mit der Realwirtschaft treten und den konjunkturellen Abwärtssog unumkehrbar verstärken. Ein irreversibler „Point of No Return“ wäre überschritten, der das System in ein unkontrollierbares Chaos einer sich immer rapide ausbreitenden Entwertungsdynamik stürzen würde [6]. Mit anderen Worten: Game Over!
 

Krisensozialismus

 
Angesichts dessen ist der sich langsam manifestierende Eindruck von Panik bei einigen PolitikerInnen, gemessen an ihren  Beteuerungen, wirklich alles in die Wagschale werfen zu wollen, um den drohenden Systemkollaps abzuwenden, nicht mehr zu leugnen. Wie eingangs bemerkt: Die Lage ist ernst.
Um das derzeitige(!) Ausmaß der Katastrophe zu beziffern, hat das Wirtschaftsinstitut IFO eine Studie erstellt, bei der sie mit einer nur 60%igen Auslastung der Wirtschaft über 3 Monate rechnet. Je nach Szenario würde die deutsche Wirtschaft einen Einbruch von etwa -7,2 bis -20,6 Prozent erleiden. Das käme einem Verlust von 255 Milliarden bis 739 Milliarden gleich [8]. Eine derartige Rezession hat es in Deutschland seit den 1920er Jahren nicht mehr gegeben. Wer abhängig beschäftigt ist, dem dämmert, dass von massiven Lohneinbußen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes alles möglich ist.Bei den Selbstständigen und UnternehmerInnenim kleinen und mittelständischen Bereich sieht es kaum besser aus. Wer als KleinanlegerIn seine Rente mit Aktien, finanzbasierten Privatrenten oder anderen Finanzprodukten aufbessern wollte, muss um seine Ersparnisse fürchten. Die Krise ist also für die Masse der Gesellschaft potentiell existenzbedrohend.
 
Der Ernst der Lage wird von Vielen erkannt oder zumindest erahnt. Die Staaten reagieren weltweit aktuell mit etwas, was wir als Krisensozialismus bezeichnen. Hier wird mit Maßnahmen, die nicht der kapitalistischen Verwertungslogik folgen, versucht das Zusammenbrechen der Gesundheitssysteme zu verhindern. In Italien und Spanien wurden zum Beispiel alle Betriebe stillgelegt, die keine lebensnotwendigen Güter und Dienstleistungen anbieten. Der Kapitalismus ist damit effektiv außer Kraft gesetzt und die Staaten agieren mit einer Form der Krisenplanwirtschaft, zumidest temporär. Diese Krisenplanwirtschaft ist ein Zwitter aus einer tatsächlichen Planwirtschaft und der kapitalistischen Wirtschaftsweise, da die noch aktiven Betriebe kapitalistisch organisiert sind und man plant, nach Ende der Maßnahmen den Kapitalismus wieder hochzufahren. Dennoch ist sind Politiken wie das (temporäre) Verstaatlichen aller Krankenhäuser in Spanien [9] oder das Aussetzen von Stromkosten und Mieten für Unternehmen in Frankreich [10] eigentlich Maßnahmen aus dem sozialistischen Werkzeugkoffer. Gewinnmaximierung hat damit nicht viel zu tun.
 
Es ist aber auch offensichtlich, dass diese Art der Pandemiebekämpfung immer stärker mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise kollidieren. Die Wirtschaft, wie hier bereits ausgeführt, steht durch die Blasenökonomie eh auf Messers Schneide und jede Stunde, die man nicht oder nur eingeschränkt produzieren und Geld erweirtschaften kann, führt die nationalen Ökonomien und letztendlich die Weltwirtschaft immer näher an den Abgrund. Der Tanz auf dem Vulkan wird stündlich heißer. Die Erfordernisse der kapitalistischen Produktion stehen somit im direkten Widerspruch zum Bestreben, möglichst wenig Menschen durch die Pandemie und die mögliche Überlastung der Gesundheitssysteme sterben zu lassen. Je länger die Maßnahmen gehen, desto lauter und einflussreicher werden die Stimmen, die eine Lockerung oder gar Aufhebung fordern.
 

