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Frauenkampftagsfolklore

Am Montag ist es wieder so weit: Es ist der internationale Frauenkampftag. Die jährliche Folklore hat schon begonnen, Aufrufe und Kampfansagen gibt es auf allen Kanälen zu sehen. Und das ist gut so. Aber nicht ausreichend. Denn in der radikalen Linken macht man es sich mitunter etwas leicht und das in mehrfacher Hinsicht.
 
Da wäre zum einen die individuelle Ebene. Warme Worte und der erwartbare Post am 8. März mit einem eventuellen Demobesuch sagen absolut nichts darüber aus, ob sich jemand wirklich mit den unterschiedlichen Aspekten patriarchaler Unterdrückung und des Antifeminismus auseinandergesetzt hat. Dazu zählen unter anderem Sexismus, Maskulinismus, Incels, frauenfeindliche Sozialcharaktere wie Nice Guys, Rape Culture, Männerrechtsbewegung, religiöser Antifeminismus, häusliche Gewalt, fehlende Chancengleichheit, ungleich verteilte Carearbeit, verstärktes Armutsrisiko, sexistische Schönheitsideale, Kommodifizierung weiblicher Körper und Sexualität und und und. Vor allem zählt auch das eigene Verhalten dazu – und das nicht nur bei Männern. Internalisierte Frauenfeindlichkeit ist ein Phänomen, welches sehr unangenehm in der eigenen Aufarbeitung ist.
 

Das Private ist politisch

 
Gerade bei Männern ist der Habitus eine ganz große Baustelle. Man wird von der Geburt an in alte Rollenbilder hinein geprägt und durch eine patriarchale Gesellschaft selber patriarchal geprägt. Sich dessen nicht nur mit einem Häkchen auf der To-Do-Liste bewusst zu werden, sein eigenes Verhalten anderen gegenüber kritisch zu beurteilen und sexistische Verhaltensweisen und Denkmuster zu überwinden, ist sehr viel harte Arbeit und hat mit viel unschöner Selbsterkenntnis zu tun. Dies ist ein fortlaufender Prozess und nichts, was man mal eben an ein paar Pflichtterminen im Jahr macht.
 
Die Gefahr besteht hier, dass einige Linke sich diesem Reflexionsprozess erst gar nicht oder nur teilweise stellen. Auf dem Papier ist man ja sowieso dagegen, also braucht man sich dann auch nicht großartig weiter damit beschäftigen. Man verlagert die Problematik auch gerne nach außen und meint, mit ein paar Gesetzesänderungen und Initiativen wäre dem Problem beizukommen. Im Gegensatz zum Kapitalismus haben wir es hier aber mit einer Unterdrückungsform zu tun, welche wir auch individuell ausüben. Dies bedeutet, man kann selber einen Unterschied machen und die Welt weniger sexistisch gestalten. Man sollte daher immer wieder darauf drängen, die teilweise wohlfeile Selbstgefälligkeit zu durchbrechen und eine Veränderung des Verhaltens auch von Linken einzufordern.
 
Es gibt ja gerade einen zumindest im Antifaspektrum prominenten Fall mit Sören Kohlhuber. Dieser hat sich in der Vergangenheit sexistisch verhalten und geäußert. Seit letztem Jahr läuft ein Aufarbeitungsprozess mit einer Arbeitsgruppe, welche einerseits für Betroffene eine unabhängige Anlauf- und Beschwerdestelle darstellt, andererseits den Reflexionsprozess leitet und entscheiden wird, ob dieser Prozess erfolgreich war. Auch wenn es innerhalb der Linken insgesamt besser als im Rest der Gesellschaft ist und eine sehr viel höhere Aufmerksamkeit für diese Problematiken vorhanden ist, bleibt das Problem des Sexismus und einer strukturellen Benachteiligung dennoch bestehen.
 

Männer unter sich

 
Ein wirklich gewichtiger Faktor ist dabei, dass insbesondere unter Männern und im männlichen Bekanntenkreis kaum über das Thema geredet wird, insbesondere was die Verhaltensweisen angeht. Auch in der Linken gibt es stellenweise einen männlichen Gruppenschutz für andere Männer, Vorfälle werden nur halbherzig aufgearbeitet. Die Vorfälle beim Festival „Monis Rache“ (Filmaufnahmen von den Frauen-WCs wurden gemacht und verbreitet) und deren anfänglich schleppende Aufklärung wären hier als Beispiel zu nennen. Sich im Jahr ein paar Mal auf eine Demo mit feministischen Anspruch zu stellen, ändert daran halt wenig.
 
Die Probleme tauchen aber nicht immer nur fernab des eigenen Umfelds auf, sie sind in der Regel in jedem Bekannten- und Familienkreis anzutreffen. Es muss daher ein offener, solidarischer und im Notfall konsequenter Umgang mit derartigen Problemen gefunden werden. Am Anfang dessen steht aber überhaupt erst einmal die Erkenntnis, nicht immer nur in radikaler Pose die Gesellschaft anzuklagen, sondern auf sich selbst und das eigene Umfeld zu schauen. Und dies passiert nicht dadurch, dass man sich öffentlich zum Jahrestag solidarisch zeigt.
 

Für was eigentlich kämpfen?

 
Aber nicht nur im Privaten gibt es Baustellen, die sich nicht durch die Frauenkampftagsfolklore beheben lassen. Im juristischen Sinne hat die Frauenbewegung in den deutschsprachigen Ländern so gut wie alles erreicht. Es gibt immer noch Einschränkungen in die körperliche Selbstbestimmung mittels der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen und dem Verbot der Werbung bzw. Aufklärung darüber bei Frauenärztinnen. Der legalistische Kampf ist aber so gut wie vollständig gewonnen. Damit ist eine gesellschaftliche Gleichstellung aber noch lange nicht erreicht, womit wir zu einer weiteren Baustelle kommen.
 
Abseits von Wortradikalismus gibt es zur Zeit wenig Konkretes zu vernehmen. Ein Problem nicht nur im Feminismus, aber eben auch hier. Wie man die immer wortreich und ausdrucksstark benannten Ziele der freien Gesellschaft und des Endes des Patriarchats erreichen will, bleibt man meistens schuldig. Dabei werden ja Probleme benannt: Ungleiche Bildungschancen, ungleiche Verteilung bei der häuslichen Arbeit inklusive Erziehung, niedrigere Bezahlung, schlechtere Karrierechancen, höheres Armutsrisiko, erhöhtes Risiko häuslicher Gewalt, sexuelle Gewalt, Sexualisierung weiblicher Körper, patriarchale Rollenerwartung, ungesunde Schönheitsideale und noch vieles mehr.
 

Lasst uns konkret werden

 
Nehmen wir das konkrete Beispiel der Carearbeit im häuslichen Umfeld. Putzen, waschen, bügeln und die Kinder betreuen sind Tätigkeiten, welche überproportional häufig von Frauen erledigt werden. Selbst im Jahr 2021 hängen in WGs Karten am Kühlschrank, auf denen steht: „Feminismus ist für mich, wenn die Männer genauso viel putzen.“ Die Mehrbelastung von Frauen wird dann gerne in unbezahlten Arbeitsstunden angegeben und oft als Wirtschaftsleistung von x Milliarden im Jahr beziffert. Nur welche konkreten Lösungsvorschläge hat die radikale Linke für das Problem zu liefern, wenn man zusätzlich die Kommodifizierung von Tätigkeiten als Problem erkannt hat? Carearbeit soll aufgewertet werden, aber wie genau? Man muss Konzepte erarbeiten, die diese Tätigkeiten nicht noch weiter den Marktlogiken unterwerfen und der Kapitalverwertung damit weitere Felder öffnet.
 
So leid es einem tut, aber hierzu findet man auf den üblichen Veranstaltungen rund um den Frauentag keine Antworten, so wie man sie auch in der radikalen Linken allgemein kaum findet. Dabei sind das aber die Aufgaben, denen sich ein nicht nur an Worten interessierter Feminismus widmen muss. Auf welche Art muss die Funktionsweise des Wirtschaftssystems und der Gesellschaft geändert werden, um die genannten Probleme sinnvoll zu bekämpfen? Welche Zwischenschritte sind dazu notwendig, wie sollen diese Maßnahmen finanziert werden? Was hat die radikale Linke am Frauenkampftag konkret für alleinerziehende Mütter unterhalb der Armutsgrenze im Angebot?
 
Die Frauentagsfolklore hat darauf keine Antwort. Mitunter bekommt man den Eindruck, dass man sich mit solchen harten Fragen nicht beschäftigen will. Man müsste dann ja konkret werden, konkrete Maßnahmen vorschlagen und jede Menge Arbeit in das Ausarbeiten von Konzepten stecken. Oder zumindest wissen, welche Konzepte es bereits gibt und diese dann auch pushen. Man müsste konkrete Positionen beziehen und dafür kämpfen. Eine Sache, die in der radikalen Linken zur Zeit kaum anzufinden ist, egal um welches Thema es geht. Abseits vom Antifaschismus sieht es da ziemlich düster aus. Kritik können wir alle mehr oder weniger gut, umsetzbare Lösungsansätze dafür entwickeln aber nicht.
 
Ereignisse wie der Frauenkampftag liefern, wenn man sich nicht konsequent mit den Problemstellungen beschäftgit, die Selbstversicherung, dass man doch genug mache. Aber man sollte sich gegenüber ehrlich sein und fragen, ob man denn wirklich mehr als Kritik und die richtige Grundeinstellung vorzuweisen hat. Diese sind wichtig, aber für einen erfolgreichen Aktivismus ist auch die Handlungsseite notwendig. Auf sich selbst und das eigene Umfeld bezogen, aber auch auf konkrete gesellschaftliche Probleme. Diese beheben sich schließlich nicht von alleine und nicht nur an einem Tag im Jahr.

 

Wallstreet vs Reddit: Das Irrenhaus namens „Kapitalismus“ im Normalbetrieb

Wer in den letzten Tagen unter dem Hashtag #Gamestonks einen Blick ins Twitterverse warf, der wurde Zeuge eines bizarren Spektakels: Ein (zumindest letzte Woche noch) etwa 12 Mrd Dollar schwerer Hedgefonds namens „Melvin Capital“(MC) liefert sich einen ungleichen Kampf gegen eine ganze Armee aus Kleinanleger*innen, die sich auf dem Subreddit „Wall Street Bets“ zusammengefunden und organisiert hat. Das Ziel: durch organisierten Aktienkauf die angeschlagene Videospiel-Einzelhandelskette „GameStop“ vor dem Ruin zu retten und damit die Leerkaufwette von MC auf die Marktpleite von GameStop zu verhindern.

Der momentane Stand: MC hat wohl bisher um die 5 Mrd Dollar an Marktwert eingebüßt und musste, wie Hedgefonds-Manager Gabe Plotkin zerknirscht einräumte, milliardenschwere Bailouts von der Konkurrenz annehmen, damit MC nicht komplett baden geht. Dazu sahen sich andere Hedgefonds genötigt teils selber zu verkaufen und Verluste einzufahren. Insgesamt 70 Milliarden Dollar betragen die Verluste auf Leerkaufwetten an der Wall Street allein in diesem Jahr – und ein beachtlicher Teil davon ist der Fastpleite von MC zuzuschreiben. Zwei Hedgefonds hat es (Stand Freitag 12:00) wohl erwischt und weitere „Marktbereinigungen“ sind nicht ausgeschlossen. Der freie Markt tut freie Markt-Dinge und auf einmal ist das Geschrei groß.

Was sind Leerkaufwetten? Man verkauft Aktien an einem bestimmten Zeitpunkt zur gerade aufgerufenen Summe und vereinbart, die Aktie nach einem bestimmten Zeitpunkt zurückzukaufen, in der Regel eine Woche später. Man spekuliert darauf, dass die Aktie in der Zeit an Wert verloren hat und man sie zu einem günstigeren Preis zurückkaufen kann. Man steht also im Idealfall am Ende mit gleich viel Aktien und mehr Cash da. Dadurch, dass man zu Beginn der Wette viele Aktien abgestoßen hat, gibt man zudem einen starken Impuls zur Kurssenkung. Klingt nach Marktmanipulation? Damn right. MC hat nun das Pech, dass der Kurs gezielt gestützt wurde und man nun das zigfache des Verkaufspreises vom Montag hinblättern muss. Wette verloren, Fonds pleite.

Man zeigte sich in Folge dessen von Kapital-Seite tief empört, dass da ein paar Gamer-Nerds so einfach den Spieß umgedreht hatten und im Zeitraum weniger Tage Kapitalanlagen im Wert mehrerer Milliarden US-Dollar durch den Reißwolf gejagt hatten. So empörten sich manche Wallstreet-Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten im Live-Fernsehen über die Affäre. Ja wissen diese Zoomer-Kids denn nicht, dass in diesen Wertpapieren, die da gerade den Bach runter gehen, auch Tante Hedwigs kapital-basierte Privatrente dabei ist? So oder so ähnlich der Erregungskorridor. Zusätzlich zeigte man sich doch nicht ganz so einverstanden mit dem freien Markt und hat inzwischen den Handel mit Gamestop-Aktien weltweit beschränkt und teilweise ausgesetzt. Erst in den USA, als dann international aus Solidarität weitere Stützkäufe von Gamern und anderen erfolgten war auch hier Feierabend mit dem freien Handel. Das Kapital hat tatsächlich Angst vor den Resultaten eines freien Marktes, an dem durch neue Apps auf einmal sehr viel mehr Leute teilnehmen. Oh the irony.

Während dessen herrscht erwartungsgemäß großer Jubel und Party-Stimmung bei der Subreddit-Crowd. Man hat in einem Kampf „David gegen Goliath“ die Wallstreet Fat Cats bei ihrem eigenen Spiel geschlagen und diese bis auf die Knochen blamiert. Und dieser Sieg wird im Meme-Game gerade in vollen Zügen ausgekostet – und das durchaus zurecht. Die Aktie von GameStop war Ende letzten Jahres teilweise um die 6 Dollar wert, das Unternehmen ist in Zeiten von Steam und Co ein anachronistisches Auslaufmodell. Ideal also für Verlustwetten. Doch die Aktie wurde innerhalb weniger Tage in dieser Woche von knapp 20 Dollar auf zeitweise über 420 Dollar gepusht. Begonnen hatte die Organisation des Subreddits bereits in den letzten Wochen. Erst durch Mundpropaganda und dann durch einen Tweet von Elon Musk noch einmal gepusht nahm die Aktion mit der Leerkaufwette am Montag richtig Fahrt auf.

Eines muss man der ganzen Sache lassen: der Unterhaltungswert ist absolut ohne Gleichen. Von selbsternannten Wirtschafts-Expertinnen und verzweifelten Ökonomen, die vor laufenden Kameras einen denkwürdigen Meltdown nach dem anderen hinlegen, bis hin zu den Qualitäts-Memes, die nun das Internet fluten – das Ganze ist ein Fest! Fast in Tränen brechen sie aus, das Manager Magazin schreibt in einer Mischung aus Dunning Kruger und blanker Panik von einer „Mischung aus Klassenkampf, Machtrausch und schlichter Gier“. Oh those tears of unfathomable sadness. Yummie.

Bei genauerer Betrachtung wirft diese Affäre aber auch ein Schlaglicht auf das System Kapitalismus als Ganzes und seine Zusammenhänge. Leider dreht sich die Debatte meistens in den gewohnten, reflexhaften Bahnen, bei der immer wieder die analytisch falsche Unterscheidung in raffendes und schaffendes Kapital in mal mehr, mal weniger Untertönen mitschwingt. Weil es sich um die Wallstreet und dubiose Finanzmarkt-Geschäfte dreht, ist das mediale Framing der Debatte vorprogrammiert. Es werden wieder die Floskeln vom „Kasinokapitalismus“ hervorgekramt, und man ist sich über die meisten Lager hinweg einig im Hass und der Häme auf die Wallstreet-Bankster, vergisst aber darüber hinaus, was die Existenz von Hedgefonds mit dem Kapitalvolumen ganzer Volkswirtschaften eigentlich tatsächlich für das System Kapitalismus als Ganzes bedeuten.

Zirkulationssphäre für Dummys

 

Der nächste Part wird sehr theoretisch, weshalb hier vorab eine Art tl:dnr aka Zirkualtionssphäre für Dummys umrissen wird, um den Sachverhalt dann noch einmal komplexer darzulegen. Grundlegend geht man von zwei verschiedenen Kreisläufen aus Güter- und Dienstleistungssektor zusammengefasst als Produktionssphäre und den Banken- und Finanzsektor als Kapitalzirkulationssphäre. Auf der einen Seite werden Dinge produziert und Dienstleistungen erbracht, auf der anderen Seite wird das dabei erwirtschaftete Geld verwaltet und wieder neu investiert. Ziel ist es, jeweils mit einem Plus am Ende rauszukommen und dann wieder zu produzieren und zu zirkulieren und immer so weiter. Kapitalismus halt.

Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Zirkulationssphäre aber immer weiter von der Produktionssphäre entkoppelt und führt ein Eigenleben, welches nicht mehr auf den Waren und Dienstleistungen basiert. Wer sich an die letzte große Krise ab 2008 erinnert: Man hat Wertpapiere aus Krediten gemacht und diese dann in weiteren Wertpapieren zusammengefasst und dann Versicherungen darauf verkauft welche dann wieder Wertpapiere wurden. Klingt kompliziert und genau das ist auch gewollt. Man stellt sich gegenseitig Zertifikate aus, vertickt diese dann und solange alle mitmachen und die Preise steigen, ist auch alles gut. Egal, wie es in der Produktionssphäre gerade ausschaut. Man kann es auch Esoterik für Leute im Anzug nennen.

Ein aktuelles Beispiel für die komplette und irrationale Entkopplung: Während in den USA teilweise mehrere dutzend Millionen Menschen durch die Pandemie arbeitslos wurden, erzielten die Börsen Rekordmarken. Und das in einem Land, welches für 2019 folgende Statistiken vorzuweisen hatte:

– 48 Prozent der Bevölkerung haben niedrige Einkommen

– 1 von 5 Kindern geht hungrig ins Bett

– die Hälfte der Bevölkerung hat einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung

– über 2 Millionen Personen im Gefängnis, welche dann in einer Form der modernen Sklaverei Arbeit verrichten

– große Unternehmen wie Amazon zahlen keine Steuern, bekommen aber zig Milliarden Unterstützung

Aber hey, Hauptsache der Börse geht es gut.

Des Pudels Kern

 

Guckt man sich nun die Kapitalmenge an, die so in solchen Hedgefonds zusammengefasst ist, stellt man fest, dass diese gewaltig ist. Weltweit handelt es sich dabei um einen Wert um die 3 Billionen US-Dollar, der größte Hedgefonds (Bridgewater Associate) hat dabei einen Wert von knapp unter 100 Milliarden Dollar. Es ist also eine unvorstellbare Summe, die da in der Kapitalzirkulationssphäre vor sich hin gammelt und verwertet werden muss. Die Summen sind in der Höhe durchaus mit den Staatshaushalten einiger Länder vergleichbar. Allgemein sind die Finanzsysteme aktuell bis zum Bersten mit billigem Geld gefüllt. Und es fließt wegen der Billigzins-Politik der Notenbanken immer mehr frisches Geld nach. Im Bankensektor weiß man schon gar nicht mehr, wohin damit.

Ursprünglich hatte der Bankensektor in der Ökonomie als erste und vorrangigste Aufgabe nur Eines zu tun: Dem privaten Sektor (Bausparenden, Hauskäufer*innen, etc.) und vor allem der produzierenden Industrie Kapital in Form von Krediten zur Verfügung zu stellen, um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten – und anschließend den durch den Verkauf eben dieser Güter und Dienstleistungen generierte Umsatz wieder aufzunehmen. Das Spiel läuft so: Kapital fließt aus dem Bankensektor in die Produktion, um dort nach der „Verwertung“, also der Verwandlung von Kapital in mehr Kapital als vermehrte Kapitalsumme (Mehrwert) zu den Banken zurückfließt. Ein eigentlich einfacher Kreislauf, den das Kapital da immer wieder durchläuft. Aus diesem Grund findet man bei Marx auch die Begriffe „Kapitalzirkulationssphäre“ für den Bankensektor und „Produktionssphäre“ für den Industrie-Sektor, um die Phasen im Verwertungszyklus des Kapitals zu beschreiben.

Nun ist es so, dass diese „Kapitalzirkulationssphäre“ nicht mal eben so beliebig viel Kapital aufnehmen kann. Kapital unterliegt dem Zwang zur permanenten Selbstverwertung. Sprich: Es muss zwangsläufig mit der Kohle etwas gemacht werden; mit dem Ziel, am Ende aus der „Investierten“ Kapitalsumme mehr Kapital zu erzeugen. Alle, die schon mal einen Bausparvertrag bei einer Bank am laufen hatten, wissen, was gemeint ist. Wenn man sein Geld zur Bank bringt, dann will man da seine 2-3 % Rendite drauf haben.

Dementsprechend kann nur so viel Kapital von der Zirkulationssphäre aufgenommen werden, wie auch gleichzeitig in die Verwertung gegeben werden kann. Sollte die Verwertung von Kapital ins Stocken geraten, weil schlicht weg zu viel Kapital in die Verwertung gepumpt wird, gerät Kapital in die Krise – es herrscht Überakkumulation!

Übertragen auf die jetzige Situation an den Finanzmärkten muss man feststellen: Das System befindet sich in eben solch einer Phase der Überakkumulation. Und das schon seit längerer Zeit. Die mit Kapital gemästete Zirkulationssphäre, die in der klassischen Ökonomie eigentlich nur die Aufgabe hatte, den Kapitalverwertungskreislauf beständig am Laufen zu halten, erstickt nun fast am eigenen Gewicht – eine Folge der Überakkumulationskrise, die seit 2008 schwelt und nur durch weiteres Aufblähen der Kapitalmärkte mit billigem Geld aus den Notenbanken geradeso eben am Zusammenbrechen gehindert werden konnte.

Um einen weiteren Krisenschub zu verhindern, der nicht nur mit der Vernichtung des überakkumulierten Kapitals, sondern potentiell mit dem kompletten Systemzusammenbruch enden könnte, müssen nun also alternative Wege gesucht werden, um die abstrakte Wertverwertung sicherzustellen. Selbst dann, wenn dies auf Kosten gesellschaftlichen Reichtums wie Immobilien, öffentlicher Daseinsfürsorge oder schlichtweg von Jobs geht. In diesem Sinne, also der abstrakten Logik der Kapitalverwertung, erfüllen milliardenschwere Hedgefonds, die völlig abstruse Finanzprodukte aus zusammengestückelten Ramschpapieren verkaufen und auf die Vernichtung ganzer Volkswirtschaften wetten, einen spezifischen Zweck – sie halten das Spiel aus ewiger Wertverwertung am laufen.

Stonks is rising

Es zeigt sich also an diesem Fall mal wieder die zutiefst widersprüchliche, ja geradezu irrsinnige Natur dieses Systems. Statt dass Menschen ihre Jobs, ihre Krankenversicherung und ihre Wohnungen durch eine Wirtschaftskrise verlieren, passiert das alles nun unter Umgehung der Krise, zum Beispiel durch Wetten auf Aktienleerkäufe. Entweder das, oder es geht vielleicht der private Rentenfond, auf den viele Rentenbeziehende zum Lebensunterhalt angewiesen sind, in die Binsen. (In den USA ist das sehr viel weiter verbreitet als hier.) Das alles nur, weil er Teil eines Hedgefonds war, der sich beim Wetten verspekuliert hat. Die Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums und der Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird dem abstrakten Primat der Wertverwertung untergeordnet. Dabei muss es ja nicht einmal einen Anlass aus der Produktionssphäre geben. Einfach mal gegen ein paar Gamer verzockt und schon sind mehrere Milliarden weg. Das alles wird gerade aus liberalen Kreisen oft ohne den geringsten Anflug von Ironie als das „beste System, das es gibt“ bezeichnet. Leute wie Friedrich Merz sagen dann sogar noch „Hold my Koolaid“ und wollen diese Ausformungen des Finanzsektors stärken und ausweiten. Aber natürlich nur, solange das Großkapital am Drücker ist.

Im Angesicht solcher völligen Gaga-Verhältnisse steht aber auch fest, dass man bei allem Spektakel um blamierte Hedgefond-Manager, durchdrehende Ökonomen (es sind ja vorrangig Männer) und Kapitalisten-bezwingende Vietcong-Gamer sich gerade als Linke nicht bei „Wer ist hier Schuld“-Spielen verzetteln darf. Man kann sich zurücklehnen und dem Karneval der Finanzkulturen beste Unterhaltung abgewinnen, aber man muss immer den Blick aufs große Ganze im Sinne der Kritik an den Verhältnissen wahren. So intuitiv sympathisch einem die Reddit-Kampagne auch erscheinen mag und so sehr man dort einigen Leuten auch den Gewinn gönnt, den sie mitnehmen können – sie sind selber Resultate des grundlegend falschen Systems.

Die Hedgefonds, die Banken und die Börse sind eben sowenig die „bösen“ und „raffgierigen Heuschrecken“, als die sie in einer falschen und gefährlichen Kritik immer mal wieder dargestellt werden. Sie sind lediglich die Symptome eines größeren Zusammenhangs. Selbst wenn man sie mit Regelungen einschränkt und die schlimmsten Auswüchse unterbindet, ein sogenannter „ethischer Kapitalismus“ ist immer noch ein System der Ungleichheit und Ausbeutung, dessen innere Logiken nicht aufgehoben wurden und welches immer wieder von sich das hervorbringt, was man gerade beobachten kann. Nein, das Irrenhaus heißt nicht Hedgefonds, sondern Kapitalismus.

Aber wie viel ist dein Outfit wert – Teil 1: Die Ökonomie

[Die Überschriften und das Beitragsbild sind dem Song „Wie viel ist dein Outfit wert“ von Kummer entnommen.]

Unsere Kleidung gehört zu den Dingen, die so alltäglich sind, dass wir uns in der Regel kaum Gedanken über sie machen jenseits der Frage, was man denn anziehen solle. Und da sie so alltäglich ist, lassen sich hier einige Beobachtungen im Kleinen anstellen, welche charakteristisch für die Gesellschaft als solche sind. In einer kleinen Textreihe soll dem ein wenig auf den Grund gegangen werden. Der erste Teil wird sich dem wirtschaftlichen Aspekt widmen.

 
„Life ist super nice, da, wo man die Schuhe trägt
Life ist nicht so nice, da, wo man die Schuhe näht“
 
Wie alles andere auch sind Kleidungsstücke Waren, welche unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt werden und der Profitmaximierung dienen. Einige Kernelemente der kapitalistischen Ausbeutung und des kapitalistischen Wahnsinns lassen sich hier sehr anschaulich aufzeigen. Das Gleiche gilt für ein falsches Verständnis des Kapitalismus, welches sich insbesondere hinter den Begriffen bewusster/ethischer Konsum verbirgt.
 
Ein Blick auf die weltweiten Daten zeigt, dass Bekleidung und Textilien insbesondere in Süd- und Ostasien sowie Europa hergestellt werden, mit China unangefochten an der Spitze. Über die Arbeitsbedingungen insbesondere im asiatischen Raum ist viel bekannt, aufgrund der großen Distanz sind diese aber kaum präsent. In Ländern wie Bangladesch oder Kambodscha werden Streiks teilweise mit Hilfe der Armee unterdrückt und zusammengeschossen. Niedrige Löhne, Knochenjobs und unsichere Arbeitsplätze sind die Norm. Immer wieder kommt es zu teils tödlichen Unfällen, die oftmals weiblichen Mitarbeiterinnen werden (auch sexuell) misshandelt und ausgenutzt. 
 
Zu sehr niedrigen Stundenlöhnen und kaum vorhandenen Fixkosten durch soziale Sicherungssysteme wird dort genäht, was hier dann für ein Vielfaches der Herstellungskosten im Laden zum Verkauf steht. Von dieser riesigen Gewinnmarge sieht man an den Werkbänken nichts – die klassische Wertabspaltung, wie Marx sie beschrieben hat, findet hier auf globaler Ebene leicht verständlich statt. Sie fällt durch die völlige Abwesenheit von sozialen Sicherungssystemen materiell soagr um Einiges krasser aus, als im sog. „Westen“. Zudem wird konstant versucht, Umweltauflagen zu verhindern oder man ignoriert diese einfach.
 
Ein weiteres Charakteristikum des Kapitalismus ist zudem seine Ineffizienz, wenn es um die Energiebilanz geht. Da die alles bestimmende Maßgabe die Profitmaximierung ist, wird ausschließlich darauf geschaut, ob sich etwas monetär rechnet. Das heißt konkret:  Produziert wird da, wo es am günstigsten ist. Und so ist es keine Seltenheit, dass die Einzelteile von Kleidungsstücken insgesamt mehrere zehntausend Kilometer kreuz und quer über den gesamten Globus zurücklegen, bevor sie dann als Ware über den Schalter gehen. Die Produktionsketten interessieren sich nicht für eine möglichst gute Energiebilanz, um so wenig Umweltschäden wie möglich zu verursachen. Es ist eigentlich ein sehr offenkundiger Irrsinn. Der Logik der Profitmaximierung folgend ist es aber eine Konsequenz der kapitalistischen Produktionsbedingungen.
 
„Falscher Rucksack, falsche Jeans, alle seh’n den Unterschied“
 
Und die kapitalistischen Verhältnisse sind es auch, welche Kinderarbeit, Sklaverei und Missbrauch nicht beenden, sondern stetig reproduzieren und erzeugen, wenn man nicht dagegen ankämpft. Aus diesem Grund hat sich im Laufe der Zeit der sogenannte „bewusste/ethische Konsum“ herausgebildet. Der Ansatz ist leicht verständlich: Man schafft eine Art Siegel oder Label, welches bestimmte Herstellungsbedingungen garantiert. Dazu können zählen: gute Löhne, sichere Arbeitsplätze, lokale Mitbestimmung, Umweltauflagen und so weiter. Da solche Siegel frei ausgestaltet werden können und es keinen allgemeingültigen Standard für „faire Produkte“ gibt, kann sich hinter dieser Bezeichnung so gut wie alles oder auch fast gar nichts verstecken, man muss im Zweifelsfall immer nachschauen.
 
Unternehmen nutzen diesen Trend auch und betreiben dann zum Beispiel sogenanntes Greenwashing: Durch Werbung und gut klingende Bezeichnungen versuchen sie ein sauberes und nachhaltiges Image bei guter Behandlung aller Beschäftigten zu vermitteln. Ob dies überhaupt der Wirklichkeit entspricht, ist egal. Es geht um das Image. Und so ist auch der ethische Konsum sehr schnell in die kapitalistische Verwertungslogik eingehegt worden und erlaubt Menschen mit den entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, sich ein gutes Gewissen zu kaufen, ohne sich dann weiter mit Rahmenbedingungen der weltweiten Produktion beschäftigen zu müssen. 
 
Und hier liegt dann auch die Krux: Die grundlegenden Logiken des Kapitalismus, welche diese inhumanen Ausbeutungsverhältnisse erzeugt haben, werden nicht ausgehebelt. Man beschränkt sich darauf, das Elend partiell ein bisschen abzumildern, stellt aber zu keinem Zeitpunkt die Systemfrage. Um das klar zu sagen: Jede Person, die bessere Arbeitsbedingungen bekommt, ist als Erfolg zu werten. Es haben sich einige Bedingungen verbessert, keine Frage. Aber die Gesamtscheiße ist doch deshalb immer noch da. Man kann sich hier, das Geld vorausgesetzt, ganz viel tollen Fairtradekaffee hinter die Binde kippen. Wenn in Kambodscha die Armee einen Streik niederballert, lacht das Kapitalverhältnis nur darüber. Das schlimmste Elend wurde hier durch harte Arbeitskämpfe beendet, die Logik des Wirtschaftens hat dieses Elend dann aber auch nur in andere Länder verschoben, da man immer auf der Suche nach den ertragreichsten Ausbeutungsstandorten ist. 
 
Nicht nur, dass es sich bei ethischem Konsum vorrangig um eine Selbsttäuschung handelt, die in der Masse gesehen auch als Beruhigungspille fungiert, gar nicht erst die Ursache des ganzen Elends im Kapitalismus zu suchen. (Konsumiere noch härter bewusst und es wird besser, ganz sicher!) Es verschleiert auch die Tatsache, dass ALLES, was wir kaufen, unter kapitalistischen Bedingungen hergestellt wurde. Die grundlegenden Ausbeutungsverhältnisse sind keine anderen, egal ob man nun bei Trigema dem guten schaffenden Kapital aus Deutschland die Selbstvermarktung abnimmt (und die Verhinderung von Gewerkschaften und Betriebsräten übersieht) oder ob es sich um eine Textilfabrik in China handelt. 
 
„Diese Welt ist eingeteilt in Gewinner und Verlierer“
 
Wir entkommen als Einzelpersonen dem Kapitalismus nicht und wir können auch nicht durch das Leben gehen, ohne gezwungenermaßen am Kapitalismus zu partizipieren. Es ist eine totale Vergesellschaftung, welche die Rahmenbedingungen der Gesellschaft als solche stellt. Wer nicht daran teilnehmen will, muss irgendwo in eine einsame Hütte ziehen und komplett auf Selbstversorgung und Einsiedlerei setzen. Alles, was uns als Einzelpersonen übrigbleibt, ist die Frage, wie wir uns innerhalb der Verhältnisse einrichten. Akzeptieren wir sie notgedrungen als vorhanden, arbeiten aber im Rahmen unserer Möglichkeiten an einer Änderung? Gehen wir all in und spritzen uns die Kapitallogik ungestreckt in die Venen, um 70 oder 80 Stunden die Woche zu schinden? Ist es uns einfach egal und wir interessieren uns für gar nichts, wurschteln uns mit notwendig falschem Bewusstsein irgendwie durch? 
 
Wenn man den Entschluss fasst, etwas ändern zu wollen, so kann man dies alleine doch recht schwer. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die Grundfesten der aktuellen Ordnung, kann man allein nicht ändern. Genau aus diesem Grund wurden mal Gewerkschaften gegründet: Gemeinsam hat man mehr Verhandlungsmacht gegenüber den Personen in Machtpositionen als allein. Deshalb ist auch aktiver Arbeitskampf das effektivste Mittel, um die vorliegenden Bedingungen nachhaltig zu ändern. In Indien haben sich vor einigen Tagen 250 Millionen Menschen an einem Generalstreik beteiligt, vor vier Jahren waren es noch 160-180 Millionen. Ein massiver Zuwachs und ein Machtfaktor, mit dem man Staat, Regierung und Wirtschaft ernsthaft herausfordern kann. 
 
Die totale Vergesellschaftung des Kapitalismus bedeutet aber auch, dass wir ausschließlich Waren kaufen müssen, die unter kapitalistischer Ausbeutung hergestellt und verkauft werden. Leuten vorzuwerfen, sie würden mit dem Kauf einer Jogginghose von Nike, Adidas oder Fila ein kapitalistisches Unternehmen unterstützen, haben den Kapitalismus nicht verstanden. Auch der Discounter nebenan ist kapitalistisch organisiert und vertickt Waren, die ebenfalls unter kapitalistischen Bedingungen produziert wurden. Die Nieten deiner 30-Euro-Jeans wurden ganz sicher nicht unter besseren Bedinungen produziert als bei teureren Jeans. Es macht für das Kapitalverhältnis absolut keinen Unterschied, ob du nun im Discounter Klamotten kaufst oder bei Hugo Boss.
 
„Cooles Outift, bei dir läuft!
Hau mal raus, was sind das für Sneaker?“
 
Ein in diesem Zusammenhang von vielen Bauchlinken in ihrem verkürzetn, moralin-sauren Verständnis von Kapitalismus immer wieder begangener Fehler, ist verschiedenen Teilnehmer*innen am Markt völlig unterschiedliche Motive zu unterstellen. Großkonzerne werden automatisch als grundsätzliche Ausgeburten des Bösen ausgemacht, während irgendwelche hippen Start-Ups oder sogenannte Familienunternhemen als irgendwie nicht ganz so kapitalistisch verklärt werden. Was dabei völlig vergessen wird, ist, dass Großkonzerne sich noch am ehesten zu organisierten Interessensvertretungen ihrer Belegschaften, Tarifverträgen und sozialen Standards bekennen bzw. bekennen müssen, sei es nur um beim Thema Governance besser dazustehen, während in den sympathischen Familienbetrieben und Startups mit flachen Hierarchien eben jene sozialen Standards permanent mit dem Hinweis auf die Betriebsgröße und die ach-so-harte Konkurrenz unterlaufen werden und die eigene Belegschaft quasi zur Selbstausbeutung „motiviert“ wird.
 
Sich jetzt in diesem Rahmen an Kaufentscheidungen von Einzelpersonen abzuarbeiten, ohne die Grundbedingungen kapitalistischer Produktion verstanden zu haben, ist schlichtweg ein Self Own. Das Level der Kritik ist vergleichbar mit einem „Du bist gegen Kapitalismus aber schreibst von einem Samsung höhö“. Ja du Knalltüte, so ist das nun mal in einer totalen Vergesellschaftung. Kein Grund, die Gesamtscheiße nicht trotzdem abschaffen zu wollen. Und wer wirklich ein Problem mit kapitalistischen Produktionsbedingungen hat, bringt sich selbst in den Arbeitskampf ein. Die Menschen sind im Kapitalismus nun mal dazu gezwungen, sowohl als Produzent*innen als auch als Konsument*innen der eben von Ihnen selbst hergestellten Waren aufzutreten. Ihnen vorzuwerfen, dass sie sich im Rahmen der kapitalistischen Vergesellschaftung als Konsument*innen an der Totalität dieser Verhältnisse beteiligen, ist so, als würde man einem Sportler vorwerfen, dass er schwitzt.
 
Der zweite Teil wird sich mit der sozialen Funktion der Mode für die Bildung von Szenen, Subkulturen, Schichten und letztendlich der Hierarchisierung der Gesellschaft beschäftigen.

Wovon Jana aus Kassel nichts wissen will…

Deutschland Ende 2020 – Seit nun mehr 8 Monaten bestimmt die Sars-Cov2-Pandemie weltweit den Alltag der Menschen und lässt dabei gesellschaftliche Widersprüche und Missstände im globalen System apersonaler Herrschaft namens „Kapitalismus“ deutlich zu Tage treten. Während auf der einen Seite die Kapitalvermögen trotz einer sich anbahnenden, heftigen Rezession kräftig gewachsen sind, bedeutet diese Krise für einen Großteil der lohnabhängig Beschäftigten (vor allem Jene aus dem Niedriglohnsektor) und LeistungsempfängerInnen praktisch Existenz bedrohende Zustände. 
 
Nicht nur dass die fortschreitende Präkarisierung weiter Teile der Gesellschaft während der Pandemie einen erheblichen sozialen Zündstoff birgt – die Tatsache, dass die Politik die Kosten und Nebenwirkungen der Krise auf das Pflegepersonal, auf Beschäftigte in der Logistik und der Lieferdienstindustrie und auf ArbeitnehmerInnen in der Produktion, also mit anderen Worten mal wieder auf die Schwächsten in der Gesellschaft abwälzt, liefert mehr als genug Gründe, um wütend zu sein und auf die Straße zu gehen.
 

1. Die Totalität der Verwertungslogik/ Die Widersprüche im System

 
Nur um mal einen kleinen Abriss zu geben:
Durch die chronische Unterfinanzierung und Unterbesetzung im Gesundheitssektor hat das Gesundheitsministerium kurzer Hand beschlossen, dass bestimmte Regelungen zur Kontaktbeschränkung für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser, bei denen Personalmangel herrscht, nicht mehr gelten. Dort werden dementsprechend Pflegekräfte eingesetzt, die nicht nur Kontakt mit Infizierten hatten, sondern die selbst positiv auf Covid19 getestet wurden. Mit anderen Worten – Wenn man als Pflegekraft in einer Einrichtung mit dünner Personaldecke arbeitet, kann es sein, dass man trotz nachweislicher Covid19-Infizierung zur Arbeit erscheinen muss.
 
Hinzu kommt, dass ebenfalls aufgrund des eklatanten Personalmangels in der Pflege einige Bundesländer das Arbeitsgesetz für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen kurzer Hand gekippt haben. Die Arbeitszeiten wurden auf maximal 12 Stunden pro Tag verlängert, die Ruhezeiten zwischen den Schichten verkürzt und die Wochenstunden auf 60 erhöht. 
 
Wie es um die eigentlich bitter nötige gesellschaftliche Solidarität mit den Beschäftigten im Pflegebeireich aussieht, konnte man im Sommer sehen. So war man sich im öffentlichen Diskurs und gerade in den Medien zu nächst einig, dass von allen Berufsgruppen vor allem das Pflegepersonal essentiell zur Krisenbekämpfung sei und gerade einen aufopferungsvollen Kampf für die Gesellschaft führe. KrankenpflegerInnen und Krankenhauspersonal wurden in den Medien geradzu als HeldInnen gefeiert. Jeder dürfte sich noch an die im nachhinein zynisch wirkenden Klatsch-Orgien erinnern. 
Als eben jene „HeldInnen“ aber dann tatsächlich gesellschftliche Anerkennung einforderten und für ihren Dienst wenigstens etwas mehr Geld haben wollten, war es mit der Solidarität schnell vorbei. Während der Großteil der Gesellschaft dem Pflegesektor längst wieder mit der gleichen Ignoranz wie vor der Krise begegnete, gab es keine Niederträchtigkeit, welche die bürgerliche Presse von Welt über Zeit bis Spiegel nicht dem Pflgepersonal vorwarf, weil man sich traute mit Streik zu drohen. 
Jaja, wer kennt sich nicht, die Raffzähne im Pflegedienst.
 
Doch auch in anderen Arbeitszweigen, etwa im produzierenden Gewerbe, sieht es mit der Einhaltung der Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten ähnlich aus. Etliche Unternehmen haben die im Frühjahr auf Druck der Gewerkschaften und Interessenvertretungen der Belegschaft getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wieder zurückgenommen. In diesen Betrieben arbeitet die Belegschaft quasi ohne oder nur mit unzureichenden Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung weiter und setzt sich so gezwungener Maßen einem unverhältnismäßig höheren Risiko der Ansteckung aus. Der allgegenwärtige Zwang zur Kapitalverwertung herrscht ungebrochen und er fordert seine Opfer. So kam es wohl alleine in den letzen Wochen in den BMW-Werken in Dingolfing und München, beim Paketelieferservice DHL, beim Tiefkühlkosthersteller Frosta und beim Merzedes-Benz-Werk in Düsseldorf zu Infektionsausbrüchen unter der Belegschaft. Es sind also auch hier wieder die einfachen MitarbeiterInnen, die den Preis für die Aufrechterhaltung der Akkumulation und die üppigen Ausschüttungen von Dividenden etwa an die Familien Quandt und Kladden mit ihrer eigenen Gesundheit bezahlen müssen.
 

2. Die Psychologie der „QuerdenkerInnen“

 
Diese Tatsachen machen deutlich: Grund genug gäbe es, um wütend zu sein – wütend über die gesellschaftlichen Verhältnisse, wütend über die ungerechte Verteilung der Lasten dieser Krise, und ja, auch wütend über die Art und Weise, wie die Regierung diese Krise managed – nämlich in dem sie auf instrumentelle Art Menschenleben zu Arbeitskraftbehältern degradiert, die zur Pandemiebekämpfung regelrecht „vernutzt“ werden sollen, wie eben in der Pflege.
Das sind legitime Anliegen um gerade als Linke die eigene Wut darüber nicht in sich hinein zu fressen, auf die Straße zu gehen und den herrschenden Verhältnissen den Kampf anzusagen. 
Und tatsächlich gehen nun schon seit einigen Wochen viele Menschen auf die Straße, um ihrem Protest gegen die Regierung und ihre Maßnahmen Ausdruck zu verleihen.
 
Jedoch handelt es sich bei diesen „Querdenken“ genannten Demonstrationen gegen die Regierung und ihre Maßnahmen nicht um einen Ausdruck der Solidarisierung untereinander gegen die sozialen Umstände und die Totalität der kapitalistischen Vergesellschaftung, die diese hervorruft. Nein, weit gefehlt. 
Sieht man sich die Proteste und deren TeilnehmerInnen an, so bekommt man schnell den Eindruck: Das sind keine ökonomisch oder sozial marginalisierten Massen, die sich gegen unzureichende Schutzmaßnahmen oder allzu offenkundige Ausbeutung seitens ihrer ArbeitgeberInnen oder der Regierung auflehnen. Abgesehen von den üblichen AkteurInnen rechter Parteien, Hooligans und Kameradschaften, welche die Hygiene-Demos von rechts außen zu unterwandern versuchen, bietet sich einem Beobachtenden ein heterogenes Bild aus Verschwörungsideologen, AnhängerInnen der Reichsbürger-Szene und Eso-Hippies. Auch jede Menge augenscheinlich wohl saturierte, ältere Damen und Herren in Jack-Wolfskin-Uniform, welche sich betont „weder links noch rechts“ geben, aber ganz genau zu wissen scheinen, dass die Bundesrepublik Deutschland sich unter Merkel in eine Diktatur verwandelt hätte. Diese sei selbstredend „schlimmer als die DDR“(oder Wahlweise „das Dritte Reich“) und folglich gelte es sie zu Stürzen. Kurz um, man wähnt sich mit Nazis und allerlei anderen seltsamen Menschem „im Widerstand“ gegen die „Merkel-Diktatur“
 
Egal ob die wie auch immer geartete „Kritik“ an der Regierung nun von NWO-SchwurblerInnen, ImpfgegnerInnen, Nazi-Kadern, Hooligans oder einfach nur verwirrten bürgerlichen Subjekten geäußert wird, auffällig dabei ist, dass man sich für die oben genannten gesellschaftlichen Probleme wenig bis gar nicht interessiert. Außer der geheuchelten Sorge um die Vereinsamung älterer Menschen oder um die Beeinträchtugung der (vornehmlich) eigenen Kinder durch die Einhaltung einiger simpler Hygienemaßnahmen, wie etwa das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes, richtet sich die Wut der KleinbürgerInnen, die da auf die Straße gehen, mehrheitlich gegen einige Einschränkungen individueller Freiheiten, die im Vergleich mit dem von Rassenwahn durchzogenem Unterdrückungsregime der Nazis als „marginal“ gelten könnten. Und auch im Vergleich zu der Masse an Menschen, die momentan entweder durch Kurzarbeitergeld-Regelung, Arbeitsplatzverlust oder gar das Wegbrechen ganzer Beschäftigungszweigs auf Grundsicherungsniveau irgendwie über die Runden kommen müssen oder in 12-Stunden-Schichten sich auf einer Intensivstation für die Gesellschaft aufopfern dürfen, nehmen sich die Einschränkungen, von denen der Rest der Gesellschft (und damit auch die „Corona-LeugnerInnen„) betroffen sind, geradezu lächerlich aus.
 
Dennoch wird dieses vergleichsweise marginale „Los“ von den Protestierenden geradezu als „Freiheitsberaubung“, die Maßnahmen der Regierung als „Ermächtigungsgesetz“, also als diktatorische Willkür auf gleicher Ebene wie die der Nazis empfunden. Selbst nimmt man sich dementsprechend als erstes und einziges Opfer dieser neuen Nazis und als WiderstandskämpferInnen gegen eben jene wahr. Nach dieser Logik trifft dann der eigene Vergliech mit Figuren der Zeitgeschichte wie Anne Frank und Sophie Scholl natürlich zu. Drunter macht man es sowieso nicht im Widerstand gegen die Merkel-Diktatur.
 
Diese geschichtsvergessene Selbstdarstellung der Corona-LeugnerInnen zeugt zunächst mal nicht etwa von einem selbstlosen Widerstandskampf, den man da in altruistischer Manier für andere Menschen gegen ein grassierendes Unrecht führen würde, sondern in erster Linie zeugt es von einer gehörigen Portion Egomanie, die diese narzistisch gekränkten bürgerlichen Subjekte mit sich herumschleppen. Wo die Inhalte fehlen, muss der Pathos des Heroischen beschworen werden, der sich natürlich um die ProtagonistInnen selbst dreht. Stets ist man dabei aufrechtes, aber ahnungsloses Opfer dunkler Mächte und heroische/r KämpferIn gegen eben jene Mächte zugleich. Ein in Verbindung mit dem Massenerlebnis durchaus subjektkonstituierender Vorgang – Man erhöht sich selbst, stellt sich auf eine Stufe mit den Opfern des Nationalsozialismus und Mitgliedern der Weißen Rose, stilisiert sich gleicher Maßen zur verfolgten Unschuld und zum heldenhaften Widerstand und zieht so aus dem Spektakel sein Selbstwertgefühl.
 
Wo der Protestzirkus sich vornehmlich um die Selbstdarstellung und ums eigene Ego dreht, bleibt dementsprechend kein Platz für Mitgefühl oder Solidarität mit anderen Menschen. Skandalisierung der Verhältnisse in der Pflege oder der wachsenden Armut, der steigenden Prekarisierung und der Existenzbedrohung ganzer Bevölekungsschichten durch die Krise – Fehlanzeige! Das Schicksal all Jener, die in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen bei schlechter Bezahlung und chronischer Unterbesetzung schuften, hat diese Leute schon vor der Krise nicht interessiert, eben so wenig wie sie für die sich immer weiter in die Breite der Gesellschaft hineinfressende soziale Schieflage interessiert haben. Auf Demos, die für einen solidarischen Umgang mit der Krise warben, war dieser Schlag Menschen jedenfalls nicht zu sehen. 
 
Aus diesem Desinteresse am Schicksal Anderer, vor allem sozial schwächerer Menschen, lässt sich durchaus ein tief verwurzelter Sozialchauvinismus ableiten. Bei den Forderungen, endlich die Kontaktbeschränkungen aufzuheben, damit man wieder in seine angestammte Bar gehen und seine Risikogruppen-Großeltern besuchen kann, zeigt sich eine Indifferenz gegenüber dem Leben anderer Menschen. Das Leben vor allem der Anderen wird selbstverständlich geringer geschätzt. Eine Eigenschaft, die im Falle des ebenso schon mehrfach bei Hygiene-Demos zu beobachtenden autoritären Strafbedürfnisses gegenüber wahlweise PolitikerInnen, VertreterInnen vom RKI oder sogar anwesenden Cops als typisch für autoritär zugerichtete Charaktere gilt. 
 
Genau betrachtet handelt es sich bei diesen QuerdenkerInnen“ sehr oft nicht um beinharte Nazis, aber doch um autoritäre Elendsgestalten, die ihren gekränkten Narzissmus auf der Straße ausagieren, ohne selbst dabei so ganz genau zu wissen, was sie wollen und wofür sie sind dafür aber ganz entschieden wogegen. Das reaktionäre Krakeelen auf den Hygiene-Demos hat mit dem solidarischen Kampf für andere Menschen oder Selbstermächtigung gegen die bestehenden Verhältnisse oder gar „Revolution“ nichts zu tun. Viel mehr handelt es sich um eine autoritäre Revolte, an deren Ende stets die Herrschaft des Mobs steht. Kurzum, mit diesen Leuten ist keine befreite Gesellschaft zu machen, im Gegenteil: Man kann ihnen als Linke/r nur selbst Widerstand entgegenbringen und ansonsten Maximalabstand halten!
 

3. Wie umgehen mit den Protesten

 
Um es zusammenfassend also nochmal zu sagen: Die sich selbst als „QuerdenkerInnen“ bezeichnenden Protestierenden stellen sich momentan also für ein paar bürgerliche Freiheiten auf die Straße. Die sozialen und ökonomischen Probleme, die gesamtgesellschaftlich mit der Krise zusammenhängen und welche in ihren Auswirkungen viel dramatischer sind, kümmern sie wenig. 
Aus linker Perspektive ist dazu natürlich festzuhalten, dass man sowohl für individuelle Freiheiten wie auch für ein soziales Miteinander eintritt, ganz klar. Nur sind die momentanen Einschränkungen gewisser individueller Freiheiten und Grundrechte aber keine Willkür sondern durch die momentane Lage bedingt. Sie machen Sinn um Leben zu retten, und das alleine sollte schon Grund genug sein, um sie zu respektieren, auch wenn man an sonsten als Linke/r mit dem Treiben bürgerlicher Staatsraison auf Kriegsfuss steht. Mehr noch – Der Antagonismus, den man dem System entgegenbringt sollte eignetlich Antrieb genug sein, den selbsternannten „QuerdenkerInnen“ nicht einfach so die Straße zu überlassen, sondern zum Einen den kruden Parolen dieses zu sich kommendne „Volksmobs“ und dessen regressiven Bestrafungsphantasien die eigenen, emanzipatorischen Inhalte entgegenstellen und zum Anderen dem Staat unt der herrschenden  Klasse unmissverstänflich klar zu machen: 
Nicht auf unserem Rücken!- Es geht nur solidarisch!
 
 

Zu den Wahlen in den USA

Am 3.11. finden in den USA mehrere Wahlen statt. 35 der 100 Senatssitze, der komplette Kongress und das Amt der Präsidentin stehen zur Wahl. Aus linker Sicht – und damit ist nicht einmal aus linksradikaler Sicht gemeint – gibt es absolut keinen Blumentopf zu gewinnen. Die USA stehen am Abgrund und die beiden Optionen stellen eine Entscheidung zwischen beschissen und worst case dar.
 
Um es vorweg zu sagen: Trump ist das Worst-Case-Szenario. Daran gibt es keinen Zweifel und es ist die oberste Priorität, ihn aus dem Amt zu bekommen. Ob Trump nun ein sattelfester Faschist ist, hängt ein wenig von der präferierten Faschismusdefinition ab. Wirklich relevant ist dies nicht, denn ein offener Protofaschist mit klar diktatorischen Zielen ist er in jedem Fall. Eine Aufzählung dessen, was er in den letzten Jahren so alles veranstaltet, gesagt und getan hat, sprengt jeden Rahmen. Pro Rede kommt er auf teilweise dutzende Lügen, sein Twittergrind pusht härteste Schwurbelaccounts.
 