Der Vorschein der Donnerkuppel

 
In den USA haben die Republikaner bereits den sozialdarwinistischen Ansatz auf die Agenda gesetzt, einfach einen Teil der Risikogruppen draufgehen zu lassen, um den Kapitalismus am Laufen zu halten. Man signalisiert auch die Bereitschaft, sich selber für die Wirtschaft zu opfern. [11] In der bürgerlichen Presse weltweit werden die Stimmen lauter, die eine Abwägung zwischen Wirtschaftswachstum und Toten fordern. Im Spiegel leitartikelt man offen und direkt: „Ja, man darf den wirtschaftlichen Schaden gegen Menschenleben abwägen“. [12] Wie viele Menschenleben ist denn so ein Zehntelprozent Wirtschaftswachstum wert? Während man sich sonst nicht zu schade ist, „dem Kommunismus“ dutzende Millionen Tote zuzuschanzen, diskutiert man hier ungeniert darüber, Menschen für rollende Produktionsbänder draufgehen zu lassen. Auch die eigene Mutter oder den Bekannten, der gerade eine Chemotherapie durchmacht. „Der Tod eines Menschen: Das ist eine Tragödie. Hundertausend Tote: Das ist eine Statistik!“ Dieses Zitat Kurt Tucholskys, welches fälschlicherweise Stalin zugeschrieben, bringt das sozialdarwinistische Mantra der Bürgerlichen auf den Punkt. Und mit Statistiken können sie ja ganz gut arbeiten, dazu gibt es in der Betriebswirtschaftslehre jede Menge Werkzeuge. Der Mensch wird hier in Form von Todesprognosen erneut zu einer Variable in der Verwertungslogik. Ähnliche Töne wurden bereits in der FAZ angeschlagen: „Noch will kaum jemand darüber offen diskutieren, aber die Frage nach der Verhältnismäßigkeit drängt sich auf. Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, für die das Virus lebensbedrohlich ist, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“ [13] Im reichenweitenstarken Sprachrohr der Wirtschaft, dem Handelsblatt, interviewte man den Investor Didelius und dieser kam zu ähnlich sozialdarwinistischen Schlüssen. [14]
 
Der FDP-Politiker Buschmann hat zusätzlich im Spiegel ganz ungeniert damit gedroht, dass die „Mittelschicht“ (was auch immer die FDP als Mittelschicht ansieht, vermutlich ist da die Friedrich-Merz-Mittelschicht gemeint) zum Faschismus greift, wenn man nicht voll einschwenkt auf die Forderungen und Bedürfnisse der Besitzenden. [15] Damit hat er historisch gesehen durchaus recht, der Faschismus ist aus einer Krisensituation der brügerlichen Gesellschaften entstanden. Hier verbindet er diese Feststellung aber mit knallhartem Klassenkampf von oben, ganz so als wäre das einzige Mittel gegen den sonst automatisch eintretenden Faschismus das Sichern der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Etwas, was den Faschismus in Italien übrigens so attraktiv für die Kapitalisten gemacht hat. Er versprach eine Zerschlagung der radikalen Linken und hielt dieses Versprechen auch. Hier ist für Buschmann die einzig gangbare Option, den Besitzenden vorneweg Honig ums Maul zu schmieren, damit es nicht Höcke später richten wird. Bei dieser Klientelpolitik wird allerdings denen, die jetzt schon sozioökonomisch benachteiligt sind, noch mal richtig an die Substanz gegangen. Den Gürtel enger schnallen müssen ja eh immer nur die, die ihn schon seht eng tragen. Eine Klatten oder ein Maschmeyer sind damit nie gemeint. Die ärmeren Bevölkerungsschichten werden noch weiter abgewertet und es wird verstärkt zu realen Existenzkämpfen kommen – die Donnerkuppel lässt grüßen.
 
Was überhaupt nicht als Option gedacht wird, ist eine Möglichkeit jenseits eines wortwörtlichen „survival of the fittest“ weil man der Warenproduktion die Risikogruppen opfert und die Schwachen durch Covid19 aussortieren lässt. Es tritt immer deutlicher hervor, dass Adornos Diagnose, der Gedanke es könne überhaupt anders sein, sei nahezu zur unmöglichen Anstrengung geworden, dieser Tage ihre volle Wahrheit entfaltet. Die Vorstellung, unser Wirtschaftssystem könnte auch ganz anders organisiert sein, besser in Hinsicht mit der Realität bzw. Möglichkeit einer solchen Krise menschenwürdig umgehen zu können und generell vorrangig an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert sein, scheint für viele derartig anstrengend zu sein, dass es einfacher ist hinter Kant zurückzufallen und solche „Gedankenspiele“ zu betreiben. Lieber macht man sich auf in die Barbarei, als auch nur in Betracht zu ziehen, dass der eigene Teller ziemlich klein ist und man auch mal den Rand schauen könnte. Wer nur Kapitalismus kennt, wird eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus denken können. 
 
Aber welche Maßnahmen werden aktuell ganz konret ergriffen, um krisensozialistisch in Wirtschaft und Gesellschaft einzugreifen? Und was genau können undvor allem sollten Linke jetzt tun? Wie steht es um die Linke an sich und wie gut kann sie auf die Krise reagierten? Alles das wird im dritten Teil der Mad Marx-Trilogie beleuchtet, wenn der Frage „Sozialismus oder Donnerkuppel?“ näher auf den Grund gegangen wird.