Kennzeichnend sind für ihn aber vor allem drei Dinge: 
 
1. Inszenierung als Antiestablishment/Heilsfigur
2. Antisemitismus in Form eines wahnhaften Antikommunismus
3. Support der radikalen Rechten, rechter Milizen und Law-and-Order-Politik
 
Wie genau es ein (ehemaliger?) Milliardär mit eigenen Golfclubs und Fernsehshows  geschafft hat, sich selber in die Rolle eines Außenseiters zu platzieren, ist schwer zu ergründen. Er hat dabei aber jede Menge Unterstützung von den Demokraten bekommen. Über Jahre und teilweise Jahrzehnte hat man etliche Schichten in den USA vernachlässigt und der immer stärker durchschlagende Neoliberalismus hat das Lohngefüge dieses eh schon sehr marktliberalen Staates komplett aus den Angeln gehoben. Millionen Einwohner*innen stehen vor dem absoluten Nichts und sind vollkommen abgehängt, je jünger desto schlechter die Aussichten auf die Zukunft und Millionen Häuser sind massiv überschuldet oder wurden bereits im Zuge der letzten Finanzkrise beschlagnahmt. Merkliche staatliche Hilfen gab es und gibt es aber nicht. 
 
Mit Bernie Sanders hat ein nach europäischem Maßstab Sozialdemokrat in zwei Vorwahlkämpfen versucht, mit einer sozialen Agenda neue Schichten anzusprechen und für die Wahlen zu aktivieren. Erhebungen zeigen: Durchaus mit Erfolg. In beiden Fällen hat aber das Establishment der Demokraten interveniert und beide Male den Vorwahlkampf gegen ihn beeinflusst. Da Trump selber nicht aus dem politische Betrieb stammt, ist es so gesehen ein Leichtes, sich vom Stallgeruch der Berufspolitiker freizumachen. Und es fällt für Viele überhaupt nicht ins Gewicht, dass Trump selber korrupter als Alle ist, die er als „Sumpf“ tituliert. Er inszeniert sich als konträr zum üblichen Betrieb.
 
Zusätzlich adaptiert er relativ geschickt Onlineströmungen und lässt sich ganz bewusst als Heilsbringer inszenieren. Da geht es dann auch gar nicht mehr um Inhalte. Es handelt sich um eine charismatische Herrschaft nach Weber, die eher an Kulte und Sekten erinnert als an eine bürgerliche Demokratie. So wurde Trump zur zentralen Figur der Q-Anons und stellt eine Art Erlöser für alle Übel der Welt dar. Selbst auf Reichsflaggen hierzulande schafft es das Konterfei des Präsidenten – er soll auch Deutschland retten. So absurd dies alles klingen mag, so real ist es.
 
Antikommunismus zählt in den USA seit der Oktoberrevolution  in Russland zu den ideologischen Kernelementen des kollektiven Gedächtnis. In den 30ern veranstaltete man erste Konferenzen zur Totalitarismustheorie, mit Beginn des Kalten Krieges setzte der antisemitische Wahn der McCarthy-Ära ein, vorher führte man einen regelrechten Bürgerkrieg gegen Gewerkschaften und Arbeitskämpfe (der erste Bombereinsatz der USA erfolgte gegen Gewerkschaftsmitglieder) mit tausenden Toten. Das Ende der Sowjetunion hat dieser Ideologie aber nicht das Wasser abgegraben. In Form des Kulturmarxismus erlebt der Wahn der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung neuen Auftrieb und wird gerade in den USA massiv gepusht.
 
Trump selber hat dies alles nicht erfunden, er geht aber in die Vollen und betitelt alles als Kommunisten, Anarchistinnen und so weiter, was ihm nicht in den Kram passt. Mit klassischen Bausteinen der antisemitischen Welterklärung nimmt hier der „Kommunismus“ die Rolle des Weltzerstörers ein. Und damit ist nicht Kommunismus in Form realer Forderungen realer Personen gemeint, sondern das Gespenst des Kommunismus, welches hier eher als Werwolf mordend skizziert wird. Deshalb ist es Antikommunismus, wenn Joe fucking Biden als Kommunist verunglimpft wird, wenn man die Proteste gegen Polizeigewalt als anarchistisch beschimpft und wenn „die ANTIFA“ zur Terrorgruppe erklärt werden soll, die an so ziemlich Allem Schuld ist. 
 
In dieser Härte hat man diesen antisemitischen Antikommunismus selten vernommen. Da Trumps Regentschaft stark auf ihn als Person setzt und so gut wie gar nicht auf konkrete Inhalte, fruchtet dies auch und versetzt die Trump-Fans in eine Art ständigen Ausnahmezustand. Überall lauert der Feind, an jeder Ecke will jemand die USA zerstören und was die Linken erst einmal machen, wenn sie an der Macht sind, wird bestimmt in die Fantastillionen Tote gehen.
 
Das Resultat ist eine merklich gesteigerte Gewaltbereitschaft auf Seiten der radikalen Rechten. Nachdem die Demonstration in Charlottesville ein blutiges Ende nahm, als ein Fascho die Antifaschistin Heather Heyer mit seinem Auto tötete und weitere zum Teil schwer verletzte, ist die Zahl der rechten Angriffe stark gestiegen. Bei den diesjährigen Protesten wurde regelmäßig mit dem Auto reingeheizt, Milizen marschierten voll bewaffnet auf und mehrere Personen wurden erschossen.
 
Trump selber bereitet seit einem Jahr akribisch den Fall vor, dass die Wahl an Biden geht. Er streut Falschinformationen über angeblichen Wahlbetrug, insbesondere die Briefwahl sei unsicher. Gleichzeitig versuchen die Republikaner möglichst vielen Menschen das Wahlrecht zu entziehen, die tendeziell für Biden stimmen könnten. Außerdem gibt es Berichte direkter Wahlfälschung, in Kalifornieren haben Republikaner gefälschte Briefwahlboxen aufgestellt, um die Stimmen verschwinden zu lassen.
 
Das Problem ist nun: In jedem Fall wird es im Zuge der Wahl kritisch in Sachen Gewalt. Vermutlich wird es lokal Konflikte geben, an denen bewaffnete Rechte beteiligt sind. Es ist daher wahrscheinlich, dass es weitere Todesopfer geben wird. In den letzten Tagen haben die Angriffe an Intensität gewonnen, Trump selber signalisiert immer wieder Zustimmung. So laufen Milizen vor Wahllokalen auf, an die 100! Fahrzeuge von Trumpfans haben einen Bus der Biden-Kampagne auf einem Highway angegriffen, Trump brachte als Planspiel den Fall der Ermordung Bidens in die Nachrichten und so weiter und so fort. Trump wird in jedem Fall auf Wahlfälschung pochen, Republikaner haben diverse Klagen vorbereitet. Die Phase bis über den nächsten Amtsantritt hinaus wird eine brandgefährliche sein – insbesondere für tatsächlich Linke.
 
Denn auch wenn Trump der Worst Case ist, die Alternative sieht nicht viel besser aus. Biden ist kein Diktator, die Demokraten haben sich aber in den letzten Jahren immer weiter ins Abseits gestellt. Zum einen sind sie merklich konservativer geworden – und das von einer eh schon konservativen Position aus deutscher Perspektive. Einige Republikaner machen inzwischen für Biden Wahlkampf und man bemüht sich vor allem um mögliche Wechselstimmen. Dabei ignoriert man, dass es breite Schichten der Bevölkerung gibt, die nicht wählen und sich nicht repräsentiert sehen. Unter anderem auch deshalb, weil keine der beiden großen Parteien einen ernsthaften Wechsel hin zu einer sozialenren Gesellschaft anstrebtvon Sozialismus wollen wir hier gar nicht erst sprechen. 
 
Biden profiliert sich mit angeblich klimafreundlichen Positionen, wird aber das Fracking in den USA nicht unterbinden. Eine allgemeine Gesundheitsvorsorge lehnt er ebenso ab wie eine umfassende Reform des Polizei- und Justizapparats. Wenn man die Wahl zwischen Gauland und Merz hat, ist Merz natürlich die bessere Wahl. Aber eine immer noch beschissene. Mit der doppelten Verhinderung Sanders‘ (dieses Jahr griff sogar Obama persönlich ein) hat man zudem eine klare Absage an eine inhaltliche Neuorientierung erteilt. Zwar faselt man davon, man müsse Trumps Wiederwahl mit allen Mitteln verhindern, meint damit aber nie eine Änderung vom Wahlprogramm, um mehr und vor allem neue Leute anzusprechen. 
 
Und so stehen die USA vor dem tatsächlichen Abgrund. Während einer Pandemie, die bereits über 200.000 Tote dort gefordert hat, stehen noch unruhigere Wochen bevor, mit einem Trump, dem sprichwötlich alles zuzutrauen ist. Die Wirtschaft liegt am Boden, das Gesundheitswesen steht vor dem Kollaps, die Armut breitet sich rasant aus und keine der beiden großen Parteien hat vor, daran strukturell etwas zu ändern.

Rechte Memetemplates und wie Incelideologie den Zeitgeist kapert

Vor Memes kann man sich heutzutage in den sozialen Netzwerken nicht retten, sie sind ein fester Bestandteil. Teilweise greifen sie auf bestimmte Modeerscheinungen zurück, wie zum Beispiel Sozialcharaktere der Marke „Boomer“, „Karen“ oder auch „alte weiße Männer“. So schnell wie sich einige im kollektiven Gedächtnis verankern, genauso schnell können sie auch wieder verschwinden. Gerade wegen der Vereinfachung und Zuspitzung bestimmter Situationen und Ansichten, die durch die Templates ermöglicht wird, sind Memes so erfolgreich. Sie können keine fundierte Analyse der Verhältnisse ersetzen, sind aber auch ein nicht zu unterschätzender Teil im agitatorischen Werkzeugkoffer geworden.

Seit etlichen Monaten fällt dabei auf, wie sich durch Templates Teile der Incelideologie bis tief in linksradikale Kreise vordringen und dort munter reproduziert werden. Als aktuelles Beispiel dient das Meme mit dem alles sagenden Titel „Soyjak Fans vs. Chad Fans“. Auf was spielt dieses Template also an? „Soyjak Fans“ greift das aus rechtsradikalen Kreisen stammende Zerrbild der sogenannten „Soyboys“ auf. Damit ist nicht nur das als linksgrünversifft gesehene Sojaessen als Symbol für vegane Ernährung gemeint. Eigentlich geht es darum, dass im Soja Östrogene enthalten sind. Wer Soja esse verweibliche dadurch – für Rechte mit ihrem Hang zu Patriarchat und Maskulinismus ein klares Hassobjekt des Spotts. Bier enthält übrigens auch Östrogene, aber an Tatsachen ist man dort ja eher selten interessiert.

„Chad Fans“ spielt auf die „Chads“ an, eine der beiden zentralen Figuren der Incelideologie. „Chads“ werden bestimmte körperliche Eigenschaften zugeschrieben, die sie von Natur aus befähigen würden quasi endloss Frauen abzubekommen und wer diese körperlichen Eigenschaften nicht hat, wird Jungfrau bleiben. Denn wir alle wissen ja, Frauen sehen ein markantes Kinn und schwupps sind sie verliebt und schwanger. It’s magic! Bei Incels dient diese strenge Aufteilung dazu, sich in Foren gegenseitig schlecht und bis hin zum Selbstmord zu reden – oder zum Terroranschlag gegen Frauen, weil diese angeblich nur auf Chads stehen und nicht gewillt sind, die bescheidenen Anforderungen der Incels ohne jegliches Klagen zu erfüllen. Man diskutiert auch darüber, dass der Staat Männern die Frauen zur freien sexuellen Verfügung zuteilen solle, damit nicht nur Chads in Genuss von Sex und schönen Frauen (am besten Jungfrau und mit 30 Jahren Erfahrung im Bett ausgestattet) kämen.

Im Kern dreht sich Incelideologie um eine Form der gesellschaftlichen Hierachie und Ausgrenzung, welche anhand von maskulinistischen Idealen und der Zuschreibung körperlicher Eigenschaften eine Art Coolnessfaktor als alles bestimmendes Ordnungs- und Verteilungsprinzip der Ressourcen Ansehen und Frauen/Sex annimmt. Wer dabei keine Rolle spielt sind Frauen, sie dienen nur als Fick- und Hassobjekt in Personalunion.

Und genau diese Form der Coolness als alles entscheidender Faktor wird in den Memes weitertransportiert. Jedes „Virgin xyz vs Chad xyz“-Meme trägt die Ideologie weiter, es gehe nur um die Coolness. Man müsse bestimmte Eigenschaften erfüllen, um zu den coolen Kids zu gehören, die dann wie in diesen ganzen schlimmen Filmen die Kings der Highschool sind und sich auch genauso verhalten dürfen gegenüber den nicht coolen Kids. Dieses Denken ist die Grundlage dieser Memes und man bekommt es auch nicht dadurch weg, dass man es mit linken Inhalten versucht zu konterkarieren. Die Templates selber funktionieren nur, wenn man Coolness als erstrebenswerten Faktor annimmt. Denn es geht den Memes nicht darum den Inhalt ins Zentrum zu stellen, es geht um eine hierarchische Ordnung der Gesellschaft, bei der die nicht-coolen Leute am unteren Ende der Hackordnung stehen und Ausgrenzung sowie Benachteiligung deren quasi natürliches Schicksal sei. Warum man dies als Linke in jedem Fall ablehnen sollte muss nicht erklärt werden – zusätzlich zur eklatanten Frauenfeindlichkeit.

Geht daran gerade in Zeiten der Coronawirtschaftskrise die Welt zugrunde? Sicher nicht. Gibt es wichtigere Themen? Sicherlich. Diese Seite dient aber auch dazu, persönliche Beobachtungen und Ansichten zu teilen, selbst wenn sie nur eine subjektive Relevanz besitzen. Und bei den hier verhandelten Memes und Templates stößt inzwischen täglich sauer auf, wie sorglos man in linken Kreisen mit Memes umgeht, welche auf den Schwachen und Ausgegrenzten herumhacken und die Pointe auf die Kosten derer machen, die eh im sozialen Gefüge unten stehen. Und es ist schreckend, wie weit sich der Kern der Incelideologie im Zeitgeist verankern konnte.

Welcome to the Thunderdome

Die Zahlen für das erste vollständig in der Coronapandemie liegend inzwischen vor. In Deutschland brach die Wirtschaftsleistung um 10,1 Prozent ein, in den USA um 32,9. In Deutschland wurde jedoch die Insolvenzantragspflicht bis Ende September ausgesetzt, im Herbst wird dann mit Verzögerung die große Konkurswelle hierzulande losgehen – und den Wegbruch ganzer Wertschöpfungsketten weiter verschärfen, die Abwärtsspirale weltweiter Rezessionen im Kapitalismus wird ihren Lauf nehmen. Die Einschätzung bezüglich der weltweiten Lage hat sich in den letzten Monaten nicht geändert: Erneut stehen wir am Beginn einer weltweiten Rezession, welche den Einbruch seit der letzten globalen Krise 2008/9 bei weitem überschreiten wird. Und diese wurde damals als einmalig bezeichnet – dabei erzeugt die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus regelmäßig etwa alle zehn Jahre größere weltweite Wirtschaftskrisen.
 
Die in der kapitalistischen Verwertungslogik angelegten Dominoeffekte werden sich im Laufe dieses Jahres verschärfen und die Entscheidung zwischen Maßnahmen, welche Menschenleben retten, und solchen für die heilige Kuh der Wirtschaftsleistung immer stärker erzwingen. Warum wieso weshalb der Kapitalismus nicht gut mit Problemstellungen wie einer weltweiten Pandemie umgehen kann, wurde in den vergangenen Monaten in unzähligen Texten aufgeschlüsselt, weshalb dies mit einem Hinweis auf unsere Mad Marx-Reihe (insbesondere Teil 2) nicht noch einmal wiederholt werden muss:
 
Teil 1 – Nicht dumm machen lassen und Einführung in den Kapitalismus: https://rambazamba.blackblogs.org/2020/03/27/mad-marx-corona-und-der-vorschein-der-donnerkuppel-teil-1-nicht-dumm-machen-lassen-und-einfuehrung-in-den-kapitalismus/
 
Teil 2 – Der Vorschein der Donnerkuppel – Zu den ökonomischen Zusammenhängen der Corona-Krise und der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden: https://rambazamba.blackblogs.org/2020/03/29/mad-marx-teil-2-der-vorschein-der-donnerkuppel-zu-den-oekonomischen-zusammenhaengen-der-corona-krise-und-der-notwendigkeit-den-kapitalismus-zu-ueberwinden/
 
Teil 3 – Befreite Gesellschaft oder Donnerkuppel – Handlungsperspektiven der Linken: https://rambazamba.blackblogs.org/2020/04/09/mad-marx-teil-3-befreite-gesellschaft-oder-donnerkuppel-handlungsperspektiven-der-linken/
 
Wer ein halbwegs gutes Verständnis vom Kapitalismus und dessen Wirkungsweise hat, wird von der Entwicklung der letzten Monate nicht überrascht sein. Und auch die kommenden Ereignisse sind ohne großes Hexenwerk in ihren Grundzügen vorrauszusagen. Je mehr die Wirtschaft in den Keller rauscht, je mehr die eklatanten Systemfehler des Kapitalismus zutage treten, desto mehr werden die Lasten der Krise auf die sozioökonomisch eh schon Benachteiligten abgeladen. Man kann in den USA sehen, wozu eine völlig unzureichende Strategie führt: über 150.000 Tote und ein noch nie dagewesener Zusamenbruch der Wirtschaft.
 
Doch man muss ja gar nicht erst in die USA schauen, um die Probleme im Umgang mit der Pandemie deutlich zu sehen. Bereits jetzt gab es diverse Vorfälle in Deutschland, welche zumindest indirekt der Krise der Verwertungslogik zuzurechnen sind. In den Zeiten der Pandemie zeigen sich zwei Dinge ganz deutlich: Welches gesellschaftliche Ziel hat man auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene und wie flexibel kann man auf systembedrohende Krisen reagieren.
 
Welches das gesamtgesellschaftliche Ziel ist, dürfte klar sein und spätestens im Laufe der kommenden Monate allen klar gemacht werden. Die geheiligte Wirtschaft stellt das absolute Primat dar, letztendlich werden alle anderen Aspekte des gesellschaftlichen Leben immer gegen die Ermöglichung der Wertschöpfung abgewogen. Und mit „Wertschöpfung“ erfasst man den Kern exakt: Es geht um das Schaffen von Werten, also von Geld. Darauf ist der gesamte gesellschaftliche Überbau ausgelegt, der private Mensch mit seinen Wünschen und Neigungen ist zweitrangig. Entsprechend fallen auch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung aus. Sie sollen vor allem das weitere Funktionieren der Verwertungslogik ermöglichen.
 
In einer systematisch ungleichen Gesellschaft treffen die Maßnahmen und Auswirkungen dann in der Summe wieder die am meisten, die eh schon am stärksten benachteiligt und diskrminiert sind. Anstatt als Gesellschaft darauf hinzuarbeiten, dass man möglichst allen eine möglichst angenehme Pandemiezeit (und generell ein möglichst angenehmes Leben mit möglichst viel Müßiggang) zu ermöglichen, erlässt der Staat Maßnahmen, die dann die zusätzlich zu den Ausbeutungsverhältnissen im Kapitalismus das Leben erschweren. Das Versprechen ist: Wenn du dich brav an alle Vorschriften hältst und dein Privatleben weitestgehend runterfährst, kannst du auf Arbeit weiter die Kohle für die Aktionäre oder den Vorstand reinholen, während der Großteil deiner Kohle für Miete draufgeht.
 
Aber so sollte es nicht sein. Eigentlich müsste der Deal lauten: Wir halten uns alle an die erforderlichen Maßnahmen und schauen, wie wir gemeinsam möglichst viel soziales und kulturelles Leben unter dem Primat der Pandemiebekämpfung ermöglichen. Denn hier kommen wir auf die Frage der Flexibilität zu sprechen. Wie schaffen es Gesellschaften sich auf eine Situation wie Corona einzustellen und worauf fokussieren sie sich dabei? Die Antwort ist keine Überraschung und sie stellte sich in der Realität auch gar nicht. Es geht um das Erhalten des Status Quo und den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf der einzelnen Länder, wirtschaftlich möglichst gut dazustehen – also um eine möglichst gute kapitalistische Warenproduktion.
 
Um das gute Leben für alle ging es vorher nicht und darum geht es folgerichtig auch nicht in der Coronakrise. Wer nur wirtschaftliches Wachstum als oberste Maxime kennt, hat keinerlei Verständnis für das, was eine Gesellschaft an sozialem und kulturellem Reichtum im Stande ist zu ermöglichen, würde man die Ressourcen einmal von der Gewinnmaximierung auf eine möglichst paritätische Wohlstands- und Lebensqualitätssteigerung umleiten – weltweit versteht sich. Stattdessen werden soziale und kulturelle Optionen zur Zeit ersatzlos gestrichen und ganzen Bevölkerungsschichten die Gestaltungsmöglichkeiten der wenigen Zeit neben der Lohnknechtung zum Teil bis fast ganz genommen. Wenn man dann eh zu den Abgehängten gehört, wird das die eigene Zufriedenheit kaum steigern.
 
„A riot is the language of the unheard“ sagte Martin Luther King und Ähnliches lässt sich auch hier beobachten. Ob es nun ausufernde Coronapartys sind, weil man den Leuten nur Gestaltungsoptionen streicht und ansonsten weiter der Kapitalverwertung zum Fraß vorwirft, oder ob es Jugendliche sind, welche mit in der Summe rassistischen und sozialchauvinistischen Motiven von der Polizei gegängelt werden und dann auch mal zurückschlagen – all dies ließe sich in im größeren Stil vermeiden. Man müsste eben die Mehrung des sozialen und kulturellen Reichtums als oberstes gesellschaftliches Ziel ausrufen und sich um die Menschen kümmern, nicht um die Unternehmen und das Wirtschaftswachstum, welches so ganz nebenbei das Klima killt. Aber das wäre dann ja kein Kapitalismus mehr und eine Sache bleibt gewiss: Egal wie stark Krise des Systems, das System wird nicht in Frage gestellt. Und wenn dafür Menschen draufgehen.

Analyse zur Flugzeitschrift „Demokratischer Widerstand“ der Corona-Proteste

Am 16. Mai 2020 wurde bei den Protesten gegen die vermeintliche Coronadiktatur eine neue Flugzeitschrift verteilt. Diese wird von „Demokratischer Widerstand“ herausgegeben und ist bereits Nummer 5. Diese Gruppe war bereits beim allerersten Protesten am Rosa-Luxemburg-Platz präsent und hat zur Teilnahme aufgerufen. Nach eigenen Angaben hat man jetzt diese 16-seitige Zeitung in einer Auflage von 500.000 (einer halben Million) drucken lassen. Die Zeitung erscheint seit dem 17. April grob im Wochenabstand und ist nach eigener Aussage mit einer Auflage von 100.000 gestartet. Woher das Geld dafür stammt, ist nicht ersichtlich. Hinter der Gruppe „Demokratischer Widerstand“ steckt federführend Anselm Lenz, welcher auch als erster Name auf dem Titelblatt genannt wird und den ersten Text beisteuert. Lenz hat eine illustre Karriere hinter sich und unter anderem für die taz und Die Welt geschrieben. Länger hat auch für die Junge Welt gearbeitet, dort ein Jahr als Redakteur im Inlandsressort. Der letzte Artikel für die taz ist vom 12.3.2020. Eine gute Darstellung seiner Vita ist diesem taz-Artikel zu entnehmen, die freie Tätigkeit dürfte beendet sein: https://taz.de/Selbstvermarkter-Anselm-Lenz/!5681197/ Interessanterweise hat Lenz noch in einem am 09.07.2017 veröffentlichten Interview mit Thilo Jung Aussagen getroffen, die eine verschwörungsfreie Analyse des Kapitalismus liefern und einen Text von Walter Benjamin empfohlen.
 
Die Zeitung selber wartet mit den üblichen Topoi auf, die man von den Schwurbeldemos heutzutage kennt. Lenz schreibt in seinem kurzen Einleitungstext:
 
„Es begann damit, dass Menschen wie du und ich Grundgesetze verteilen wollten. Unseren liberalen und überparteilichen Verfassungstext.
 
Seither schreibt ein fanatisiertes Kartell aus Regierungsfunktionären, Medien- und Konzernjunta eine Bedrohung von rechts- und linksaußen herbei. Die abstürzenden Machthaber deren Speichellecker fühlen sich in ihrem Burgfrieden, weil wir, die Leute, etwas wollen.“
 
Damit ist dann auch der Einstand in die weiteren Inhalte der Zeitung geliefert. Man zieht den wissenschaftlichen Forschungsstand in Zweifel, stellt Forderungen an Bill Gates, stellt sich als liberal und freiheitsliebend dar, schimpft über das diktatorische Regime, will die Leitmedien kontrollieren, ein Krisenmacher vor ein Corona-Tribunal stellen, was gegen die Machtgeilen unternehmen und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Insgesamt stellt sich das Machwerk als unausgegorenes Zusammenwürfeln jeder Menge regressiver Bauchgefühle von Personen dar, die kaum in der Lage sind, dass politische Geschehen adäquat zu analysieren und zu beschreiben. So wird zum Beispiel mit den Todeszahlen in Deutschland argumentiert, die keine Auffälligkeit im Vergleich zu den Vorjahren aufweist. Dies ist auch richtig, allerdings ist die Sterblichkeit in den stark betroffenen Regionen Frankreichs, Italiens, Spaniens und in den USA weit höher als sonst. Der State of New York hat jetzt bereits eine höhere Todesquote auf die Gesamtbevölkerung als durch die saisonale Grippe.
 
Das Wahngebilde der gesteuerten und kontrollierten Mehrheit zieht sich durch das ganze Blatt. In einem Artikel wird jetzt schon eine mögliche zweite Corona-Welle als Fake bezeichnet. Immer wieder wird den Medien unterstellt, massiv gesteuert zu werden und bewusst Falschnachrichten im Sinne der Politik zu verbreiten, um damit der Bevölkerung gegenüber die Maßnahmen zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite schreibt man sich selber auf die Fahnen: „In der Zwischenzeit spielt die undemokratische Regierung mit der Zwangsimpfung. Der Widerstand konnte dies abwenden.“ Auch gegen die Pharmaindustrie wird geschossen und in einem längeren Artikel werden unterschiedliche Menschenexperimente aus den letzten über 100 Jahren zusammengewürfelt und letztendlich das Bild von Big Pharma an die Wand geworfen und mit Bill Gates in Verbindung gesetzt. An diesen und seine Frau werden in Form der Stiftung dann auch Forderungen gestellt, die sich in das übliche Gewäsch aus verdummter Gesellschaftskritik und Begriffsumdeutungen einfügen.
 
Ebenso wird ein längerer Artikel dem Banken- und Zinssystem gewidmet und dieses grundlegend kritisiert. Dabei wird vor allem auf Zinsen und die Blasenökonomie eingegangen und das ist auch nicht alles grundfalsch. Im Zusammenhang mit dem Zielen auf die Pharmaindustrie, die USA, das Medien- und Konzernkartell und die Regierungsdiktatur Merkel skizziert man hier aber eine Version der durch die „Protokolle der Weisen von Zion“ popularisierten Version der (letztendlich jüdischen) Weltverschwörung. Abgerundet wird das Blatt durch Demoberichte aus dem Land und einem Leak aus dem Bundesinnenministerium. Auf dem rechten Portal Rubikon findet sich ein Papier, welches von einem Beamten des Bundesinnenministeriums erstellt worden sei und geleaked wurde. Dieses Papier dient als Kronzeugenpapier, da alle Maßnahmen als vollkommen überzogen und die Gefahr von Corona als maßlos übertrieben dargestellt werden. Die Existenz eines solchen Papiers ist nicht unwahrscheinlich, da es dutzende Papiere zu einer Situation wie Corona innerhalb der Ministerien und Behörden gibt.
 
Im Gesamteindruck hinterlässt diese Zeitung den zu erwartenden Eindruck. Die bekannten Thematiken der Coronaproteste werden mit teilweise lachhafter Argumentation und Schreibe aufbereitet. Dabei liegt nicht der Extremfall vor, wie ihn ein Attila Hildmann darstellt. Vielmehr liest es sich wie eine Version von Ken Jebsen auf Valium und folgt auch genau dessen Linie und Herleitungen. Aus antifaschistischer Sicht sollte man sich möglichst vieler dieser Zeitungen habhaft werden und sie möglichst schnell dem Altpapierkreislauf zuführen.

Warnung vor Lisa Daimagüler/Lilly Zeppenfelder

Vor einem Monat haben wir am 1. Mai eine Recherche mit Warnung zu Lisa Daimagüler alias Lilly Zeppenfelder veröffentlicht. Aufgrund besonderer Umstände wurde beschlossen, diese Recherche einen Monat zurückzuhalten. Die glaubhaft dargelegte Situation erzwang ein Abwägen zwischen partiellem Opferschutz auf der einen Seite und der Warnung vor ihr auf der anderen Seite. Ein Monat erscheint uns als angemessene Karenzzeit, um sich mit den besonderen Umständen arrangiert zu haben, weshalb der erweiterte Artikel einen Monat später wieder öffentlich zugänglich ist.

Im Zuge der Erstveröffentlichung wurden wir als Seite von einigen Personen angeschrieben, es gab Solidaritätsposts mit Lisa (welche sich zum Teil auf die besonderen Umstände bezogen, zum Teil auf unsere Warnung) und es gab vor allem Voicemails von Daimagüler selber. Sie hat an diesem Abend offenkundig vielen Personen entsprechende Nachrichten geschickt, uns sind mindestens vier Fälle geläufig und wir haben zehn Voicemails vorliegen und abgespeichert. In der Zwischenzeit ist unabhängig von uns ein weiterer Rechercheartikel veröffentlicht worden. Die Informationen darin sind zum Teil ungenau, das angegebene Instagram-Profil ist nicht ihres. Dennoch stützt dieser Artikel diese Recherche hier und es finden sich weitere Voicemails von Daimagüler am Ende des Artikels. Exakt solche Voicemails haben auch wir vorliegen.


Die aus zahlreichen Facebook-Shitposts und Instagram-Auftritten bekannte Lisa Daimagüler/Lilly Zeppenfelder zeigte sich bereits in der Vergangenheit auf Instagram mit Mitgliedern der Identitären Bewegung. Was bisher von ihr öffebtlich als Scherz abgetan wurde, scheint jedoch eine notorische Angewohnheit von Daimagüler zu sein. Während sie bereits mehrfach beteuerte
, zu Neonazis nur Kontakt zu haben um ihnen Informationen zu entlocken bzw. sich über sie lustig zu machen, scheint ihre Nähe zu Rechtsradikalen einen neuen Höhepunkt erreicht zu haben. Auf den Vorwurf des Umgangs mit einem deutschlandweit bekannten Neonazi reagiert Daimagüler auf Facebook mit „Das war nur Spaß, hatte den mit meinen Freunden dumm angemacht und dann ein Foto gemacht h“ (sic Lisa Daimagüler auf ihrem Facebook-Account, 29.4.20 20:09). Drei Dinge erscheinen bei dieser Geschichte von Daimagüler eigenartig.

Zunächst einmal, dass der Neonazi Baldur Landogart, ehem. Mitglied des Bundesvorstandes der NPD,  nicht nur irgendein namenloser Neonazi ist den man dumm anmacht, sondern dass Daimagüler bei so einer Aktion durchaus den Namen genannt hätte. Als Nazi ist Landogart auch nicht zu erkennen auf dem Foto, er trägt keine erkennbare Nazikleidung. Desweiteren wirkt das Foto keineswegs so, als habe sie mit ihren Freund*innen Landogart „dumm angemacht“ hätte. Als Letztes fällt auf, dass es Landogart selbst war, der das Selfie aufgenommen hat. Außerdem gibt sie in den Voicemails des oben verlinkten Blogs an, ganze drei Stunden mit Landogart telefoniert zu haben. 

 

 

Besonders merkwürdig wirkt es in Anbetracht dessen, dass Daimagüler von 2015 bis Dezember 2018 eine Beziehung mit dem bekannten Siegener Neonazi Sascha Maurer (NPD, Gründungsmitglied der Freien Nationalisten Siegerland, später AfD) führte. In ihren Voicemails hat sie diese Beziehung bestätigt und berichtet unter anderem von einer NSDAP-Fahne in Maurers Zimmer. Interessanterweise gibt es einen FB-Post von Daimagüler datiert auf den 23. Juni 2018, in dem sie sich öffentlich darüber echauffiert, wegen ihrer rechten Kontakte keinen Einlass in eine Lokalität bekommen zu haben. In diesem Post streitet sie diese Kontakte ab – war aber zu diesem Zeitpunkt mit einem ehemaligen NPD-Kameradschafter zusammen, der eine NSDAP-Fahne im Zimmer zu hängen hatte. Diese Form des öffentlichen Lügens, der Falschdarstellungen und Verdrehungen ist typisch für ihr Gebahren.

Auf einem Facebookprofil kommentierte sie zum Beispiel am 20.3. ein Foto, welches zwei Sticker auf einer Parkbank zeigt: Ein Sticker feiert Salvini, der andere hat den Slogan: „Ein Armlänge Abstand ist nicht genug“. Daimagüler postete ihrerseits ein Foto mit Stickern der zweite Variante und taggte dazu mit den Worten „Haha, Anna ist wohl erfolgreich.“ die mutmaßliche Erstellerin. Die dazugehörige Seite (www.heimatkollektiv.net) fährt die inzwischen wohlbekannte Schiene der Identitären Bewegung in Sprache und Argumentation. Die getaggte Person, Anna Amanadia, ist auf einem Foto mit einem Beutel der Identitären Bewegung zu sehen. Bei ihr handelt es sich um Reinhild Boßdorf.

Boßdorf ist Teil des Boßdorf-Clans. Infos dazu findet man unter in diesem Indy-Artikel vom 10. Mai 2020. Ihr Vater war im Thule-Seminar aktiv, ihre Mutter Irmhild arbeitet für einen AfD-Abgeordneten und Reinhild plus Schwester waren bei den faschistischen Identitären aktiv. Reinhild hat diese letztes Jahr verlassen und macht nun mit ähnlichen Inhalten unabhängig von der IB faschistischen Aktivismus. Laut Aussage Daimagülers hat man sich auf einer Burschenschaftsparty getroffen und sei nicht weiter miteinander bekannt. Es reicht aber offensichtlich dafür aus, dass Daimagüler das Profilbild von Boßdorf liked und Sticker von ihrem Post-IB-Projekt rumzuliegen hat, welche dann stolz unter einem Pro-Salvini-Post gezeigt werden. Hier ist dann wieder das typische Muster des Tatsachen verharmlosen und offenen Lügens zu beobachten. Daimagüler ist offenkundig gut in die aktuelle rechte Szene vernetzt und pflegt einen freundschaftlichen Umgang.

 
Ob überzeugte Faschistin oder nicht, dass die Nähe zwischen Daimagüler und organisierten Rechtsradikalen sehr groß ist, ist offensichtlich. Jede antifaschistisch gesinnte Person sollte sich die Frage stellen, ob sie mit jemanden Umgang haben will, der ganz offensichtlich nicht in der Lage ist, die nötige Distanz zu Anhänger*innen von menschenfeindlichen Ideologien einzugehen. Ihr Onlineumfeld, in dem sich von Achse des Guten-Autoren bis hin zu Personen, die für die Jungle World schreiben, herumtreiben, ist eh schon eine an sich kritische Querfrontmelange. Aufgrund der belegbaren jahrelangen Kontakte intimer und freundschaftlicher Natur mit Rechtsradikalen und den belegbaren Lügen Daimagülers darüber sollte jeder Kontakt abgebrochen werden, wenn man sich antifaschistisch positioniert und einen Funken Konsequenz daraus für den eigenen Umgang ziehen möchte. Außerdem sollten alle Lokalitäten, die sich einem antifachistischem Grundverständnis verpflichtet fühlen, ein Lokaverbot durchsetzen. Hier muss auch an den Schutz Dritter gedacht werden, zumal sie nachweislich wildfremden Personen und Gruppen in vielen Voicemails ihre halbe Lebensgeschichte mit relevanten Details ausbreitet.Die von uns genannten Infos stammen nicht von einem Mann, der die Intention verfolgt haben soll, Lisa zu schaden. Lisa selbst hat mehrere Menschen Voicemails versendet, indem sie die im Text genannten Inhalte einräumt und erläutert. Darüber hinaus wollten wir uns explizit von einem möglichen misogynen Hintergrund abgrenzen, weshalb wir den Post vor vier Wochen gelöscht und neu aufgesetzt haben. Wir verurteilen sowas zutiefst und haben mit solchen Personen nichts zu tun.

Gegen den Tag der Arbeit

Der 1. Mai steht wieder an. Im Gegensatz zu den vorherigen Jahren läuft er 2020 anders ab, die übliche Folklore zwischen Riotselbstbespaßung und dem Schwur auf die Produktivkraft des Proletariats fällt coronabedingt weitestgehend aus. Gut so. Allein schon der Name sollte einem nur mit Graus über die Lippen gehen: „Tag der Arbeit“. Was soll das überhaupt sein? Warum braucht man einen Tag, der die Arbeit feiert? Wer einer Lohnarbeit nachgeht, hat in der Regel vier, fünf oder sechs Mal in der Woche „Tag der Arbeit“. Und zu feiern gibt es daran wenig. Wer hat denn Spaß daran, acht Stunden auf einen Bildschirm zu gucken, Gäste zu bedienen, Wohnungen zu putzen oder Bedienungsanleitungen und Programm-Dokumentationen zu übersetzen? Vielmehr ist es doch die Arbeit, die uns von dem abhält, was wir wirklich machen wollen. Es ist die Arbeit, die unsere Selbstentfaltung behindert, die uns am Leben hindert.

Die Arbeit taktet unser Leben, alles ist auf sie zugeschnitten. Die großen Entscheidungen im Leben sind oft eine zwischen diesem und jenem auf der einen und der Arbeit auf der anderen Seite. Alles muss mit der Arbeit abgestimmt werden: Familie, Freundeskreis, kulturelles Leben, Sport, Hobbys, Reisen, Entspannung und so weiter. Alles muss sich dem Diktat der Arbeit unterwerfen. Und sei es dadurch, dass ein sich Teilzeit schimpfendes Arbeitspensum die finanziellen Möglichkeiten stark einschränkt und somit weniger Optionen zur Gestaltung der restlichen Zeit offen stehen. Diesem Zwangskorsett können nur Wenige entfliehen, der Großteil verweilt in einem Gefängnis abstrakter Herrschaft, quält sich einem ständig wiederholendem und reproduzierendem Trott. Das Leben richtet sich nach den Bedürfnissen der Arbeit, nicht die Arbeit nach den Bedürfnissen des Lebens. Im Kapitalismus brauchen wir Geld für unsere Lebensqualität. Gleichzeitig ist der Gelderwerb oftmals das genaue Gegenteil eines schönen Lebens. Ein Unding eigentlich.

Trotzdem ziehen jedes Jahr Zehntausende auf die Straßen und feiern dieses Mühsal. Es ist eine Absurdität sondergleichen. Diejenigen, die unter der Knechtschaft des Kapitals in Abhängigkeit gehalten und deren Mehrwert zur Profitmaximierung geraubt wird, feiern eben dieses Verhältnis. Jahrein, jahraus, Gefangene der Lohnarbeit mit Stockholmsyndrom, die ihrem Ausbeutungsverhältnis gar noch einen Tag widmen. Allen voran die Gewerkschaften sind Zeugnis der vollständigen Verelendung der Werktätigen und abhängig Beschäftigten. Seit Gründung der ersten sozialistischen Parteien befinden sie sich in einer steten Abwärtsbewegung aus Integration ins System und damit einhergehender Entradikalisierung. Ging man früher gegen den Kapitalismus auf die Straße, besetzte Fabriken, organisierte Generalstreiks und legte notfalls das Land lahm, ist man heute zum Bittsteller verkommen, den man mit ein paar Prozenten hier und da abspeisen kann. Ein Ende der Arbeit steht gar nicht erst zur Debatte, vom Sozialismus will man in den oberen Funktionärsebenen nichts wissen. Ganz folgsam reiht man sich in die bürgerliche Gesellschaft ein und will gute Arbeit für gutes Geld. Das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft ist seit Jahrzehnten oberste Maxime, man ist staatstragend und fügt sich bereitwillig in die Rolle ein.

In diesem Sinne sind die Gewerkschaften gar zu Feindinnen der Selbstentfaltung geworden. Mit großen Worten gewichtig daher salbadernd wird der Wert der Arbeit an sich beschworen. Es soll ein guter Lohn daher für gute, ehrliche Arbeit. Den der Lohnarbeit zugrunde liegenden Abscheulichkeiten und Ausbeutungen will man nicht entfliehen. Vielmehr fordert man Arbeit für alle, um folgerichtig mit der fast täglichen Lohnschufterei Menschen von der Selbstentfaltung fernzuhalten. Verwunderlich ist dies nicht, vertreten die Gewerkschaften heutzutage doch vorrangig die Interessen der Ausgebeuteten im Kapitalismus, nicht gegen den Kapitalismus. Man will das Mühsal und die Plackerei gar nicht so weit es geht reduzieren. Statt auf Gegnerschaft zu den Verhältnissen zu setzen, kumpeln dich die Gewerkschaften als Good Cop an, während die Arbeitgeber*innen den Bad Cop spielen. Aber im Endeffekt wollen sie beide das Gleiche: Reihe auch du dich in kapitalistische Verwertungslogik ein! Tritt dein Hamsterrad und freue dich dabei!

Aber warum? Warum soll man sich im 2020 noch so lange schinden, um sich für ein wenig Lohn die Illusion zu kaufen, man lebe im besten aller möglichen Systeme? Und warum sollte man der Lüge anheim fallen, die Arbeit, die man mache, sei tatsächlich notwendig und man könne die Welt nicht anders einrichten als jetzt. Und warum verdammt noch mal soll man der Hackelei noch einen eigenen Tag widmen?

Historisch korrekter wäre es, wenn man statt vom „Tag der Arbeit“ vom „Arbeitskampftag“ oder vom „Tag des Arbeitskampfes“ sprechen würde. Allein schon der Verzicht auf diese Distinktion zeugt vom Kniefall der Gewerkschaften vor den Verhältnissen. Man will ja nicht einmal mehr den Arbeitskampf würdigen. Die Ursprünge des 1. Mai liegen im Jahr 1856: In Australien wurden für diesen Tag Massenproteste organisiert, auf denen unter anderem der 8-Stunden-Tag gefordert wurde. In Anlehnung daran wurde im Jahr 1886 in den USA für den 1. Mai zum Generalstreik aufgerufen. Die Proteste wurden teilweise von der Polizei niedergeschossen, wegen eines Bombenwurfs in Chicago wurden acht Anarchisten verurteilt, sieben davon zum Tode. Beweise für eine Tatbeteiligung gab es keine, drei von ihnen wurden später begnadigt. Um die 20 Personen wurden direkt nach dem Bombenwurf von der Polizei erschossen, über 200 verletzt. Diese Proteste wurden als Haymarket Riot weltbekannt und letztendlich proklamierte die 2. Internationale bei ihrer Gründung im Jahr 1869 den 1. Mai 1890 als Kampftag zur Erinnerung an die verurteilten und gefallenen Genossen. Seither ist der 1. Mai ein international fest verankerter Tag. Und es ist eben kein Tag, der die Arbeit feiern soll, sondern ein Tag des Kampfes gegen die Ausbeutung. Heutzutage die Arbeit zu feiern pisst förmlich auf die Gräber derer, die damals gestorben sind.

Ein Arbeitskampf im Sinne einer tatsächlichen historischen Kontinuität muss drei Dinge begreifen und umsetzen:

1. Es gibt keinen Kompromiss zwischen Kapital und Angestellten, der das System stürzen kann. Es kann immer nur gegen die Wirtschaft und gegen den Staat gehen.

2. Die Wahl der Mittel muss radikal sein. Die Stärke der organisierten Lohnabhängigen besteht in der Anzahl der organisierten Personen und dem Willen diese Anzahl konsequent einzusetzen.

3. Als letztendliches Ziel des Arbeitskampfes muss die Überwindung der Lohnarbeit und des Kapitalismus stehen. Ist dies nicht der Fall, gliedert man sich in die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse ein und nimmt dem Mittel des Arbeitskampfes ein äußerst gewichtiges Moment: Man will gar nicht mehr radikal sein, also sinkt auch die Furcht vor einem Arbeitskampf auf gegnerischen Seite.

In einem zweiten, ausführlicherem Text wird näher darauf eingegangen werden, was denn der Arbeitskampf jetzt genau beinhalten solle und was es mit dieser Arbeit eigentlich so auf sich hat. Welche Zielsetzung ist sinnvoll und welche Gefahren bestehen aktuell? Und wie kann sich das Krisenmoment in den nächsten Jahren auf die gesellschaftliche Ausprägung der Arbeit insgesamt und der Lohnarbeit im Speziellen auswirken? Denn es darf nicht nur gegen den „Tag der Arbeit“ gehen, es muss auch gegen die Arbeit an sich gehen.

Q-Anon und das geschlossene Weltbild

Aktuell macht der Q-Anon-Wahn auch in Deutschland ziemlich Welle. Unter anderem durch Xavier Naidoo vertreten erfreut sich dieser Mythos einer immer größeren Beliebtheit, der zumindest anekdotischen Erfahrungsberichten nach mehr Leute erreicht als man annehmen könnte. Auch vorher unauffällige Personen teilen Q-Inhalte im Familien- oder Arbeitschat. Eine gute Gelegenheit also, um sich ein wenig mit Verschwörungswahn als Welterklärung zu beschäftigen.

Was ist Q-Anon eigentlich?

Dazu muss ein wenig in die Welt der US-amerikanischen Wahnvorstellungen eintauchen, genauer gesagt in die Welt des sogenannten „Pizzagate“. Pizzagate behauptet, es gäbe einen Pizzaladen in Washington DC, der als Ladenfront für einen Pädophilenring für die Reichen und Mächtigen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten dienen soll. Mit den Pizzabestellungen würden in Wahrheit nur Codes durchgegeben, die dann entsprechend Kinderblut oder Babys sein sollen. Es hängen natürlich alle mit drin, die man so aufzählen kann: Soros, die Obamas, Bill Gates, die Clintons und so weiter und so fort. Dieses Märchen erlangte einige Popularität und wurde aufgrund der völligen Absurdität vergleichsweise bekannt. Q-Anon hat Pizzagate jetzt abgelöst. Wobei abgelöst ist das falsche Wort, da Pizzagate ein Teil von Q-Anon ist.

Im Zentrum von Q-Anon steht eine unbekannte Person namens Q, die „die Wahrheit“ über die Verschwörung verbreiten würde. In den USA richtet sich diese wie bei Pizzagate vor allem gegen das liberale und demokratische Establishment mit all den üblichen antisemitischen Ausläufern, die solche Wahnideen dann gerne annehmen. Der eh in seinen Ausprägungen bizarre Personenkult um Donald Trump hat dann dazugeführt, diese Verschwörung als gegen Trump als Person gerichtet zu sehen, teilweise soll Trump sogar Q selber sein. Ab 2018 gab es deshalb immer wieder Schilder mit dem Buchstaben „Q“ auf öffentlichen Veranstaltungen von Trump zu sehen. Sein bonarpartistischer, volkstribunenartiger Stil, bei dem er ständig gegen die Eliten wettert, zu denen er selbst ganz besonders zählt, bietet sich an, um Trump als Heiland zu identifizieren.

In Deutschland nimmt dieser Wahn nun noch einmal eine ganz besondere Form an. Zuletzt wurde Q-Anon insbesondere im Zuge des finalen Outings von Xavier Naidoo stark in die Öffentlichkeit gerückt. Was man seit über zehn Jahren wissen konnte, wenn man denn nur wollte, hat Naidoo jetzt in Gänze selber bestätigt. Mehr oder weniger munter (wenn er nicht gerade vor der Kamera in Tränen ausbricht) berichtet er die neuesten Neuigkeiten aus Schwurbelhausen. Ob durch sein öffentliches Einstehen jetzt einfach mehr Leute den gleichen Schritt vollziehen und mit ihrem verschwörungsmythologischen Denken an die Öffentlichkeit treten, oder ob gerade tatsächlich mehr Leute diesem absurden Wahn verfallen, lässt sich schwer sagen und müsste in Einzelgesprächen mit den Betroffenen ermittelt werden.

Die Meta-Wahnidee

Da man den regionalen Bezug zu den USA nicht hat, baut man Q-Anon zur weltweiten Verschwörung aller Eliten gegen die Schlafschafe aus. Dies geschieht auch in den USA selber, man tauscht sich ja eh weltweit aus. Dennoch gibt es regionale Besonderheiten durch unterschiedliche Sozialisation und Differenzen im kollektiven (Schwurbel-)Gedächtnis. Einen Axel Stoll, Gottvater des Wahns, wird außerhalb des deutschsprachigen Raums kaum bekannt sein. Ebenso sind Reichsbürger*innen ein recht spezifisches Phänomen hierzulande. Welche Verzweigungen Q-Anon in Zukunft nehmen wird, ist noch unklar. Sicher ist aber, dass Q-Anon auch eine Form des Eskapismus darstellt. Man kann sich in Echtzeit in einer Form globalen Live-Krimis die Zeit vertreiben und sich die Geschichte selbst erarbeiten. Es ist spannend, mitreißend, emotional und beschäftigt gut. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt davon, dass man sich die Welt erklärt.

Aber es bietet sich an, in einer Zeit wie der aktuellen mit der Corona-Krise die perfekte Erklärung für alles zu liefern. Q-Anon fungiert momentan als Meta-Wahnidee, welche in der Lage ist, so gut wie alle anderen einzubauen. Damit liefert Q-Anon die Blaupause schlechthin für ein geschlossenes Weltbild, mit dem alles erklären kann. Aber wie funktioniert eigentlich so ein geschlossenes Weltbild? Zusammenfassen kann man es mit Pippi Langstrumpf:

Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt

Wir alle sehen unsere Umgebung durch unsere subjektive Perspektive. Wie wir Ereignisse, Gegenstände und Beobachtungen einordnen, bestimmt auch welche Schlüsse wir aus ihnen ziehen und wie wir handeln. Um uns das Leben zu vereinfachen und nicht jede einzelne Beobachtung jedes Mal aufs Neue analysieren zu müssen, bilden wir ein Weltanschauung heraus. Mit ihr ordnen wir in bestimmte Kategorien ein und können mögliche größere Sinnzusammenhänge erkennen und verstehen.

Unterschiedliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Theorien sind zumindest in Teilen solche Weltanschauungen. Alle haben sie ihre spezifischen Herangehensweisen, interpretieren und verstehen Zusammenhänge anders. Manchmal nur in Nuancen, manchmal mit einem Unterschied ums Ganze. Oftmals stoßen Weltanschauungen aber an ihre Grenzen. Es ist unmöglich, alle Ereignisse und alle Handlungen vollständig mit einem einzigen theoretischen Ansatz zu erklären, oftmals liefert die Realität Widersprüche in sich selbst und zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Theorien.

Das Begreiflichmachen des nicht vollständig Begreifbaren

An solchen Stellen entscheidet sich dann, ob man in die Richtung eines notwendig falschen Bewusstseins, einer ideologischen Zurichtung geht, oder ob man das eigene Weltbild modifiziert und der Realität anpasst. Was ist ein notwendig falsches Bewusstsein? Die Formulierung geht auf Marx zurück, der von einem „falschen Bewusstsein“ sprach, und wurde von Georg Lukács weiterentwickelte. Um sich selber Dinge in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen und sich die Welt zu erklären, bildet man eine eigene Weltanschauung aus. Diese beinhaltet auch eine Erklärung von Widersprüchen, welche man sich selber verständlich macht. Beeinflusst wird man dadurch maßgeblich durch das private und das gesellschaftliche Umfeld. Man ist sich bestimmter Widersprüche möglicherweise theoretisch bewusst, übergeht sie aber einfach oder liest sie anders. Ziel ist dabei, die Grundprämissen des eigenen Weltbildes nicht korrigieren zu müssen. Diesen Vorgang nennt man auch Rationalisieren, weil man sich unlogische Dinge selber rational verklärt.

Zu einem gewissen Grad machen wir das alle, insbesondere im Kleinen. Niemand ist frei davon, sich das Dasein in dieser Gesellschaft dadurch ein wenig zu einfacher zu gestalten und sich nicht den ganzen Tag an allen Widersprüchen den Kopf zu zerbrechen. Ab einem gewissen Grad fängt es aber an problematisch zu werden. Irgendwann wird der Widerspruch zu groß. Von einem geschlossenen Weltbild spricht man dann, wenn man die Realität immer weiter der Erklärung anpasst und die Ereignisse dieser Welt immer verzerrter wahrnimmt.

Das offensichtliche Beispiel sind hier Personen, die Verschwörungsmythen anhängen. Wenn die Juden die Welt im geheimen kontrollieren, kann das mit dem Holocaust ja gar nicht stimmen und der wurde nur als perfider Trick erfunden, um die Menschen noch weiter zu knechten und im Griff zu haben! Alle Beweise des Gegenteils werden dann als Teil des Verschwörungsmythos in diesen integriert und somit für die betreffende Person rationalisiert. Man macht sich die Welt dann so, dass sie zur eigenen Weltanschauung passt. Ab einem gewissen Punkt ist dieser Rationalisierungsprozess so weit fortgeschritten, dass die Person nicht mehr für rationale Argumente und logische Herleitungen erreichbar ist. Das Weltbild ist dann in sich geschlossen und erklärt alles aus sich selbst heraus – auch wenn die Realität eine ganz andere ist. Q-Anon ist dafür aktuell das prominenteste Beispiel.

Presseschau Corona-Krise – Überblick über linke Analysen – Call for Papers!

Seit gut zwei Monaten beschäftigt und belastet die Coronapandemie im zunehmenden Maße unser Leben. Der normale Alltag der Meisten wurde außer Kraft gesetzt, wir stehen vor einer weltweiten Systemkrise, deren Ausmaß das des Börsencrashs von 2008 mit ziemlicher Sicherheit weit übersteigen wird. Der Spätkapitalismus steht vor einer weltweiten Existenzkrise. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, haben wir uns in vorläufig drei Teilen mit insgesamt 16.000 Wörtern und 30 Seiten an eine analytische Begleitung des Ganzen gewagt. Unsere Mad Marx-Trilogie beleuchtet:
 
– den Verarbeitungsmechanismus der Krise in den sozialen Netzwerken
– die Grundlagen des Kapitalismus
– die auf Kreditblasen aufbauende Wirtschaft der letzten Jahrzehnte
– den von uns so genannten „Krisensozialismus“ der Staaten
– die sozialdarwinistischen Forderungen und Logiken der kapitalistischen Verwertungslogiken
– das Strukturproblem des linken Spektrums 
– unterbreitet einige Vorschläge, wie man aus einer reagierenden in eine agierende Rolle kommen kann und auch sollte, um in Zukunft handlungsfähiger zu sein und politische Ziele konsequenter fordern und Druck aufbauen zu können
 
Nicht nur bei uns rauchen die Köpfe fast im Wortsinne, auch an anderer Stelle wird der Krisensituation mit Texten und Analysen begegnet. In diesem Artikel wollen wir eine unvollständige Sammlung bereitstellen und eine kurze Einschätzung zu Qualität und Inhalt liefern. Diese Beurteilungen sind rein subjektiv und stellen keine vollständige Analyse der Texte dar. Da der dritte Teil unser Textreihe einen Abschnitt mit Kritik an der Linken beinhaltet, werden die dort angesprochenen Punkte auch hier in die Einschätzungen mit einfließen. Es werden auch Artikel gelistet, die nicht linksradikal im Inhalt und in der Ausrichtung sind. Dies geschieht, um ein wenig über den Tellerrand zu schauen und Texte aus den großen Medien ein wenig auf ihre Tauglichkeit abzuklopfen. Der Plan ist es, die Liste konstant zu erweitern und alle paar Tage ein Update zu posten, um so im Laufe der Wochen eine ganz brauchbare Literaturliste öffentlich zur Verfügung zu stellen. 
 
 
 
Mad Marx Teil 3 – Befreite Gesellschaft oder Donnerkuppel – Handlungsperspektiven der Linken: https://rambazamba.blackblogs.org/2020/04/09/mad-marx-teil-3-befreite-gesellschaft-oder-donnerkuppel-handlungsperspektiven-der-linken/
 
Hinweis: Es finden sich hier Artikel aus allen möglichen Zusammenhängen und Kontexten, mit denen wir durchaus größere Probleme haben in ihrer politischen Ausrichtung. Man sollte aber immer über den eigenen politischen Dunstkreis hinaus lesen und gerade Artikel aus Richtungen, die man nicht vertritt, können sich als sehr fruchtbar für das eigene Denken erweisen. Eine Nennung hier stellt nicht automatisch eine Zustimmung zu Inhalt, Autor*in oder Plattform dar.
 
First things first – die Papiere bitte!
 
Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass, wenn es um die Wirtschaft und die kapitalistische Organisation dieser geht, ideologische Unterschiede der Linken in anderen Themenbereiche nicht so stark zum Tragen kommen. Sicher gibt es unterschiedliche Auslegungen und mehrere Ansatzpunkte. Im Endeffekt ist man sich aber über grundlegende Punkte einig: Kapitalakkumulation, Gewinnmaximierung, Ausbeutung der Lohnabhängigen, Kaputtsparen des Gesundheitswesens unter Profitmaxime und die Abwägung der Kapitalinteressen gegen Menschenleben durch den Zeitpunkt des Aufhebens der Maßnahmen. Die Krise eignet sich durch ihre Zuspitzung der üblichen Probleme innerhalb des und mit dem Kapitalismus an sich hervorragend dazu, die Grundlagen der Kapitalismuskritik zu erklären. Eine – auch für uns – wichtige Frage ist, wie stark man nun die Grundlagenkritik anzubringen gedenkt. Vierzig Texte, die jeweils zur Hälfte in irgendwie anderen Formulierungen das Gleiche abhandeln, sind nicht unbedingt notwendig. Andererseits schadet es nicht, über einen gewissen Fundus an unterschiedlichen und aktuellen Texten zu verfügen, welchen man auch kontinuierlich aktualisiert. Wir haben zum Beispiel die Gelegenheit genutzt und einen Grundlagenabschnitt zum Kapitalismus einzubauen, um diesen dann griffbereit zu haben. Man sollte sich in Zukunft aber vor dem Schreiben die Frage stellen, welche selbstständigen und interessanten Aspekte man jetzt auszuarbeiten gedenkt. 
 
 
Bevor wir zu den schon erschienen Texten kommen, wollen wir allen die Möglichkeit geben, selber Texte bei uns einzureichen, die dann hier veröffentlicht werden. Egal ob pseudonymisierte Einzelperson, Strukturgruppe oder loses Kulturkollektiv – wenn ihr was zu sagen habt, bringen wir es gerne raus. Solange es im weiteren Rahmen mit der aktuellen Situation und der Corona-Krise zu tun hat, schickt es uns. Neben einigen inhaltlichen Vorbehalten (wir wollen keine Sperren bekommen und sexistische/antisemitische/etc. Texte, also eigentlich Selbstverständlichkeiten) werden wir sie so veröffentlichen, wie ihr es möchtet: Gruppenname, Pseudonym, etc. Und das nicht nur auf Facebook, die Texte werden auch auf unseren Blog gestellt und mit den gewünschten Verlinkungen als Gastbeitrag leichter zu finden und zu lesen sein. Also her mit euren Artikeln, Analysen und Beiträgen, wir hoffen auf spannende Beiträge und eine rege Diskussion. Die eingereichten Texte werden als eigene Reihe veröffentlicht und separat geführt. Falls ihr schon Texte habt, könnt ihr sie uns zur Kenntnis geben und wir werden sie bei Gelegenheit in die Liste aufnehmen oder eventuell auch als Debattenbeitrag in Betracht ziehen.
 
Einsendungen bitte an 161ausbildung@riseup.net oder auf FB an die https://www.facebook.com/antifakampfausbildung/ einreichen.
 
 
 
Re:volt magazin: Der Zug fährt ab
 
 
Plattform: re:volt 
Datum: 11.4.2020
Umfang: ca 3.200 Wörter auf 6 Seiten
 
Der Fokus liegt hier klar auf einer allgemeinen Einordnung der Krisensituation unter marxistischer Perspektive. Konkrete Ausführungen zum Risiko der aktuellen Krise wurden nicht erarbeitet. Man begnügt sich mit einem Verweis darauf, die möglicherweise schwerste Krise seit 1929 zu haben. Somit ist der Text als Überblick über die Krisensituation und die grundlegenden Wirkungsmechanismen zu empfehlen, bleibt aber analytisch rein auf der Makroebene und bleibt in Sachen empfohlener Maßnahmen vage bzw. kurzen Empfehlungen werden nicht weiter ausgeführt und bleiben somit mehr Appell als konkrete Handlungsvorgabe. Es wurde allerdings angekündigt, genau hier in den kommenden Wochen anzusetzen. Bereits in der Einleitung wird ebenso wie bei uns die aktuelle Machtlosigkeit der Linken jenseits der mikropolitischen Ebene angesprochen, weshalb es spannend sein wird, wie man hier gedenkt dem entgegenzuwirken. Insofern erfüllt dieser Artikel seinen Zweck als Auftakt und Einleitung der kommenden Artikelreihe zur Krise. 
 
 
 
 
Die Falken Nürnberg: Weder #fuckingstayhome noch #staythefuckhome – Eine linke Perspektive auf den Umgang mit Corona und Quarantäne
 
 
Datum:  17.03.2020
Umfang: ca. 1.400 Wörter auf 2,5 Seiten
 
Eine zeitlich gesehen frühe Einschätzung, die zu einem Zeitpunkt der fast täglichen Maßnahmenverschärfung veröffentlicht wurde. Fokus ist hier das kaputtgesparte Gesundheitswesen als Resultat des Kapitalismus neoliberaler Prägung und die Berufe im Care-Bereich. Es wird die unterschiedliche Handhabung von Lohnarbeit und Privatleben bei den Maßnahmen kritisiert. Als Besonderheit finden sich hier Forderungen am Ende des Textes, welche sich sowohl an die Politik als auch an Linke wenden. Dabei bleiben sie bei Appellen und Allgemeinplätzen. Falsch macht der Text nicht viel, aber mehr als das Erwartbare auf einem soliden Level leistet er auch nicht. Außerdem ist die Sprache doch in Teilen arg pathosgeschwängert. Aber so sind sie nun mal, die Falken.
 
 
Lothar Galow-Bergemann: Die Coronakrise als Offenbarungseid des Kapitalismus
 
 
Plattform: Emma und Fritz
Datum: 26.03.2020
Umfang: 10 Minuten
 
Emma und Fritz Headhoncho Lothar Galow-Bergemann nimmt sich in diesem knapp 10minütigen Ausschnitt einer einstündigen Sendung zum Thema Corona und Kapitalismus vor allem der Ohnmacht der Verwertungslogik des Kapitalismus gegenüber der Pandemie und den sozialdarwinistischen Verlautbarungen von Liberalen und Wirtschaftsvertretern an. Unbedingte Empfehlung, sowohl inhaltlich als auch in der sprachlichen Zugänglichkeit.
 
 
Floris Biskamp: Politik und Wissenschaft in der Krise. Über die Präsentation der #heinsbergprotokoll-Zwischenergebnisse am Gründonnerstag
 
 
 
Plattform: Floris Biskamps Blog
Datum: 10.04.2020
Umfang: 2600 Wörter auf 5 Seiten
 
Biskamp ist studierter Soziologe und Politikwissenschaftler, lehrt derzeit an der Uni Tübingen. Durch den soziologischen Background ist er mit Datenauswertung, Statistik und wissenschaftlicher Arbeit vertraut. Aus seinem Blog gibt es immer wieder was zu diesem und jenem, aktuell zu Corona. Seit Anfang März sind (Stand 12.4.) fünf Artikel zu diesem Thema von ihm dort veröffentlicht worden. Hier beschäftigt er sich nun speziell mit der Heinsberg-Studie und ordnet die Veröffentlichungsmethodik mit seiner Kenntnis des wissenschaftlichen Betriebs ein. Dazu ordnet er auch die zum Zeitpunkt der VÖ bekannten Zahlen ein und verweist auf das zumindest schwierige Vermischen von Politik und Forschung in diesem konkreten Fall. Sprachlich leicht zugänglich, inhaltlich mit Bedacht und Umsicht formuliert. Kann man machen, zumal es hier eine leicht verständlich weil gut aufbereitete Schnittstelle zwischen Forschungsbetrieb und Laien darstellt – und somit ein Mehr bietet als die meisten anderen Texte, welche Corona und Kapitalismus abhandeln.
 
 
Interview mit Floris Biskamp: Krisenwissen oder: Die Wissenschaft hat festgestellt
 
 
Plattform: Mäeutik
Datum: 09.04.2020
Umfang: 4.300 Wörter auf 8 Seiten
 
Hier geht es vor allem um eine Betrachtung der Krise aus hobbyepidemilogischer Sicht und mit Fokus auf den wissenschaftlichen Betrieb und wie dieser in den Medien dargestellt und rezipiert wird, wie er sich selber darstellt. Interessanter Read, um ein wenig mehr über die unterschiedlichen Aspekte medialer Aufbereitung des Themas zu verstehen und wie man denn so eigentlich im (sehr weit gefassten) Fachpublikum an die Sache rangeht.
 
 
Vijay Kolinjivadi: This pandemic IS ecological breakdown: different tempo, same song
 
Plattform: Uneven Earth
Datum: 02.04.2020
Länge: etwa 2800 Wörter auf 5 Seiten
 
Mit zwei Zitaten lässt sich der Inhalt des Artikels recht gut veranschaulichen:
 
„COVID-19 is both one and the same as any other ecological crisis (such as climate change) because its emergence is rooted in the same mode of production that has generated all other ecological crises and social inequalities of our times.“
 
„Instead, society must reflect and react in time to the changes it is experiencing. To this extent, COVID-19 can serve as a lesson showing the interconnectedness of society’s impacts and actions on the planet and the immediacy of response required shift our relationships to the world. The lag time between when social distancing measures are put in place and impacts on the reduction of COVID-19 cases once again shows us that biological systems do not obey human-imposed rules.“
 
Wenig überraschend macht die Seite ihrem Namen alle Ehre und analysiert Covid-19 unter einem ökologischen Gesichtspunkt. Hier wird die Pandemie als ökologisches Desaster bezeichnet und dem Klimawandel als Resultat der industrialisierten Welt gleichgestellt. Vom Grundsatz her ist das vollkommen logisch, alle Interessensgruppen werden die Krise in ihrem Sinne interpretieren und entsprechend framen. Der Weg, der hier beschritten wird, ist im Detail schwer nachzuprüfen, da hier die ganz großen Verbindungen aufgemacht werden, welche nicht immer mit weiterführenden Links versehen sind. In der Grundsache hat der Artikel aber schon einen Punkt: Der Klimawandel ist eine Folge des Kapitalismus und nur eine Abkehr von dieser Produktionsweise wird das Problem der Erderwärmung lösen können. Und ebenso ist der Kapitalismus nicht gut auf eine Pandemie zu sprechen, weil sie ebenso wie der Klimawandel außerhalb von dessen Verwertungslogik steht. Insofern kann man den Artikel mit einigem Gewinn lesen, selbst wenn man nicht allem zustimmt. Der Take sticht durch den ökologischen Ansatz aus der Masse hervor und Ökoesoterik sowie sozialdarwinistische Implikationen springen nicht ins Auge. Es finden sich weitere Artikel zur Corona-Krise auf der Website.
 
 
„Gesundheit ist eine zutiefst ungleich verteilte Ressource“ – Interview mit Mediensoziologe Matthias Richter
 
 
Plattform: Die Zeit
Datum: 10.04.2020
Umfang: knapp 1000 Wörter auf 2 Seiten
 
Hier wird anschaulich dargelegt, wie und warum Gesundheit eine Klassenfrage ist, die dann auch mit Bildung und Berufstätigkeit zu hat. Kurz gesagt, wird Corona die ärmeren Bevölkerungsschichten nicht nur ökonomisch, sondern auch gesundheitlich sehr viel stärker treffen als die wohlhabenden Schichten. Guter und knackiger Read und dank Veröffentlichung bei der Zeit auch gut zum Herumreichen in weniger linksradikale Kreise geeignet.
 
 
Marianne Garneau: The myth of the „present moment“
 
 
Plattform: Organizing Work
Datum: 09.04.2020
Umfang: 900 Wörter auf 2 Seiten
 
Als Mitglied der IWW-Gewerkschaft spricht Garneau warnend über den Trugschluss, gerade jetzt wegen der Corona-Krise in einen sprunghaften Übereifer zu verfallen und die große Chance zur Agitation zu wittern. Aus Erfahrung heraus beschreibt sie das Problem, einerseits Leute geordnet zu einer handlungsfähigen Gruppe mit Forderungen zu machen, um diese dann auf der anderen Seite nach der Akutsituation und der Initialinitiative dann auch am Leben zu erhalten und in den Forderungen auszubauen. Einmal Erfolg ist einfach, dauerhaft Erfolge erzielen dagegen nicht. Der Artikel ist somit vor allem für Hitzköpfe gut geeignet, die möglicherweise HistoMat-brüllend den Untergang des Kapitalismus beschwören und den Zeitpunkt des letzten Gefechts wittern, ohne dabei konkret einen Plan von Organisation zu haben. 
 
 
KOMMON:JETZT Jedes Mittel recht? Kontroverse um Corona
 
 
Plattform: Kommon
Datum: 05.04.2020
Länge: knapp 1 Stunde
 
Hier moderiert Marcus Staiger ein Streitgespräch zwischen Pedram Shahyar und Michael Kronawitter. Das Streigespräch wurde inzwischen vom Zeitgeist und der momentan vorherrschenden Lebensrealität eingeholt, weil insbesondere die Position Kronawitters, der eigentlich besprochen haben will, ob es überhaupt eine Pandemie gibt, die die Maßnahmen erforderlich macht, durch die Zahlen der letzten zwei Wochen überholt wurden. Man muss zudem genau hinhören und abwägen, ob er sich dezent in Richtung Verschwörungsmythos äußert und „nur Fragen stellt“, oder ob er tatsächlich kritische Fragen mit Substanz anbringt. Im Detail schwer abzuwägen, aber er liefert auch die wenigen interessanten Aspekte dieser Stunde mit einigen Erklärungen fundiert durch seine ärztliche Tätigkeit. Bei ihm geht es aber vorrangig um die Frage, ob man die bürgerlichen Rechte überhaupt mit Maßnahmen beschränken sollte, weil es sein könnte, dass es sich gar nicht um eine ernstzunehmende Pandemie handelt. Er will im Endeffekt mit einer zugegebenermaßen stetig wechselnden und ungenauen Datenbasis (siehe die Biskamp-Beiträge) argumentieren, dass auch ein milder Ausgang möglich sei. Dabei bezieht er sich dann aber auf die Minimalschätzungen, welche sehr unwahrscheinlich sind. Und die Gefahr, dass es einen mittleren oder schweren Verlauf mit der Pandemie nehmen könnte, zieht er nicht in Betracht. Insofern ist das eine in der Gesamtheit richtig müllige Position, welche in Sachen Pandemieeindämmung nur nachträglich reagiert und nicht vorbeugend agiert. Dabei gehen halt Menschen drauf.
 
 
The Virus, Capitalism, and the Long Depression – Interview With Michael Roberts
 
 
Plattform: Spectre
Datum: 2020
Umfang: 2400 Wörter auf 4 Seiten
 
Hier wird auf die wirtschaftliche Situation zu Beginn der Krise hingearbeitet und die kapitalistische Ökonomie und ihre Änderungen der letzten 30, 40 Jahre betrachtet. So grob findet sich das auch in unserem zweiten Mad Marx-Text, hier mit anderen Details und spezieller auf die Produktivkraft fokussiert. Ein rundum guter Read, verständlich und anschaulich. Ebenso wird die Besonderheit der aktuellen Situation mit ihrem systembedrohenden Ausmaß gut aufgezeigt. 
 
 
Ingar Solty: The Bio-Economic Pandemic and the Western Working Classes
 
 
Plattform: Socialist Project
Datum: 24.03.2020
Umfang: 5900 Wörter auf 10 Seiten
 
Ein weiterer Artikel, der einen Überblick über die wirtschaftliche Instabilität zum Zeitpunkt der Pandemie liefert, internationale Nachrichten und Maßnahmen erwähnt und sich an einer Zusammenfassung des Geschehens versucht. Dabei werden auch Reaktionen aus der organisierten Arbeiterschaft erwähnt. Der Umfang ist zwar recht groß, da hier aber ein weltweites Bild gezeichnet wird, bleibt es im Detail oft ungenau oder verkürzt. Insgesamt aber ganz in Ordnung für das, was der Artikel sein soll.
 
 
Das Ende der Marktgläubigkeit – Ein Gastbeitrag von Jan Korte
 
 
Plattform: Der Spiegel
Datum: 03.04.2020
Umfang: 800 Wörter, 2 Seiten
 
Korte sitzt für die Linkpartei im Bundestag und ist hier mal wütend. Sein Beitrag ist eine Replik auf die von liberaler Seite geforderten und teilweise von der Regierung durchgesetzten Maßnahmen eines Arbeitskampfes von oben. Der eh schon kaputtgesparte Gesundheitssektor, der erodierte Sozialstaat und die unter schlechteren Bedingungen malochenden Menschen werden in der Krise und danach wohl wieder den Großteil der Zeche zahlen müssen – und Korte genau das Gegenteil. Hier wird auf Solidarität statt Wettkampf gesetzt, hier wird Arbeitskampf propagiert, hier wird eine Revolte befürwortet. Mit was? Mit Recht. Ein gut formulierter, meinungsstarker Beitrag, den man gut rumreichen kann.
 
 
Der schwarze Stern: The Barbarism of our Time/Die Barbarei unserer Zeit 
 
Plattform: Der schwarze Stern
Datum: 25.03.2020
Umfang: 3200 Wörter, 6 Seiten (beinhaltet sowohl die englische als auch die deutsche Version)
 
Die erste Besonderheit ist hier, dass zweisprachig auf Englisch und Deutsch veröffentlicht wird. Sehr löblich und sinnvoll, dieses Beispiel darf gerne Schule machen – auch bei uns selbst. Damit kann man auch internationale Debatten führen und ist nicht nur auf den deutschsprachigen Raum beschränkt. Der konkrete Beitrag ist vor allem die Taktik des „flatten the curve“ fokussiert. Dazu kommen Ausführungen zum Gesundheitswesen und die bereits laufenden Abwägungen von Wirtschaft und Menschenleben. Besonders die USA stehen hier im Fokus. Inzwischen ist der Beitrag durch die Ereignisse überholt und nicht mehr aktuell, aber an sich gut und anschaulich aufbereitet.
 
 
Holger/Pucki: Corona und der ideelle Gesamtkapitalist
 
 
Plattform: Lower Class Magazine
Datum: 31.03.2020
Umfang: 1.300 Wörter, 3 Seiten
 
Hier wird sich insbesondere der linken Rezeption der staatlichen Maßnahmen gewidmet. Anscheinend hat man unterschiedliche Bubbles, aber das hier beschriebene Verengen der Maßnahmen auf muh Überwachungsstaat können wir so (auch im Rückblick) nicht in dieser Intensität feststellen.  Der Staat wird als ideeller Gesamtkapitalist gesehen und so in seinen Handlungen erklärt. Der Staat fungiert als Charaktermaske des Kapitals in einer Krisensituation. Dabei kann er auch im Sinne des Bevölkerungsschutzes sinnvolle Maßnahmen ergreifen, tut dies aber laut Artikel eigentlich zum Schutz der Wirtschaft. Nun ja, da lässt sich jetzt im Detail sicher heftig drüber streiten, in der Gesamtheit ist das aber schon eine sinnvolle Betrachtungsweise. Das Abwägen, wann man die Maßnahmen lockern könne, ist nichts anderes als der Druck, das System der kapitalistischen Produktionsordnung wieder ins Laufen zum Bringen, um dessen Zusammenbruch zu verhindern. Mehr als diese makropolitische Betrachtung liefert der Artikel nicht, will es auch gar nicht. Wie man es besser machen könnte, wird mit einem Hinweis auf Rojava abgearbeitet. Außerdem zeigt man grob in eine Denkrichtung, ohne auch nur ansatzweise praktisch umsetzbare Dinge aufzuführen. 

Mad Marx Teil 3: Befreite Gesellschaft oder Donnerkuppel – Handlungsperspektiven der Linken

Der Anfang vom Ende

 

Um die aktuelle Krisensituation in ihrer Tragweite adäquat zu begleiten, haben wir uns dazu entschieden, unsere Einordnungen und Analysen in einer ausführlichen Artikelreihe zu sammeln. Vorerst auf drei Teile angelegt, kann die Reihe „Mad Marx – Corona und der Vorschein der Donnerkuppel“ in Zukunft noch erweitert. Mit diesem hier vorliegenden dritten Teil kommt sie aber zu einem zwischenzeitlichen Ende. In Teil 1 haben wir uns damit auseinandergesetzt, wie allgemein, aber auch im linken Spektrum, auf die bisher einmalige Situation reagiert wird. Fokus war hierbei vor allem das Begreiflichmachen und das Verarbeiten der Vorgänge, was in mehr und oftmals weniger guten Rationalisierungsversuchen mündet. Eine Linke mit einem gesellschaftsverändernden Anspruch darf dabei aber nicht stehenbleiben. Des Weiteren wurde ein Überriss über den Kapitalismus als Wirtschaftssystem gegeben, wo es sich anbot mit Veranschaulichung an der aktuellen Krisensituation. Der zweite Teil konzentrierte sich dann auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Durch eine immer weiter vorangetriebene Blasenökonomie, finanziert durch immer neue Schulden, steht die Weltwirtschaft unmittelbar vor dem Kollaps. Die Krise der Jahre 2008/09 ist im Vergleich nicht so systemgefährdend wie das, was jetzt auf uns zukommt. In Verbindung mit sozialdarwinistischen Forderungen, die Wirtschaft schnellstmöglich wieder anzukurbeln und dabei Millionen Menschen wissentlich dem Tod zu überlassen, wurde dann das drohende Szenario der titelgebenden Donnerkuppel skizziert. Das Recht der Stärkeren soll es richten und den Kapitalismus retten, an eine postkapitalistische Option wird gar nicht erst gedacht.

Was noch fehlt, ist eine Bestandsaufnahme der Krisenmaßnahmen (in Teil 2 bereits als „Krisensozialismus“ definiert) und des linken Spektrums. Außerdem werden Maßnahmen und Betätigungen vorgeschlagen, mit denen die Linke die Krisensituation beantworten sollte. Dabei wird in Akutmaßnahmen und in perspektivisches Agieren unterschieden. Ein Patentrezept ist es nicht und es wäre vermessen zu behaupten, hier würde der Masterplan ausbuchstabiert, der in 30 Jahren die befreite Gesellschaft herbeiführen wird. Dennoch hoffen wir (und sind auch zuversichtlich), einen sinnvollen Debattenbeitrag zu liefern und hoffentlich weitere Diskussionen anzuregen. Es wurde ganz bewusst auch das linke Spektrum jenseits der radikalen und autonomen Linken in die Betrachtungen miteinbezogen, die Gründe dafür werden später ersichtlich. Auch ein Grund ist, dass viele Personen aus Verbänden, Gewerkschaften und Parteien zum Pool unserer Leserschaft gehören und die Probleme in der Linken das gesamte Spektrum betreffen.

Mad Marx oder die befreite Gesellschaft

 

Während die Welt im Chaos der Ersten Weltkriegs versank und einen Zivilisationsbruch von bis dahin nicht gekannten Ausmaßes erlebte, schrieb Rosa Luxemburg folgende Zeilen: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma: Entweder Übergang zum Sozialismus, oder Barbarei!“ Angesichts der sich entwickelnden Krise stellt sich diese Frage tatsächlich mit erneuter Dringlichkeit. Eigentlich stand die Gesellschaft schon seit den Tagen der Ehrengenossin Luxemburg vor dieser Wahl. Die aktuelle Krise, bei der das Virus tatsächlich nur der Auslöser, nicht aber die Ursache ist, lässt die Widersprüche des Kapitalismus offen zu Tage treten und konfrontiert die Weltgemeinschaft damit: Ist ein System, in dem ein Gesundheitswesen auf die abstrakten Zwänge des Marktes und nicht auf die Rettung von Menschen ausgelegt ist, wirklich das „beste System“? Ist ein System, in dem Krankenhäuser aus Kostengründen sogar noch im Angesicht einer heraufziehenden Pandemie geschlossen werden wirklich „das beste System“? Ist es gerechtfertigt, Menschenleben gegen ein abstraktes System der Wertverwertung aufzuwiegen? Wäre es nicht an der Zeit, sich gesamtgesellschaftlich mit der ganz Grundlegenden Frage zu beschäftigen, ob das so richtig ist? Oder ob nicht eine andere Gesellschaft möglich wäre, die auf Solidarität statt auf Konkurrenz und Vereinzelung der Subjekte setzt.

Die Antwort, die von der Politik momentan gegeben wird, ist allerdings in diesem Zusammenhang ebenso erschreckend wie vorhersehbar und altbekannt. Die von uns bereits als „Krisensozialismus“ beschriebenen Automatismen greifen. Die Vergesellschaftung privater Verluste durch den Staat hat bereits begonnen. Bis zu 760 Milliarden Euro will alleine der Deutsche Staat an Steuermitteln aufwenden, um vom mittelständischen bis zum Großunternehmen die deutsche Wirtschaft zu stützen. Das geradezu wahnhaft-religiös anmutende Festhalten an der „Schwarzen Null“ ist mit dem lakonischen Hinweis des Finanzministers, dass man ja nur durch diese Austeritätspolitik „Reserven“ zum Einsatz bringen könne, beiseite gewischt worden. Jene, die diese Austeritätspolitik in erster Linie bis zum heutigen Tage getragen haben, waren die lohnabhängig Beschäftigten. Genau diese Gruppe wird aber vom Maßnahmenpaket der Regierung hart getroffen.

Eine der ersten umgesetzten Maßnahmen, das Kurzarbeitergeld, soll es Unternehmen erlauben, ihre Lohnkosten drastisch zu reduzieren, in dem sie ihren Angestellten nur noch 60 Prozent ihres üblichen Lohns auszahlen. Für eine nicht unerhebliche Gruppe von Lohnabhängigen bedeutet das unmittelbar ein Fall auf Harz IV-Niveau, bei dem die nächste fällige Miete bereits existenzbedrohend ist. Eine Erkenntnis aus dieser Tatsache ist, dass in einem eigentlich reichen und entwickelten Land wie Deutschland, ein substantieller Teil der abhängig Lohnbeschäftigten permanent nur einen Gehaltscheck von der Privatinsolvenz. Studierende dürfen nicht einmal Hartz IV beantragen. Sofern sie kein volles Bafög bekommen, sind sie aktuell fast ohne Verdienstmöglichkeit. Die einzige Option wäre die Exmatrikulation, womit aber sehr wahrscheinlich langfristige Konsequenzen für das Studium verbunden sind.

Für das Heer der nun durch Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust oder Studiumsplatz existentiell Bedrohten sind das schlechte Aussichten. Da zur gleichen Zeit, bedingt durch die Maßnahemn der Corona-Bekämpfung, die Einreise von vor allem osteuropäischen Erntehelfern verboten wurde und viele Bauern öffentlichkeitswirksam beklagt haben, dass ihnen beträchtliche Ernteausfälle drohen, sollte man keinen Ersatz für die Erntehelfer besorgen, ist nun eine gesellschaftliche Debatte um das utilitaristische Ausnutzen der Notlage von ganz allgemein von Armut bedrohten und marginalisierten Gruppen entbrannt.

Flankiert von dem, was hierzulande als „bürgerliche Presse“ bezeichnet wird, dreht sich diese Debatte nun darum, welche Gruppen von armen Schluckern man zur Spargelernte schicken solle – mal sind es SchülerInnen oder StudentenInnen, dann Asylsuchende, wie von Julia Klöckner vorgeschlagen, oder Arbeitslose. Die AfD will dann gleich Fridays for Future zwangsverpflichten und somit Minderjährige zur Arbeit zwingen. In Bayern ist Klöckner’s Parteikollege und Wirtschaftsminister auf Landesebene zu einer ganz ähnlichen Lösung gekommen und will die nun derart in finanzielle Notlage geratenen KurzarbeiterInnen auf die Felder schicken[1].

Ebenfalls in Bayern sind derweil weitere ArbeitnehmerInnenrechte abgeräumt worden. Im Zuge der Krisenbekämpfung wurde die Höchstarbeitszeit für Angestellte einkassiert[2]. Kurzerhand wurden in einem Zuge das Arbeitsverbot für Sonn- und Feiertage aufgehoben (ohnehin schon Schauplatz einer permanenten Abwehrschlacht gegen das Kapital seitens der Gewerkschaften) sowie die Pausenzeiten für Angestellte in systemrelevanten Betrieben um eine Viertelstunde gekürzt. Mindestruhezeiten und Höchstarbeitszeiten wurden ebenfalls aufgehoben. Betriebe können ArbeiterInnen somit länger am Stück arbeiten lassen und müssen ihnen nicht mehr so lange Ruhezeiten gewähren. Schlechte Nachrichten also vor allem für Beschäftigte im Schichtbetrieb.

Nur gut also, dass da das Heer der Lohnsklaven so lange brav den Gürtel enger geschnallt und sich in „Lohnzurückhaltung“ geübt hat – Als Belohnung dürfen einige nun in die Kurzarbeit gehen und sich bei Feldarbeit an der frischen Luft bewegen, um nicht unter das Existenzminimum zu fallen. Profitiert hatten die unteren Lohnschichten von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten 15 Jahre nicht. Die Einkommensschere driftet immer weiter auseinander und unten gibt es Reallohneinbußen, während es oben kräftige Zuwächse zu verzeichnen gibt.

Die Devise ist also klar: Der Klassenkampf von oben ist wieder in vollem Gange. Während Unternehmen, mittelständische Betriebe und Selbstständige vom Staat auf finanzielle Hilfe zumindest hoffen dürfen, soll besonders den Lohnabhängigen wieder mittels drastischer Gehaltseinbußen und der de facto weitreichenden Aufhebung von ArbeitnehmerInnenrechten die Kosten der Krise aufgebürdet werden. Ausbaden sollen es also mal wieder diejenigen, die vom mageren Aufschwung seit 2009 wenig bis gar nichts hatten. Der Gipfel des Zynismus ist in diesem Zusammenhang der von der Regierung geradezu staatstragend formulierte Ruf nach „Solidarität untereinander“, mit der man dann bis zur Erschöpfung getriebenes Pflegepersonal in Krankenhäusern mit ein paar Beifall-Klatschern für die geleistete Mehrarbeit abspeisen kann, bevor es für sie wieder zurück in die Verwertungsmühle geht. Auf der anderen Seite werden riesige Summen für Bailouts zur Verfügung gestellt, um verschuldete Unternehmen mit zeitlich begrenzter Staatsbeteiligung vor dem Konkurs zu bewahren. Die Verluste werden dadurch vergesellschaftet, um die Unternehmen dann wieder komplett unter private Führung zu stellen, wenn die finanzielle Situation Richtung Gewinnerzielung geht. Auch wenn für diesen Vorgang der Begriff „Verstaatlichung“ verwendet wird, ist dieser irreführend. Verstaatlichung würde bedeuten, die Unternehmen dauerhaft und unbegrenzt dem Staat zu unterstellen.

Leider ist auch davon auszugehen, dass mit diesen angedrohten oder bereits umgesetzten Boshaftigkeiten seitens der Politik das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist, sondern dass die Krisendynamik den bereits eingeschlagenen Kurs autoritärer Notverordnungspolitik seitens der Regierenden verschärfen wird. Inwieweit die umfassenden Einschränkung grundlegender Freiheitsrechte im Rahmen der Corona-Pandemie notwendig war, darüber lässt sich diskutieren. Mit welcher Selbstverständlichkeit diese Freiheiten im Vorbeigehen einkassiert und mit der Ausweitung der anlasslosen Überwachung von BürgerInnen über ihre Handy-Daten begonnen wurde (und das zum Teil unter Beifall gewisser linker Kreise), lässt tief blicken.

Unter diesen Umständen sollte man sich keinen Illusionen hingeben, dass seitens der Politik Skrupel herrschen würden, den BürgerInnen weitere schmerzhafte Einschnitte wie etwa eine weitere Schröpfung des Sozialstaates zuzumuten. Weitere Kürzungen des Rentenniveaus, weitere Anhebungen des Renteneintrittalters, das alles wurde auch schon vor der Krise hinter verschlossenen Türen diskutiert. Die hereinbrechende Krise kommt gerade recht, um Unappetitlichkeiten unter dem Vorwand instrumenteller Vernunft offen auf die Agenda zu setzen. Auch ist nicht vorauszusagen, wie die Politik angesichts einer Flut neuer Arbeitssuchenden reagieren wird. Die Studie des IFO zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise geht von bis zu 1,8 Millionen Menschen aus, die zusätzlich in die Jobcenter strömen werden [3](zum Vergleich. Arbeitslosenzahl laut Arbeitsagentur im Februar 2020: 2.396.000 [4]). Dass die Überforderung und Gleichgültigkeit gegenüber diesen Menschen in den Jobcentern dieser Republik angesichts dieser anrollenden Flut abnehmen wird, darf bezweifelt werden. Es dürfte eher so sein, dass, da noch mehr Menschen aus dem gleichen Topf versorgt werden müssen, die Leistungen für die/den einzelnen LeistungsbezieherIn drastisch gesenkt werden dürften. Und wie es um den schon vor der Krise bis an die Belastungsgrenze gespannten und durch Privatisierung und Rentabilitätszwänge zugerichteten Gesundheitssektor in unmittelbarer Zukunft bestellt sein wird, wagt niemand zu prognostizieren. Wie angespannt die Situation momentan ist, verdeutlicht ein Aufruf des Vorsitzenden des Verbandes der Krankenhausdirektionen im DLF vom 21. März, in dem er eindringlich, ja geradezu flehend warnt, dass einer ganzen Reihe von Krankenhäusern im Mai die Insolvenz drohe, falls nicht schleunigst mit Notkrediten geholfen wird [5].

Unterm Strich ist das Zukunftsszenario, dass sich unserer Gesellschaft bietet nicht der Vorschein der befreiten Gesellschaft, sondern das krasse Gegenteil. Während substantielle Gesellschaftsschichten vor dem existentiellen Aus stehen und potentiell den Weg ins Prekariat antreten werden müssen, droht den Sozialsystemen eine weiter Schleifung, während der Staat im Sinne der instrumentellen Vernunft immer weiter autoritär durchgreift und sich in den sprichwörtlichen „Leviathan“ von Thomas Hobbes verwandelt – eine staatliche Entität, der jeglicher Sinn für Gemeinwohl abgeht und der seine eigentliche Daseinsberechtigung (Schutz und Garant des Wohlstands für Alle) in sein Gegenteil verkehrt hat und für dessen nun eigentlich überflüssig gewordene Existenz ganze Bevölkerungsschichten geknechtet werden müssen.

Wir stehen also am potentiellen Beginn eines Rückbaus zivilisatorischer Errungenschaften und eines weiteren gesellschaftlichen Zerfalls, der nicht nur die Spaltung in Arm und Reich vorantreiben wird, sondern bei dem eine weitere Verrohung der Gesellschaft vorprogrammiert ist. Die Donnerkuppel aus „Mad Max 3“ als Symbol einer durch die Verhältnisse geknechteten Gesellschaft, die ihre letzten Ansprüche an Menschlichkeit und Aufklärung über Bord geworfen hat und in der die Gemeinschaft der „Vereinzelten Einzelnen“(Karl Marx) zum Synonym für den „Kampf Jeder gegen Jeden“ geworden ist, wirft ihren Schatten voraus.

Im Folgenden wird in drei Abschnitten sukzessive erörtert, was die Linke als gesamtes Spektrum jetzt leisten kann und vor allem leisten sollte. Die Abschnitte sind „Der desolate Zustand der Linken“, „Das Bestehende vor dem Schlimmeren bewahren“ und „Die Systemfrage als Perspektive“. In ihnen werden jeweils die darin abgehandelten Aspekte stichpunktartig vorangestellt, um einen Überblick zu ermöglichen. Wichtig ist auch die Frage, was dafür zur Linken gezählt wird. Die Betrachtungen sind vor allem organisations- und strukturbedingten. Deshalb werden alle Gruppen und Organisationen zur Linken gezählt, die an einer Emanzipation von den aktuellen Verhältnissen arbeiten und im Idealfall postkapitalistisch und postbürgerlich eingestellt sein sollten. Dazu zählen: alle (Struktur-)Gruppen der radikalen Linken, antifaschistische Gruppen und Bündnisse, autonome Gruppen und Strukturen, Gewerkschaften, Sozialverbände, Interessenverbände diskriminierter Gruppen der verschiedenen Bereiche (Rassismus, Antisemitismus, Feminismus, Ableismus, Antiziganismus usw.), Parteien (Linkspartei und mit starken Abstrichen SPD und Grüne), Zeitungen, Verlage, NGOs, Think Tanks, akademische Zusammenschlüsse und ähnlich gelagerte Bereiche. Es geht hier nicht um ein Reinhalten des Begriffes „links“, um damit möglichst die eigenen Ansichten als den heiligen Gral festzulegen, sondern vielmehr um den theoretischen und praktischen Anspruch der Emanzipation im postkapitalistischen und postbürgerlichen Sinne. Im Idealfall könnten alle diese Gruppen auf unterschiedlichen Wegen gemeinsam und koordiniert am Überwinden der Verhältnisse partizipieren. Es ist klar, dass konkrete Weltanschauungen dies in der Praxis stark einschränken oder verhindern, es geht hier aber um eine ganz grundsätzliche Betrachtung. Ebenso gibt es immer positive Gegenbeispiele für Kritik, welche mitunter auch genannt werden. Da es aber der kommende Abschnitt eine grundsätzliche Betrachtung ist, geht es um das Gesamtbild. Konkrete Vorschläge folgen dann in den beiden Schlussabschnitten des Artikels.

Der desolate Zustand der Linken

 

Beleuchtet werden die Problembereiche: radikale Linke, Gewerkschaften, soziale Träger und Interessenverbände, Parteien

Bevor es um konkrete und perspektivische Handlungsoptionen geht, muss eine Bestandsaufnahme des Ist-Zustands erfolgen. Und dieser ist desolat, schaut man einmal gesamtgesellschaftlich und mit Fokus auf postkapitalistische Bewegungen. Dabei sind die Voraussetzungen auf dem Zettel gar nicht mal so schlecht, gibt es doch all die Absatz davor genannten Gruppen und Strukturen. Nur sind diese aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Graden ohne vorhandene Wirkungsmacht. Dafür gab es vor der jetzigen Krise etliche Indikatoren, aber auch jetzt ganz unmittelbar zeigt sich eine relative Handlungsohnmacht.So wurden zum Beispiel die Gewerkschaften erst spät und mit Einschränkungen in die Maßnahmenberatungen in Bayern eingebunden, die ArbeitgeberInnen saßen dagegen von Anfang an am Beratungstisch. Forderungen von Gewerkschaften und Sozialverbänden wurden im Maßnahmenpaket nicht berücksichtigt oder verschwanden vom Verhandlungstisch. Davon betroffen sind unter Anderem die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 90 Prozent und finanzielle Verbesserungen im Pflegesektor. Mehr als Forderungen sind dazu auch noch nicht zu vernehmen, Arbeitskampf (in welcher Form auch immer) wurde bisher nicht ins Spiel gebracht. Von der Linkspartei ist ebenfalls wenig mehr zu vernehmen, als Detailkorrekturen der Maßnahmen oder eine Erweiterung in den unteren Einkommensschichten zu fordern. Die radikale Linke ist sicherlich privat mit nachbarschaftlichen Hilfsaktionen beschäftigt, sie tritt aber gar nicht erst als gesellschaftlich relevanter Faktor auf. Mehr als Apelle, Aufrufe und Texte (ja, auch die Mad Marx-Reihe zählt dazu) gibt es kaum. Insgesamt geht von der Linken kaum eine reale Gefahr aus, bestimmte Maßnahmen der Regierung zu ändern oder eigene Forderungen durchzusetzen, geschweige denn gerade eine gesellschaftliche Debatte zum bestehenden System und seinen Widersprüchen anzustoßen. Weder Streiks noch großangelegte Proteste stehen derzeit als Optionen für jeweils mögliche Zeitpunkte öffentlich breit zur Diskussion, sieht man von Phrasen ab.

Problembereich radikale Linke

 

Die Strukturprobleme der Linken zeichnen sich mitunter seit Jahrzehnten ab und haben dafür gesorgt, dass man in einer Krisensituation wie der jetzigen nur reagieren kann und keine offensiv agierende Akteurin auf gesellschaftlicher Ebene und der politischen Bühne darstellt, die weitreichende Forderungen stellen und durchsetzen kann. Die radikale Linke hat dabei vor allem ein organisatorisches und ein inhaltliches Problem. Beide bedingen sich gegenseitig. Im Laufe der Jahrzehnte haben sich grob zwei Richtungen herausgebildet, denen eine organisatorische Vermittlung fehlt. Zum Einen gibt es die Bewegungslinke mit Fokus auf Antifaarbeit und autonome Gruppen. Dies ist insbesondere im Antifabereich nicht wirklich anders zu bewerkstelligen, agiert man hier doch bewusst mit illegalen Mitteln und kann so die Strafverfolgung erschweren. Hier ist man auch noch stärker auf konkrete Aktionen und praktisch umsetzbare Ziele fokussiert. Ein autonomer Hausbesuch ist konkret planbar und durchführbar, die Zerschlagung existierender Nazistrukturen erfordert eine koordiniertes und planvolles Vorgehen. Doch die Erfolgsrate eines solchen Aktivismus ist regional stark unterschiedlich, was auch an den jeweiligen örtlichen Begebenheiten liegt. Leider gibt es keinen flächendeckend erfolgreich und konsequenten Antifaschismus, der wirklich für alle Nazistrukturen eine handfeste Gefahr darstellt. Dem Hannibalnetzwerk hat die radikale Linke nicht viel entgegenzusetzen. Auch ist eine solche sehr eng auf das Thema „Kampf gegen Nazis“ ausgelegte Praxis keine Organisationsform, die auf die anstehenden Aufgaben der Coronakrise übertragbar ist. Es ist eine Erweiterung des Organisationsrepertoires nötig, um auch in Bereichen jenseits des autonomen Kleingruppenantifaschismus Ziele erreichen zu können.

Auf der anderen Seite hat sich die radikale Linke, was die Beschäftigung mit den Verhältnissen im Kapitalismus angeht, vor allem auf Theorie und Analyse der eben genannten Verhältnisse versteift. Daraus ist aber keine irgendwie geartete Praxis erwachsen, die dazu geneigt wäre, eine Verbesserung des Bestehenden auch nur irgendwie perspektivisch realistisch erscheinen zu lassen. Containern mag zwar eine wirksame Praxis zum Durchbrechen kapitalistischer Verhältnisse im ganz Kleinen sein, den Kapitalismus als Wirtschaftsordnung und Organisationsform der Produktion wird man damit nicht besiegen. Das Ganze nimmt sich eher aus, wie die sprichwörtliche Maus, die versucht dem Elefanten auf den Fuß zu treten, wie es Wolfgang Pohrt mal treffend beschrieb. Das sich Zurückziehen auf den makropolitischen Theorie-Elfenbeinturm hat zwar dazu geführt, die aktuelle Krise recht gut erklären zu können. Eine Praxis ist indes aber nicht vorhanden, wie man in dieser Krisensituation landesweit effektiv agieren und gestalten könnte. Und das, obwohl die letzte Systemkrise von 2008/9 das gleiche Problem offenbart hat. So nimmt sich das Ergehen in (pseudo-)intellektuellem Theorie-Geflexe zum Teil selbst nur als Phrasendrescherei aus. Marx hat das Problem in der Deutschen Ideologie gleich zu Beginn in Bezug auf Junghegelianer auf den Punkt gebracht:

„Die junghegelschen Ideologen sind trotz ihrer angeblich „welterschütternden“ Phrasen die größten Konservativen. Die jüngsten von ihnen haben den richtigen Ausdruck für ihre Tätigkeit gefunden, wenn sie behaupten, nur gegen „Phrasen“ zu kämpfen. Sie vergessen nur, daß sie diesen Phrasen selbst nichts als Phrasen entgegensetzen, und daß sie die wirkliche bestehende Welt keineswegs bekämpfen, wenn sie nur die Phrasen dieser Welt bekämpfen.“

Der Anspruch und die Haltung lassen sich exemplarisch mit einer Formulierung darstellen: Es geht ums Ganze. (Der Text vom Bündnis „Ums Ganze“ zur Coronakrise sei hier empfohlen, er arbeitet mit weniger Umfang etliche Punkte ab, die auch in dieser Reihe hier zur Sprache kommen.) Und damit ist dann wirklich der ganz große Wurf gemeint. Mit groß klingenden Kampfansagen und selbstversichernden Phrasen holt man zum verbalen Generalangriff auf alles und jeden, am liebsten aber Staat, Gesellschaft, Patriarchat und Kapitalismus, aus. Da wird dann teilweise mit Worthülsen um sich geschossen, als gäbe es kein Morgen mehr. „Die Kämpfe müssen radikalisiert und zugespitzt werden“, „gegen die Gesamtscheiße“, „deutsche Zustände angreifen“, „den nationalen Konsens brechen“ und noch viele, viele Formulierungen mehr sind fester Bestandteil des Textbaukastens der radikalen Linken. Zum Teil lässt sich das nicht vermeiden, es darf aber nicht dabei bleiben. Wer sich ausschließlich auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene bewegt, wird damit außer einer Selbstbespaßung und dem Signalisieren einer Haltung höchstens noch eine grundlegende Einstellung beim geneigten Publikum erreichen können. Eine auf konkrete Erfolge zielende Praxis ist das aber nicht und sie wird in den meisten Fällen auch gar nicht erst skizziert. Es bleibt beim Appell zur Aktion, zur Verschärfung, zum Widerstand. Wie das aber genau aussehen soll, welche Handlungen man dafür vollziehen kann und welche realistisch erreichbaren Ziele angestrebt werden, bleibt oft das Geheimnis der Autor*innen. Außer wohlformulierter und maximalistischer Phrasen hat man der Realität in den meisten Fällen nichts entgegenzusetzen. Antikapitalistische Phrasen gegen bürgerliche Realität.

Und so verbleiben sehr viele Einzelgruppen und Freiräume organisatorisch mehr oder weniger für sich alleine und können dadurch keinerlei transformatorische Politik über ihren kleinen Bereich hinaus betreiben, während sie mit viel Pathos und Getöse zum Gefecht rufen. Projekte auf der Mikroebene treffen auf makropolitisch (gesamtgesellschaftlich) formulierte Ansprüche, ohne das es einen Mittelbau gäbe, der das Aktionspotential im Kleinen für eine Wirkmacht im Großen bündeln könnte.

Problembereich Gewerkschaften

 

Einen entsprechenden Mittelbau stellen Gewerkschaften für ihre jeweiligen Bereiche dar. Die Gewerkschaften sind ursprünglich als organisierte (Arbeits-)Kampforganisationen gegründet worden, was im 19. Jahrhundert tatsächlich sehr oft physische Kämpfe und Waffengewalt beinhaltete. Die Staatsgewalt und die Industriellen waren nicht gerade zimperlich, wenn es um das Zerschlagen organisierter Gegenwehr ging. Im Laufe der letzten ca. 150 Jahre haben die Gewerkschaften viele Erfolge erkämpft und sind seit Langem staatlicherseits anerkannt und fest verankert. Mit fortschreitendem Erfolg und mit wachsender Anerkennung haben sich die Gewerkschaften im deutschsprachigen Raum immer weiter entradikalsiert. Der Anspruch wurde immer bescheidener, inzwischen sind sie staatstragend und systemstabilisierend geworden. Wer bringt mit dem DGB in Deutschland oder mit dem ÖGB in Österreich den Kampf zur vollständigen Überwindung des Kapitalismus in Verbindung? Die Integration der Gewerkschaften in den akzeptierten Interessenaustausch hat sie Stück für Stück entschärft.

In Österreich hat man dem Ganzen dann auch vor 100 Jahren das passende Unwort gegeben: Sozialpartnerschaft. Hier sollen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite vom offenen Konflikt abrücken und in einem Dialog Konsenslösungen finden. Die Konfliktparteien des Arbeitskampfes und der Klassengesellschaft sollen möglichst so miteinander ausgesöhnt werden, dass sie den Staat nicht gefährden. Ein Überwinden der Verhältnisse ist damit von vornherein ausgeschlossen. Mit der Sozialpartnerschaft sagt man nicht nur einem revolutionärem Umsturz auf Wiedersehen (in Österreich hat es die Sozialdemokratie zum Beispiel auch verpasst, zum bewaffneten Widerstand gegen den faschistischen Coup aufzurufen, obwohl man dafür gerüstet war), man verabschiedet sich auch von einem syndikalistischen Ansatz, durch transformatorische Politik und das Aufbauen eigener Strukturen den Kapitalismus durch praktisches Handeln zu überwinden. Auch bei dieser Taktik wird auf die Wirtschaftsseite nicht eingegangen, man schaut lediglich, wie man unter aktuellen Bedingungen am besten Wirtschaft und Gesellschaft zum Sozialismus bringen kann – der immer und bei jedem erzielten Erfolg das Ziel bleibt und die Wahl der Mittel und Methoden bestimmt.

In Deutschland setzte man ab den 20ern auf die soziale Marktwirtschaft, die SPD-Führung hat mehrere Gelegenheiten zum revolutionären Umsturz konterrevolutionär beantwortet und die Gewerkschaftsarbeit damit nachhaltig entradikalisiert. Sozialpartnerschaft und soziale Marktwirtschaft sind zwei Ausprägungen des selben Grundkonzepts. Wer sich zur sozialen Marktwirtschaft bekennt, will den Kapitalismus nicht überwinden. Der DGB-Vorsitzende Rainer Hoffmann bekennt sich ausdrücklich zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Sozialpartnerschaft und bekommt dafür Gratulationen aus der CDU. Eine bessere Veranschaulichung des staatstragenden, systemkonformen Elends der Gewerkschaftsentwicklung gibt es wohl kaum. (https://jungle.world/index.php/artikel/2018/49/hauptsache-stabilitaet ) Man muss der Realität ins Auge sehen und feststellen, dass die Gewerkschaften kein Teil der radikalen Linken sind und inzwischen dermaßen in das System eingehegt wurden, dass sie als Beruhigungstropfen für die fungieren, deren Interessen sie idealerweise radikal vertreten sollten.

Problembereich soziale Träger und Interessenverbände

 

Ein ähnliches System mit der Integration und Einhegung in das bestehende System haben soziale TrägerInnen und Interessenvertretungen wie zum Beispiel Frauenverbände oder antirassistische Gruppen. Der Staat und die Wirtschaft verlassen sich zum Teil bewusst darauf, dass Einrichtungen wie die Volkssolidarität oder die Tafeln Versorgungsaufgaben übernehmen, die eigentlich von der öffentlichen Hand geleistet werden sollten. Der Staat, welcher aktuell eben die öffentliche Hand darstellt, überlässt Teile der Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsteile der Hilfsbereitschaft und Organisation von Privatpersonen, spart sich also die entsprechenden Kosten. Bei Hartz 4 sieht man aktuell, dass die Politik aktiv darauf setzt. Die FDP! forderte eine zeitweise Anhebung der Mindestsicherung, da durch den Wegfall der Tafeln viele nicht mehr über die Runden kämen. Man weiß also, dass die Tafeln überlebensnotwendig sind, tut aber nichts, um die Grundversorgung staatlich abzusichern.

Was soziale TrägerInnen, Interessenverbände und NGOs (z.B. Stiftungen) gemein haben, ist ihre Abhängigkeit vom Staat. Viele Projekte werden staatlich gefördert oder profitieren von Steuerbefreiungen im Vereinsrecht. Auch werden oft Räumlichkeiten gestellt oder zumindest teilfinanziert. Ein großes Programm wäre hier zum Beispiel das Programm „Demokratie fördern“, bei dem zivilgesellschaftliche Projekte gegen Rechts mit Mitteln versorgt werden. Alle Bereiche, die sich gegen Rechts engagieren, soziale Aufgaben übernehmen und diskriminierte Gruppen und Minderheiten vertreten, würden von einer postkapitalistischen, postbürgerlichen Gesellschaft profitieren. (Hier wieder der Hinweis, dass es um eine grundsätzliche Betrachtung geht und es einige Ausnahmen gibt.) Da sie im Gegensatz zu Gewerkschaften aber selten über ausreichend Eigenmittel verfügen, um völlig unabhängig von Staat und Wirtschaft zu bestehen, sind sie auf finanzielle und logistische Unterstützung angewiesen. Das bereits angesprochene Programm „Demokratie fördern“ integriert Projekte dann wieder so in das bestehende System, weil die Mittel an eine Zustimmung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekoppelt sind. Je nach aktueller politischer Lage können ausschließlich auf Rechtsradikalismus spezialisierte Projekte unter Druck geraten, sich zumindest öffentlich gegen die radikale Linke zu positionieren, um die Förderung nicht zu verlieren. Die Gefahr einer linksradikalen Orientierung, welche perspektivisch systemgefährdend werden könnte, wird in der Breite effektiv entschärft.

In der Gesamtbetrachtung fällt auf, dass soziale TrägerInnen und Interessenorgas als eigentlich realpolitischer Mittelbau entweder über Finanzierungsprobleme vom Staat eingehegt werden und von ihm abhängig sind, oder sich durch bestimmte inhaltliche Problemstellen nicht in eine radikal linke Politik der Transformation einfügen können. Zudem wird hier oft eine passive Rolle gesetzt, die sich um das Abmildern der schlimmsten Zustände bemüht, aber nicht den Horizont zur radikalen Gesellschaftstransformation aufweist, um sich im besten Falle selbst überflüssig zu machen. Die Tafeln und andere Wohlfahrtsverbände müssten eigentlich postkapitalistisch eingestellt sein, sollten sie dem Anspruch ihrer Tätigkeit konsequent nachkommen.

Problembereich Parteien

 

Zu den linken Parteien zählt man gemeinhin die Linkspartei, die SPD und die Grünen. Schaut man sich die tatsächlichen Positionen an, ist einzig die Linkspartei als klassisch sozialdemokratisch zu sehen. Ein reformistischer Flügel steht im ständigen Clinch mit einem transformatorischen Flügel und es gibt auch tendenziell revolutionär ausgerichtete Grüppchen, die in Teilen offen davon sprechen, den Kapitalismus zu überwinden. Die SPD hat sich seit der vorletzten Jahrhundertwende immer weiter weg vom Anspruch des eigenen Parteiprogramms (demokratischer Sozialismus) hin zu einer staatstragenden Partei der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Eine tatsächliche Transformation des Bestehenden hin zu einem Aussetzen der Marktwirtschaft will niemand dort, unter Gerhard Schröder hat man einen radikalen Sozialabbau durchgezogen, den die CDU niemals hätte durchsetzen können. Dies führte letztlich zum Bruch mit den Gewerkschaften (die sich selbst schon vom Sozialismus verabschiedet hatten), weil man nicht mal mehr sozialdemokratisch agierte. In den letzten Jahren bemüht sich der sozialdemokratische Flügel der SPD zusehends mit Erfolg, den Einfluss des Seeheimer Kreises und der Nachwehen der Schröder-Gang zurückzudrängen und die neue SPD-Spitze ist tatsächlich eine, die man als im weitesten Sinne links bezeichnen könnte. Aber die SPD war über 100 Jahre bereit, sich selbst aufs Schafott zu schleifen und das Fallbeil auszulösen, wenn es nur darum ging, staatstragend Deutschland zu retten. Man sollte also selbst im sozialdemokratischen Sinne nicht zu viele Hoffnungen haben. Die Grünen sind inzwischen von einer sozialliberalen Partei in Teilen schnurstracks ins konservative Lager gewandert. Die antikapitalistischen Kräfte sind bereits um 1990 herum aus der Partei ausgetreten, die nächste GroKo dürfte auch nicht die SPD beinhalten und auf Landesebene versteht man sich teilweise blendend mit der CDU in den Regierungen. Hier ist man Fair Trade-bürgerlich, nicht antikapitalistisch.

Da man unter den gegebenen Umständen nicht umhin kommt, sich auch mit dem Staat als Akteur und möglichen Kampfplatz für transformatorische Politik auseinanderzusetzen, sind Parteien in jedem Fall ein wichtiger Faktor. Selbst anarcho-syndikalische Ansätzen profitierten davon, wenn die Linkspartei die Kanzlerin stellte. Parteien sind allerdings als Organisation an das Parteienrecht gebunden und unterliegen somit der Gefahr, bei realer Wirkmacht zur Systemveränderung vom Verfassungsschutz beobachtet und möglicherweise als verfassungsfeindlich eingestuft zu werden, was dann wiederum ein Parteiverbot nach sich ziehen würde. Dieses Verbot ist nach aktueller Rechtslage in der BRD an die Wirkmacht gebunden, die sogenannte „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ ernsthaft zu stören und zu gefährden. Ab dem Moment, ab dem eine Partei anfangen könnte, die Systemfage zu stellen, wird sie verboten. Damit fällt der alte marxistische Ansatz in Teilen weg, mit der Kaderpartei auf Massenbasis staatsfeindlich zu agitieren, die Revolution herbeizuführen und diese dann zu gewinnen.

Trotz allem gibt es aber Möglichkeiten, sich mit Sozialverbänden, Gewerkschaften, Interessensgruppen und außerparlamentarischer Linker auf erreichbare Ziel, koordiniertes Handeln und Aktionskonzepte zu verständigen. Die Möglichkeiten, in einem offensiven Zusammenspiel von parlamentarischem und außerparlamentarischen Druck Forderungen durchzusetzen, wäre gegeben – man müsste nur aggressiver auftreten und einen aktionsorientierten Anspruch formulieren. Eine ohne Frage schwierige Aufgabe, aber eine machbare und angesichts der aktuellen Machtlosigkeit eine erforderliche. Deshalb wird in den folgenden beiden Parts beleuchtet, was die Linke jetzt trotz ihrer Struktur- und Organisationsprobleme machen kann und vor allem sollte.

Zwischenspiel: Die Interventionistische Linke als Versuch, aus der Wirkungslosigkeit auszubrechen

Die Problemstellen der radikalen Linken im Kontext des linken Spektrums im Speziellen und der Gesellschaft allgemein sind nicht neu. Verschiedene Organisationsmodelle sind im Laufe der Jahrzehnte gescheitert oder aufgegeben worden, der Kampf hat sich zusehends entradikalisiert und der Ruf der Krawalllinken ist weit schlimmer als es die Realität hergibt. Staat und bürgerliche Gesellschaft werden vor allem im Kleinen herausgefordert, ohne sich damit aber jemals dem Ganzen entziehen zu können. Aber ob vor der Rigaer 94 eine Barrikade brennt oder nicht, ändert nichts an den Verhältnissen jenseits des Kleinen. Die Interventionistische Linke verfolgt daher einen klar mesopolitischen Ansatz. Man setzt auf Ortsgruppen im ganzen Bundesgebiet, man kann sich auf der Website nach Möglichkeiten in der (relativen) Nähe umschauen. Die Ortsgruppen agieren dann als Strukturgruppen, während man sich überregional auf einige Schwerpunktereignisse im Jahr konzentriert. G20, Ende Gelände, Pflegestreik, Rojava, Rheinmetall – man wählt die Projekte mit Bedacht und arbeitet dann Aktionsstrategien aus.

Hier geht es jetzt nicht um die inhaltliche Ausrichtung der IL und einzelner Ortsgruppen, im Fokus steht hier der Aufbau und die damit gegebenen Möglichkeiten. Durch die überregionale Struktur kann man sich Aktionen im ganzen Bundesgebiet zur Aufgabe machen. Dabei zerfleddert sich die IL aber nicht in viel zu viele Einzelthemen, sondern fährt teilweise über Jahre hinweg strukturiert und planvoll Kampagnen zu ihren Schwerpunkten. Durch die größere Anzahl an Mitgliedern und die Vernetzung zu anderen Gruppen hat man auch größere finanzielle und logistische Möglichkeiten als die Autonome Antifa Demmin mit fünf Leuten. Man hat presseerfahrene Personen, Kontakte und Erfahrungen, die alle für das Planen und Durchführen zukünftiger Kampagnen und Großaktionen hilfreich sind. Die Problematik vor allem der radikalen Linken, keine Vermittlung zwischen Kleingruppenaktivismus und radikalem Anspruch an die Gesellschaft zu haben, wird hier im Rahmen der Möglichkeiten der IL gelöst.

Ein Knackpunkt wird aber auch die IL vor eine Entscheidung stellen. Wenn sie tatsächlich einen transformatorischen Anspruch umsetzen will, muss sie sowohl zahlenmäßig als auch kampagnenbezogen größer werden. Ende Gelände ist richtig und wichtig, hat seinen Hauptimpact vermutlich aber schon gehabt. Hier ist jetzt eine Art Feedbackschleife notwendig, um die einzelnen Kampagnen auf ihren jeweiligen Status Quo abzuklopfen und zu schauen, wo man Veränderungen vornehmen muss, um dem transformatorischen Anspruch gerecht zu werden. Nicht nur Wachstum, sondern auf Schwerpunktverschiebungen hin zum Sozialismus sind notwendig. Hier wird die IL aber zwangsläufig in einen Bereich kommen, der für den Staat verbotswürdig ist. Eine radikale Linke kann nicht die BRD als bürgerlichen Staat erhalten, sondern steht ihr per Definition feindlich gegenüber. Ob und wie die IL diese Gratwanderung meistern wird, werden die kommenden Jahre zeigen. Denn was ihren bisherigen Aktionsradius angeht, läuft sie Gefahr, es sich in ihrer (im Vergleich mit anderen Gruppen relativ großen) Nische gemütlich zu machen und in eine Stagnation zu verfallen.

 

Das Bestehende vor dem Schlimmen bewahren

 

  • Wir sitzen nicht alle im selben Boot
  • Mindestforderung der Wiederherstellung aller Arbeitsschutzvorschriften auf den Stand vom 1. März
  • Jede Verschlechterung von Arbeitsschutzbestimmungen und -rechten dokumentieren und mit unmissverständlichen Gegenforderungen im Sinne der Angestellten verbinden.
  • Agitation der Beschäftigten in den gerade als „systemrelevant“ bezeichneten Bereichen mit dem Ziel sie für gewerkschaftliche Arbeit und/oder Arbeitskampf zu gewinnen
  • bestehende Stadtteilhilfen der Krisensituation anpassen und miteinander vernetzen, um eine koordinierte Struktur auf regionaler und perspektivisch landesweiter Ebene zu gewinnen
  • die bisherigen Ausnahmen für die Wirtschaft offenlegen und die Schließung aller nicht erforderlichen Betriebe anstreben
  • Wer als Lohnabhängige/r von den Maßnahmen (z.B. Kurzarbeit) betroffen ist, soll sich organisieren.

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Mad Marx – Teil 2: Der Vorschein der Donnerkuppel – Zu den ökonomischen Zusammenhängen der Corona-Krise und der Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwinden.

Hätte man Peter Altmeier noch vor ein paar Wochen gefragt, was er so von Verstaatlichung hält, er hätte wohl auf die finstersten Zeiten des „real-existierenden Sozialismus“ verwiesen und ein flammendes Plädoyer für die Stärke, Vitalität und Produktivkraft der deutschen Wirtschaft gehalten.
 
Zeitsprung. Vor wenigen Tagen stand dann folgender Satz im Spiegel: „Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) schließt für strategisch wichtige Unternehmen, die wegen der Coronakrise in Schieflage geraten, eine staatliche Beteiligung nicht aus.“ [1]. Ein Satz, der dem „Genossen“ Altmeier nicht einfach so rausgerutscht sein dürfte.
 
Auch Bundeskanzlerin Merkel, deren ganzes politisches Schaffen sich in einer geradezu irrationalen  Fetischisierung der „Schwarzen Null“ zusammenfassen lässt, ist vom Mantra der „ausgeglichenen Staatshaushalte“ abgerückt [2]. Das muss man sich tatsächlich auf der Zunge zergehen lassen: Auf das ideologische Wirken dieser Bundeskanzlerin und ihrer „Wirtschaftsweisen“ hin wurde ganz Europa eine Austeritätspolitik nie dagewesenen Ausmaßes auferlegt, in deren Zuge ganze Volkswirtschaften in den europäischen Nachbarländern plattgemacht wurden, und welche in den Staaten des europäischen Südens zum radikalen Abbau des Wohlfahrtsstaats und zu Massenverelendung geführt hat. Sie braucht in einer Pressekonferenz keine 1,7 Sekunden, um sich vom ehemaligen Markenkern ihrer Politik zu verabschieden und den Märkten zu signalisieren, dass man von Seiten der Bundesregierung wirklich zu Allem bereit ist, um die Krise in den Griff zu bekommen…Sogar die eigene Überzeugungen zu opfern.
 
Dass die VertreterInnen bürgerlicher Parteien nun doch noch zur Einsicht gekommen wären, dass eventuell das vorherrschende System und die damit verbundene Form der Vergesellschaftng vielleicht doch nicht „die besten“ seien, und man die Sache mit dem Kapitalismus vielleicht nochmal überdenken sollte, ist indes nicht zu befürchten. Es sind die Umstände der Krise, die sie zum „Vorzeigen der Instrumente“ zwingen. 
 

Die Anatomie einer Krise und der permanente Ausnahmezustand

 
Wenn also, wie bereits angesprochen, die VertreterInnen einer bürgerlich-konservativen Partei in einen ungewohnten Verbalradikalismus verfallen und sogar damit drohen, einen SPD-Finanzminister links zu überholen [3], dann hängt es nicht damit zusammen, dass sie den Verstand verloren hätten, sondern im Gegenteil: Sie wissen sehr genau um den Ernst der Lage. Und spätestens hier sollte sich niemand etwas vormachen: Die Lage ist ernst. 
Die „warenproduzierende Gesellschaft“ steht vor einer Mammut-Aufgabe, an deren Ende nicht unbedingt geschrieben steht, dass sie überlebt, sondern die Krise könntegenauso gut in gesellschaftlichem Zerfall und weltweiter (!) Massenverelendung enden. Und das hängt mit dem derzeitigen Zustand des sogenannten Spät-Kapitalismus zusammen.
 
Was ist damit konkret gemeint? (Spoiler Alert: Jetzt wird’s leider ein wenig Theorie-lastig).
 

Rückblick 2008/09

 
In den ausgehenden „Nullerjahren“  war die globale Ökonomie bereits durch mehrere Jahrzehnte neoliberaler Deregulierungspolitik geprägt. Mit Deregulierung ist in diesem Zusammenhang hauptsächlich ein Maßnahmenpaket von Steuererleichterungen für Reiche und weitgeheder Lockerung der Regularien für Finanzmarktgeschäfte gemeint, die vor allem von „Markt-Gläubigen“ wie etwa US-Präsident Ronald Reagan oder der damaligen britischen Premierministerin Margaret Thatcher umgesetzt wurden. Die Idee dahinter war, dass, wenn Unternehmen und Vermögende weniger Steuern zahlen, sie mehr von ihrem Kapital reinvestieren würden und somit auch mehr nach „unten“ umverteilt wird (Trickle-Down-Ökonomie).Bereits in den Siebzigern wurden einige lateinamerikanische Länder durch die Wirtschaftsexperimente der sogenannten „ChicagoBoys“ um den Ökonomen Milton Friedman zugrunde gerichtet, der US-gestützte Putsch Pinochets in Chile gilt als Startpunkt des Neoliberalismus als Realpolitik.  Wie nicht anders zu erwarten und trotz der warnenden Beispiele aus Lateinamerika, folgte daraus allerdings keine Mehrung des Wohlstands für alle, sondern mündete in einer sich daraus direkt ergebenden Aneinanderreihung von Wirtschaftskrisen, die durch das Kollabieren von Spekulationsblasen ausgelöst wurden (Asienkrise ’97, Russlandcrash ’98, Dotcom-Krise 2000). Die US-Notenbank FED versuchte durch niedrige Leitzinsen die Kapitalzirkulationssphäre, also die Finanzmärkte, mit billigem Geld zu fluten, um eine Rezession zu verhindern. Sie schaffte damit aber lediglich die Voraussetzungen für die darauf folgende US-Immobiliekrise, die weite Teile der USA und Europas erfassen sollte. Defacto leistete der durch die Zentralbank induzierte Liquiditätsschub nämlich der massiven Kreditaufnahme Vorschub, die durchaus auch beabsichtigt war. Das Geld sollte dazu dienen, die ins Stocken geratene Produktion durch Kreditfinanzierung wieder anzuwerfen.
 
Dies ist die Grundlage einer auf kreditfinanzierten Produktion im Kaptitalismus. Der Haken an der Sache ist: Je mehr Geld in die Kapitalzirkulationssphäre und damit in das System gepumpt wird, desto mehr von diesem Geld wird letztlich als Kredit aufgenommen, desto höher ist am Ende der Schuldenberg. Hinzu kommt, dass die Produktion mittlerweile derart effizient geworden ist und die Märkte mit einer Warenschwenmme versorgen kann, dass die Nachfrage ebenfalls nur durch Kreditfinanzierung künstlich erzeugt werden muss. Vom Hausbau über den Autokauf bis hin zum Macbook, alles wird auf Raten oder per Kredit gekauft, weil der Tauschwert reell bei den KäuferInnen nur durch die Aufnahme fiktiven Kapitals ausgeglichen wird.
 
Ob Dotcom-, Immobilien- oder Liquiditätsblase: die Blasenbildung auf den Finanzmärkten wirkt also immer auch als ein systemischer Transmissionsriemen zur Generierung weiterer Schuldenberge, da der Kapitalismus aufgrund der ungeheuren Produktivitätsfortschritte der letzten Dekaden seinen Verwertungskreislauf in der Warenpruduktion nur noch durch kreditfinanzierte Nachfrage aufrechterhalten kann. So funktioniert in Ansätzen die Bildung einer Kreditblase. Die Art, wie nun Produktion im Spätkapitalismus funktioniert, also durch schuldenfinanzierte Produktion und auf Pump induzierte Nachfrage, bildet nur scheinbar die Grundlage einer stabilen wirtschaftlichen Entwicklung – tatsächlich birgt sie die systemische Krise schon in sich.
 
Somit war und ist das spätkapitalistische Weltsystem  weiterhin von einer Finanzblasenbildung erfasst. Tatsächlich befindet es sich eigentlich seit dem Durchmarsch des Neoliberalismus und der damit einhergehenden „Finanzialisierung“ des Kapitalismus in einer beständig anwachsenden Blasenökonomie, mit der die Schuldenberge generiert werden, die eine hyperproduktive Warenproduktion mittels ebenfalls kreditfinanzierter Nachfrage überhaupt am Laufen halten [4].
 

Eine beispiellose Rettung

 
Als am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman-Brothers Holding dann pleite geht, droht weltweit der Zahlungsausfall. Banken können die laufenden Kredite nicht mehr bedienen, die Zinsen auf Kredite steigen ins Unermessliche, die Versorgung mit frischem Kapital an den Finanzmärkten wird unmöglich, Hedgefond-Manager müssen dabei zusehen, wie der Wert ihrer Finanzmarktprodukte dahinschmilzt, sprich: Die Blase ist geplatzt, die große Entwertung hat begonnen. 
Schnell wird klar: Das ist nicht einfach nur eine weitere Kreditblase die da geplatzt ist. Es drohen mehrere „system-relevante Banken gleich mit entwertet zu werden. System-relevant deshalb, weil sie sehr viele, sehr große Unternehmen mit Krediten zur Finanzierung ihrer Produktion versorgen. Fallen diese Banken weg, fallen die Unternehmen weg. Fallen die Unternehmen weg, fällt die Produktion weg. Fällt die Produktion weg, ist der globale System-Crash nicht mehr abzuwenden. 
 
Was nun von staatlicher Seite weltweit anlief, ist eine in ihrer Größe und Verzweiflung beispiellose Rettungsaktion dieses Systems. Die Notenbanken setzten ihren Leitzins noch weiter nach unten, es wurde damit begonnen, die faulen Papiere in großem Stil aufzukaufen, Staaten setzen kostspielige Konjunkturpakete auf und treiben ihre Staatsverschuldung zur Bankenrettung enorm in die Höhe. Für die Spielschulden der geplatzen Spekulationsblasen mussten erhebliche staatliche Steuermittel aufgewendet werden. Es setze global ein Phönomen ein, dass man vieleicht als „Krisensozialismus“ bezeichnen könnte: Während die Gewinne des Kasinospiels privatisiert wurden, wurden die Verluste mittels Verstaatlichung, also sozusagen „Sozialisierung“, an diejenigen weitergereicht, die überhaupt nicht am Spieltisch gestanden hatten – an die SteuerzahlerInnen
Angesichts von Milliarden Steuergeldern, die von den nationalen Haushalten zur Rettung des Systems in letzer Sekunde aufgewendet werden mussten, kam es tatsächlich für einen kurzen Augenblick zur offenen Systemfrage, und zwar ausgerechnet nicht von den Linken. PolitikerInnen aller Couleur brachten ihre Wut über den „Kasino-Kapitalismus“ zum Ausdruck und überschlugen sich mit Regulierungsmaßnahmen. Aufhorchen ließ ausgerechnet ein Artikel des Journalisten und FAZ-Mitbegründers Frank Schirrmacher, ausgewiesener Konservativer, in dem er sich selbst die Frage stellte, ob Marx und diese Linken, gegen die er Zeit seines Lebens polemisiert hatte, angesichts der sich ereignenden Katastrophe nicht vielleicht die ganze Zeit recht gehabt hätten [5]. 
 
Kaum hatte sich der ökonomische Normalbetrieb wieder eingestellt, war davon freilich keine Rede mehr. Warum auch, es lief doch alles wieder… 
Defacto ging die Blasenbildungsökonomie weiter, nur dass dieses mal die Schuldenblase verlagert worden war, nämlich von den nun mit frischem Steuergeld versorgten Banken in die nun wegen der Bankenrettung hoch verschuldeten Staatshaushalte. Die direkte Folge davon war eine gerade in Europa von Deutschland vorangetriebene, gnadenlose Austeritätspolitik. Unter dem deutsch-europäischen Spardiktat wurden insbesondere die Länder des europäischen Südens gezwungen, ihre Staatshaushalte zu sanieren, indem sie ihre Rentenkassen rigoros zusammenkürzten, ihr Gesundheitswesen und ihre Sozialsysteme rasierten und ihr „Tafelsilber“, also Staatsbetriebe, Flughäfen oder Häfen, privatisierten. Von weitreichenden Regulierungsmaßnahmen, die noch während der Krise diskutiert wurden, etwa einer Finanztransaktionssteuer oder Ähnlichem, war nun keine Rede mehr. Für den Kapitalismus als Wirtschaftssystem bedeutet dies nach wie vor, dass diese systemische Krise des Kapitals – begriffen als ein sich schubweise entfaltender historischer Prozess zunehmender innerer Widerspruchsentfaltung – somit nie überwunden worden ist.
 

Krise und Kapitalismus 

 
Seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/09 und dem daraus resultierenden Zustand der permanenten Krisenabwehr hat sich an der gegenwärtigen Verfasstheit des Spätkapitalismus und der Form seiner Vergesellschaftung nichts geändert. Die Notenbanken halten quasi seit 2009 die Leitzinsen auf einem Niedrigstniveau. Die Kapitalzirkulationssphäre wird weiter mit billigem Geld geflutet, um die kreditfinanzierte Produktion irgednwie am Laufen zu halten. Die Inflation wurde nur verhindert, indem man das frische Geld nicht in den normalen Geldkreislauf fließen ließ, sondern es direkt an die Unternhemen zur Kreditaufnahme weitergereicht wurde. Die Kreditblasen steigen weiter, die Blasenökonomie nimmt wieder ihren Lauf. Doch solange die Maschine läuft, stellt man keine Fragen. Dass man sich angesichts des Zustands des Systems eigentlich seit einem Jahrzent in einem permanenten Ausnahmezustand befindet, wird ausgeblendet. Man hat sich von Seiten der Politik derart in die Krisenfalle manövriert, dass einem überhaupt nichts anderes übrig bleibt, als mit dem Auftürmen des Schuldenbergs weiterzumachen.
 
Nun sind wachsende Schuldenberge an und für sich erstmal noch kein Problem, wenn dadurch die Wirtschaft wächst. Sie dürfen eben nur nicht schneller wachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Genau das ist aber seit den 80er Jahren der Fall. Die Schuldenberge wachsen aus den o.g. Gründen schneller, als das Wirtschafswachstum hinterher käme. Die weltweite Gesamtverschuldung beträgt im Verhältnis zum Weltwirtschaftsprodukt 322 Prozent (zum Vergleich, bei Ausbruch der Krise 2008 waren es 300 Prozent, um die Jahrhundertwende ungefähr 260 Prozent) [6]. Die Ökonomie im Spätkapitalismus wächst also nicht aus ihren Schulden heraus, im Gegenteil: Sie kann sich noch so sehr abstramplen, der Schuldenturmbau ist permanent mehrere Schritte voraus – ein Teufelskreis, der zwangsläufig das System in Schieflage bringen muss.
 

Les Jeux sont faits…

 
In dieser Situation nun entfaltet sich die Corona-Pandemie. Bedingt durch die notwendigen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wird die Warenproduktion weltweit drastisch heruntergefahren und Kapitalgenerierung stark beeinträchtigt. Bei den deutschen Automobilherstellern, also DER deutschen Schlüsselindustrie, an der zusammen mit den Zulieferbetrieben Millionen Jobs hängen, stehen die Bänder still. Da ist nicht nur mal eben ein wenig Sand im Getriebe, da wurde gleich die ganze Brechstange reingesteckt. 
 
Der bisherige Produktionsausfall ist für ein derart instabiles System alles andere als zuträglich und je länger er andauert und umso mehr Betriebe er erfasst, desto drastischer wird die Situation. Das große Problem sind dieses Mal keine Hypotheken, die in Wertpapiere verwandelt wurden, sondern Unternehmensanleihen und Verbindlichkeiten in den Konzernbilanzen. Für den Fall, dass die Unternehmen ihre Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen können, drohen Zahlungsausfälle, die nicht mehr in Milliarden, sondern in Billionen gemessen werden müssen. Genau das könnte bei einem weiteren Produktionsausfall passieren. Um die Ausmaße dieser Verbindlickeiten in etwa zu beziffern: Die Konzernschulden jenseits des Finanzsektors belaufen sich weltweit auf um die 76 Billionen US Dollar (zum Vergleich, 2009 beliefen sie sich noch auf um die 48 Billionen US Dollar)[6] Bedingt durch die Einbindung ganzer Lieferketten und Finanzdienstleister in die Produktion könnte der Zahlungsausfall von nur wenigen Unternhemen also eine Kettenreaktion auslösen, bei der ganze Industriezweige an den Rand des Abgrunds befördert werden. Inzwischen zahlen global agierende Konzerne wie Adidas oder H&M nicht einmal mehr die Miete für ihre Geschäfte, die sie geschlossen halten müssen, und sorgen damit direkt für riesige Löcher in der Immobilienbranche – ein Dominoeffekt. [7]
 
Während in den verschiedendn Wirtschaftsministerien und Notenbankbüros nun hektisch die Taschenrechner gezückt werden, zeichnet sich das Szenario der heraufziehenden Krise bereits ab. Ausgelöst durch die Pandemie beginnt die durch die Notenbanken inflationierte Liquiditätsblase zu platzen. Der jähe Produktions- und Nachfrageeinbruch verwandelt die Unternehmenskredite in Finanzmarktschrott um und löst eine Kreditklemme aus. Eine Welle von Zahlungsausfällen und Anleihenherabstufungen lösen einen Schock an den hypersensiblen Finanzmärkten aus. Diese Kreditklemme würde dann in Wechselwirkung mit der Realwirtschaft treten und den konjunkturellen Abwärtssog unumkehrbar verstärken. Ein irreversibler „Point of No Return“ wäre überschritten, der das System in ein unkontrollierbares Chaos einer sich immer rapide ausbreitenden Entwertungsdynamik stürzen würde [6]. Mit anderen Worten: Game Over!
 

Krisensozialismus

 
Angesichts dessen ist der sich langsam manifestierende Eindruck von Panik bei einigen PolitikerInnen, gemessen an ihren  Beteuerungen, wirklich alles in die Wagschale werfen zu wollen, um den drohenden Systemkollaps abzuwenden, nicht mehr zu leugnen. Wie eingangs bemerkt: Die Lage ist ernst.
Um das derzeitige(!) Ausmaß der Katastrophe zu beziffern, hat das Wirtschaftsinstitut IFO eine Studie erstellt, bei der sie mit einer nur 60%igen Auslastung der Wirtschaft über 3 Monate rechnet. Je nach Szenario würde die deutsche Wirtschaft einen Einbruch von etwa -7,2 bis -20,6 Prozent erleiden. Das käme einem Verlust von 255 Milliarden bis 739 Milliarden gleich [8]. Eine derartige Rezession hat es in Deutschland seit den 1920er Jahren nicht mehr gegeben. Wer abhängig beschäftigt ist, dem dämmert, dass von massiven Lohneinbußen bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes alles möglich ist.Bei den Selbstständigen und UnternehmerInnenim kleinen und mittelständischen Bereich sieht es kaum besser aus. Wer als KleinanlegerIn seine Rente mit Aktien, finanzbasierten Privatrenten oder anderen Finanzprodukten aufbessern wollte, muss um seine Ersparnisse fürchten. Die Krise ist also für die Masse der Gesellschaft potentiell existenzbedrohend.
 
Der Ernst der Lage wird von Vielen erkannt oder zumindest erahnt. Die Staaten reagieren weltweit aktuell mit etwas, was wir als Krisensozialismus bezeichnen. Hier wird mit Maßnahmen, die nicht der kapitalistischen Verwertungslogik folgen, versucht das Zusammenbrechen der Gesundheitssysteme zu verhindern. In Italien und Spanien wurden zum Beispiel alle Betriebe stillgelegt, die keine lebensnotwendigen Güter und Dienstleistungen anbieten. Der Kapitalismus ist damit effektiv außer Kraft gesetzt und die Staaten agieren mit einer Form der Krisenplanwirtschaft, zumidest temporär. Diese Krisenplanwirtschaft ist ein Zwitter aus einer tatsächlichen Planwirtschaft und der kapitalistischen Wirtschaftsweise, da die noch aktiven Betriebe kapitalistisch organisiert sind und man plant, nach Ende der Maßnahmen den Kapitalismus wieder hochzufahren. Dennoch ist sind Politiken wie das (temporäre) Verstaatlichen aller Krankenhäuser in Spanien [9] oder das Aussetzen von Stromkosten und Mieten für Unternehmen in Frankreich [10] eigentlich Maßnahmen aus dem sozialistischen Werkzeugkoffer. Gewinnmaximierung hat damit nicht viel zu tun.
 
Es ist aber auch offensichtlich, dass diese Art der Pandemiebekämpfung immer stärker mit den Bedürfnissen der kapitalistischen Produktionsweise kollidieren. Die Wirtschaft, wie hier bereits ausgeführt, steht durch die Blasenökonomie eh auf Messers Schneide und jede Stunde, die man nicht oder nur eingeschränkt produzieren und Geld erweirtschaften kann, führt die nationalen Ökonomien und letztendlich die Weltwirtschaft immer näher an den Abgrund. Der Tanz auf dem Vulkan wird stündlich heißer. Die Erfordernisse der kapitalistischen Produktion stehen somit im direkten Widerspruch zum Bestreben, möglichst wenig Menschen durch die Pandemie und die mögliche Überlastung der Gesundheitssysteme sterben zu lassen. Je länger die Maßnahmen gehen, desto lauter und einflussreicher werden die Stimmen, die eine Lockerung oder gar Aufhebung fordern.
 

Der Vorschein der Donnerkuppel

 
In den USA haben die Republikaner bereits den sozialdarwinistischen Ansatz auf die Agenda gesetzt, einfach einen Teil der Risikogruppen draufgehen zu lassen, um den Kapitalismus am Laufen zu halten. Man signalisiert auch die Bereitschaft, sich selber für die Wirtschaft zu opfern. [11] In der bürgerlichen Presse weltweit werden die Stimmen lauter, die eine Abwägung zwischen Wirtschaftswachstum und Toten fordern. Im Spiegel leitartikelt man offen und direkt: „Ja, man darf den wirtschaftlichen Schaden gegen Menschenleben abwägen“. [12] Wie viele Menschenleben ist denn so ein Zehntelprozent Wirtschaftswachstum wert? Während man sich sonst nicht zu schade ist, „dem Kommunismus“ dutzende Millionen Tote zuzuschanzen, diskutiert man hier ungeniert darüber, Menschen für rollende Produktionsbänder draufgehen zu lassen. Auch die eigene Mutter oder den Bekannten, der gerade eine Chemotherapie durchmacht. „Der Tod eines Menschen: Das ist eine Tragödie. Hundertausend Tote: Das ist eine Statistik!“ Dieses Zitat Kurt Tucholskys, welches fälschlicherweise Stalin zugeschrieben, bringt das sozialdarwinistische Mantra der Bürgerlichen auf den Punkt. Und mit Statistiken können sie ja ganz gut arbeiten, dazu gibt es in der Betriebswirtschaftslehre jede Menge Werkzeuge. Der Mensch wird hier in Form von Todesprognosen erneut zu einer Variable in der Verwertungslogik. Ähnliche Töne wurden bereits in der FAZ angeschlagen: „Noch will kaum jemand darüber offen diskutieren, aber die Frage nach der Verhältnismäßigkeit drängt sich auf. Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, für die das Virus lebensbedrohlich ist, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“ [13] Im reichenweitenstarken Sprachrohr der Wirtschaft, dem Handelsblatt, interviewte man den Investor Didelius und dieser kam zu ähnlich sozialdarwinistischen Schlüssen. [14]
 
Der FDP-Politiker Buschmann hat zusätzlich im Spiegel ganz ungeniert damit gedroht, dass die „Mittelschicht“ (was auch immer die FDP als Mittelschicht ansieht, vermutlich ist da die Friedrich-Merz-Mittelschicht gemeint) zum Faschismus greift, wenn man nicht voll einschwenkt auf die Forderungen und Bedürfnisse der Besitzenden. [15] Damit hat er historisch gesehen durchaus recht, der Faschismus ist aus einer Krisensituation der brügerlichen Gesellschaften entstanden. Hier verbindet er diese Feststellung aber mit knallhartem Klassenkampf von oben, ganz so als wäre das einzige Mittel gegen den sonst automatisch eintretenden Faschismus das Sichern der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Etwas, was den Faschismus in Italien übrigens so attraktiv für die Kapitalisten gemacht hat. Er versprach eine Zerschlagung der radikalen Linken und hielt dieses Versprechen auch. Hier ist für Buschmann die einzig gangbare Option, den Besitzenden vorneweg Honig ums Maul zu schmieren, damit es nicht Höcke später richten wird. Bei dieser Klientelpolitik wird allerdings denen, die jetzt schon sozioökonomisch benachteiligt sind, noch mal richtig an die Substanz gegangen. Den Gürtel enger schnallen müssen ja eh immer nur die, die ihn schon seht eng tragen. Eine Klatten oder ein Maschmeyer sind damit nie gemeint. Die ärmeren Bevölkerungsschichten werden noch weiter abgewertet und es wird verstärkt zu realen Existenzkämpfen kommen – die Donnerkuppel lässt grüßen.
 
Was überhaupt nicht als Option gedacht wird, ist eine Möglichkeit jenseits eines wortwörtlichen „survival of the fittest“ weil man der Warenproduktion die Risikogruppen opfert und die Schwachen durch Covid19 aussortieren lässt. Es tritt immer deutlicher hervor, dass Adornos Diagnose, der Gedanke es könne überhaupt anders sein, sei nahezu zur unmöglichen Anstrengung geworden, dieser Tage ihre volle Wahrheit entfaltet. Die Vorstellung, unser Wirtschaftssystem könnte auch ganz anders organisiert sein, besser in Hinsicht mit der Realität bzw. Möglichkeit einer solchen Krise menschenwürdig umgehen zu können und generell vorrangig an den Bedürfnissen aller Menschen orientiert sein, scheint für viele derartig anstrengend zu sein, dass es einfacher ist hinter Kant zurückzufallen und solche „Gedankenspiele“ zu betreiben. Lieber macht man sich auf in die Barbarei, als auch nur in Betracht zu ziehen, dass der eigene Teller ziemlich klein ist und man auch mal den Rand schauen könnte. Wer nur Kapitalismus kennt, wird eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus denken können. 
 
Aber welche Maßnahmen werden aktuell ganz konret ergriffen, um krisensozialistisch in Wirtschaft und Gesellschaft einzugreifen? Und was genau können undvor allem sollten Linke jetzt tun? Wie steht es um die Linke an sich und wie gut kann sie auf die Krise reagierten? Alles das wird im dritten Teil der Mad Marx-Trilogie beleuchtet, wenn der Frage „Sozialismus oder Donnerkuppel?“ näher auf den Grund gegangen wird. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Mad Marx – Corona und der Vorschein der Donnerkuppel – Teil 1: Nicht dumm machen lassen und Einführung in den Kapitalismus

Teil 1 – Nicht dumm machen lassen und Einführung in den Kapitalismus

 
Das Jahr 2020 wird das Jahr der Coronakrise. Sofern nicht der Dritte Weltkrieg unabhängig von ihr ausbricht oder sich Aliens melden, dürfte kein anderes Ereignis die kommenden Monate derart prägen wie die weltweite Pandemie und dieMaßnahmen zu ihrer Eindämmung und Verlangsamung. Das Ausmaß der Folgen ist in seiner Gesamtheit noch nicht abzusehen, aber sie werden ebenso massiv sein wie die aktuellen Maßnahmen. Um dem Geschehen Rechnung zu tragen, werden wir uns in einer kleinen Serie an die Arbeit machen – im wörtlichen Sinne. Die Lohnarbeit und ihre Organisation sind zentral für die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die gerade auf eine gigantische Krise zusteuert und deren Umstände selbstverschuldet sind. Die Corona-Pandemie ist nur der Katalysator, der die im System angelegte Wertvernichtung zur Explosion bringt. In vorerst drei Teilen der Mad Marx-Serie werden wir der Sache mit dem Kapitalismus auf den Grund gehen, die Vorgeschichte der jetzigen Krise skizzieren und uns mit dem sogenannten Krisensozialismus und dem Vorschein der Donnerkuppel beschäftigen. Außerdem wollen wir Anstöße dazu geben, was Linke jetzt tun können und sollten, um nach Ende des Krisensozialismus nicht noch machtloser als zu sein als jetzt. Denn eines ist sicher: Der Klassenkampf von oben hat längst begonnen. Die Mad Marx-Trilogie wird in sich geschlossen sein, andere Beiträge zur Coronakrise können aber ohne konkreten inhaltlichen Bezug folgen, um alle gesammelt zu haben. 
 
 

Pretext – wie es gerade ist und nicht bleiben kann

 
 
Aktuell befinden wir uns am Beginn eines weltweiten Kollektivereignisses, welches in dieser Form zu unseren Lebzeiten noch nicht da war. Mehr oder weniger zeitgleich findet ein weltweiter Shutdown statt, um die Kapazitäten der Gesundheitseinrichtungen möglichst nicht zu überlasten und somit die Zahl der Todesopfer so niedrig wie möglich zu halten. Aber nur weil alle davon betroffen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir alle gleichermaßen davon betroffen sind und die gleichen Interessen verfolgen. Diverse Interessengruppen werden dieses Ereignis möglichst in ihrem Sinne nutzen (oder tun es bereits) und versuchen, das Beste oder vielleicht das am wenigsten Schlimme für sich aus der Situation herauszuholen. Was wir gerade beobachten können, ist ein sehr seltenes Ereignis innerhalb der Geschichte des Kapitalismus. Für die Phase der Pandemie hat die Verwertungslogik, das Streben nach Maximalgewinnen und Kapitalvermehrung, vorerstnicht mehr das Primat als oberste Richtlinie zur Entscheidungsfindung. Der Kapitalismus als solcher gerät angesichts der Maßnahmen ins Stocken und die kapitalistische Organisation von Arbeit und Produktion muss sich (zumindest aktuell in den meisten Ländern) den Maßnahmen zur Pandemieeindämmung unterordnen.
 
Wir alle sind von der Krise und den staatlich verordneten Maßnahmen betroffen. Auf Teile der Maßnahmen werden wir in Teil 2 zu sprechen kommen, wir bezeichnen die staatliche Politik des Durchgreifens in die unterschiedlichen Bereiche als Krisensozialismus und werden das dort näher ausführen. Diesen Maßnahmen stehen wir in der Regel machtlos gegenüber, wir können nur reagieren und uns innerhalb des aktuellen Maßnahmenkatalogs in den uns diktierten Verhältnissen einrichten, solange wir keine Strafe riskieren wollen. Mit Beginn des Februars wurde man von den Nachrichten und den Maßnahmenverkündigungen im Tagestakt förmlich überrollt. Jeden Tag gab es Neuigkeiten und neue Einschränkungen, für viele Menschen wurde die Frage nach der Stilllegung ihrer Betriebe immer dringlicher und letztendlich Realität. Millionen Menschen stehen allein in Deutschland vor dem Nichts und schauen in die dunkle Ungewissheit namens Zukunft. Wie lange die Maßnahmen anhalten werden, ist ungewiss. Ebenso wie es dann weitergeht und wie schlimm die Krise wirtschaftlich zuschlägt. Viele fallen aktuell in die Kurzarbeit und in die Mindestsicherung (sprich Hartz 4). Studierende dürfen diese aber nicht beantragen und haben aktuell auch kaum eine Verdienstmöglichkeit, sind also ganz real in ihrer Existenz bedroht, falls sie nicht volles BAfög bekommen oder auf Unterstützung aus der Familie hoffen können.
 
 

Keine selbstverschuldete Unmündigkeit

 
 
Als einzelner Mensch ist man der Wucht dieser Ereignisse gefühlt hilflos ausgeliefert. Der Weltgeist zu Pferde galoppiert mit rasender Geschwindigkeit an einem vorbei und man schafft es kaum, den Überblick über auch nur die wichtigsten Meldungen und Entwicklungen zu behalten. Diese Ohnmacht und eigene Hilflosigkeit versuchen alle irgendwie zu verarbeiten. Einfluss nehmen kann man nicht, Zeit haben viele Menschen gerade sehr viel mehr als ihnen lieb ist – also wird in den sozialen Netzwerken zusammen mit Bekannten verarbeitet, was kaum zu greifen ist. Man tippt seine Ansichten, Ängste, Hoffnungen und Lebenssituationen in die Tastatur und erhofft sich dadurch, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen. Sogenannte resiliente Freundeskreise sind dabei sehr hilfreich, weil man sich in diesen solidarisch um alle kümmert und sich gemeinschaftlich gegenseitig bestärkt.
 
So verständlich und sinnvoll diese Strategie zur Bewältigung auch grundsätzlich sein mag, so sind doch bemerkenswert viele Personen nicht um nun sagen wir mal fragwürdige oder diskussionswürdige Ansichten und Forderungen verlegen. Die aktuelle Situation wird im Zusammenspiel mit der jeweiligen Weltanschauung aufbereitet.   Die Resultate dessen müssen nicht immer spannend sein, können aber auch richtig schief gehen.   Verschwörungsmythologisch angehauchte Erklärungsversuche geben sich mit unverhohlenen Wünschen nach dem starken Mann die Klinke in die Hand, sozialdarwinistische Forderungen zur Rettung der armen Wirtschaft auf Kosten der Risikogruppen finden ihren Platz neben Endzeitszenarien, Mad Max-Stimmung und NWO-Geschwurbel. Auch in linken Kreisen ist diese allgemeine Tendenz zu beobachten, sei es nun das überschwängliche Loben eines Söders oder das unhinterfragende Abnicken aller Maßnahmen, während auch nur der leiseste Hauch der Kritik in den Verdacht des gewollten Massenmords geraten kann. Wenn viele Menschen zu einem Thema schreiben, kommt eben auch viel Mist dabei raus.
 

Aber man darf sich von der Krise nicht dumm machen lassen und sollte sich am besten zwei Mal überlegen, ob man bestimmte Mutmaßungen oder Forderungen in zwei Jahren auch noch so unterschreiben würde. Gerade als Linke mit einem emanzipatorischen Anspruch, die bestehenden Verhältnisse zu verbessern und eine bessere Zukunft für uns alle zu gestalten, sollte man nicht gedankenlos die Waffen des Geistes strecken und sich von der allgemeinen Situation unreflektiert mitreißen lassen. Wozu hat man fast 200 Jahre Theoriegeschichte zur Verfügung, wenn man sich dann in eine selbstgewählte Unmündigkeit begibt und nicht zur kritischen Betrachtung des Zeitgeschehens ansetzt? Genau jetzt kann man Analysen und Ausblicke liefern, Menschen agitieren, in der Nachbarschaft helfen und im Idealfall Personen organisieren, um dann eine tatsächliche Wirkmacht zu haben. Ziel muss es sein, in der aktuellen Krise das Schlimmste zu verhindern und in eine Position zu kommen, selber zu gestalten, nicht mehr hilflos zu sein.

 
 

Die Krise der Verwertungslogik

 
 
Das liberale Mantra des „Das regelt der Markt“ funktioniert aktuell nicht. Präziser gesagt: Es würde zu einem nach Einkommen und Verwertbarkeit gestaffelten Sozialdarwinismus führen, bei dem die Personen mit geringem Kapital und niedriger Verwertbarkeit für die Produktion als erstes den Löffel abgeben würden. Und da reden wir nicht nur über zehn oder zwanzig Personen, sondern über gesamte Alterskohorten und Bevölkerungsschichten. Sollte es sich nicht rechnen, Menschen medizinisch zu versorgen, dann würde unter strenger Marktlogik nicht all diesen Menschen im Rahmen des Möglichen geholfen. In den USA sieht man diese Tendenz gerade besonders offenkundig. Dort gibt es eine Kommunikationsstrategie innerhalb der Parteien. Man erarbeitet intern sogenannte „talking points“, die dann an Funktionäre innerhalb der Partei verteilt werden. Diese Argumentationsstrategien werden über die verfügbaren Kanäle gestreut und man platziert Personen in Talkshows oder Fernsehinterviews, um sie landesweit publik zu machen. Aktuell fahren die Republikaner den Ansatz, von einer Todesrate von „nur“ einem Prozent auszugehen und fordern ganz offen, die Risikogruppen müssten bereit sein, sich für ein Fortlaufen der Warenproduktion zu opfern. Die USA haben über 300 Millionen Einwohner*innen, selbst bei einem Prozent Sterberate ist man schnell im Millionenbereich, was die Opferzahlen angeht. Da wird offener Sozialdarwinismus gefordert und als Kommunikationsstrategie gefahren. Was man sonst in dystopischen Endzeitfilmen vernehmen kann, kommt hier ganz real von hohen politischen Funktionsträgern.
 
Aber was ist das jetzt eigentlich für ein Kapitalismus, dem in den USA Menschen geopfert werden sollen und der seit etwa 200 Jahren die weltweite Organisation von Arbeits- und Güterproduktion darstellt? Warum steht dessen Grundkozeption den notwendigen und sinnvollen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung im Weg und wieso steht das weltweite Wirtschaftssystem jetzt vor einem Zusammenbruch, dessen Folgen katastrophal wären? Um das zu verstehen, werden im ersten Teil unserer Serie ein wenig die Grundlagen der kapitalistischen Produktion aufgeschlüsselt. Dazu zählen die Lohnarbeit, die Produktion von Waren für einen Markt, die kapitalistische Verwertungslogik und die Unterteilung der Arbeit in notwendige oder erforderliche und systembedingte Mehrarbeit. Der letzte Punkt wird dann das behandeln, was man aktuell mit dem Schlagwort „systemrelevant“ versieht. Diese Bezeichnung ist für die folgenden Ausführungen insofern irreführend, da diese Arbeiten und Tätigkeiten nicht für das kapitalistische System systemrelevant sind, sondern für das Aufrechterhalten der Gesellschaft als solcher, egal welche Ausprägung sie angenommen hat. Daher wird im Artikel weiter von notwendiger oder erforderlicher Arbeit die Rede sein, um keine falschen Implikationen zu wecken.
 
 

Kapitalismus – was ist das?

 
 
Als erstes muss mit einem populären Fehler aufgeräumt werden. Der Kapitalismus stellt nichts her, es gibt keine „Güter des Kapitalismus“ oder dergleichen. Kapitalismus beschreibt im Kern, wie Arbeit, Güterproduktion und Dienstleistungen organisiert sind. Das meint die Struktur des Wirtschaftssystems und der Produktion, nicht den Inhalt derselben. So sind Hosen ja nicht ausschließlich Güter der Steinzeit, sondern einfach nur Hosen. Hergestellt werden solche Güter durch Menschen und entsprechende Hilfsmittel. Um ein Handy zu produzieren, wird ein gewisser Aufwand an Zeit, Materialien und Arbeitskraft benötigt – und dieser Aufwand ändert sich  erst einmal nicht, würde es im Feudalismus oder im Anarchismus hergestellt. Dieses eine konkrete Mobiltelefon braucht ja im Kapitalismus nicht plötzlich weniger Metall und Transistoren. Wie jetzt aber der Herstellungsprozess organisiert ist, wer von der Güterproduktion wie stark profitiert und wer nicht, sind wiederum Eigenschaften, die das Wirtschaftssystem an sich beschreibt
 
Eine Besonderheit des Kapitalismus ist die Lohnarbeit als Norm des Einkommens. So gut wie jede geleistete Arbeit wird in Geld vergütet und Arbeitsplatz und Schlafplatz sind nicht am selben Ort. Dies ist ein zentrales Merkmal des Kapitalismus und hat mit einigen spezifischen Eigenschaften zu tun. Die Trennung von Arbeitsplatz und Schlafort ist unabdingbar für die Entwicklung immer komplexerer Produktionsverfahren und größerer Stückzahlen. Ein Auto komplett in einer Werkstatt herzustellen oder eine Fabrik zur Serienproduktion zu haben, macht einen gewaltigen Unterschied. Ebenfalls entscheidend ist die Lohnarbeit für die entwickelte Geldwirtschaft. Hat früher der Handwerksmeister die Versorgung seines Betriebes übernommen und auch Schlafplätze zur Verfügung gestellt, sind die Angestellten nun auf sich allein gestellt und müssen sich selbstständig darum kümmern. Da sie Geld für ihre geleistete Arbeit erhalten, können sie sämtliche Güter, die sie für ihr Leben brauchen, auch nur mit Geld bezahlen. Ebenso wird die Miete in Geld bezahlt – alles hat auf einmal einen Wert und kann gekauft werden. Tauschhandel gibt es so gut wie nicht mehr. Historisch betrachtet haben sich all diese Dinge gegenseitig in der Entwicklung vorangetrieben und bedingt. Man kann also festhalten, dass Geld im Kapitalismus die Funktion hat, den „Wert“ von Gütern, Dienstleistungen und Arbteit zu einander ins Verhältnis zu setzen. 
 
Diese Entwicklung änderte unter anderem das Leben auf dem Land dramatisch, da man auch dort plötzlich Miete zahlen sollte für Häuser und Land, welche man vorher gegen Bewirtschaftung und Abgabe eines Ernteteils bewohnte. Der Umstieg von der Produktion im Handwerk zur industriellen Massen- bzw. Großproduktion änderte auch das Wesen der Produktionsmotivation. Anstatt für Einzelpersonen einen konkreten Bedarf zu decken (einen Stuhl zum Beispiel), produziert man jetzt hunderte, tausende Stühle und hofft, diese dann auf einem Markt verkaufen zu können. Die Produktion wurde also von der unmittelbaren Bedarfsdeckung entkoppelt. Güter werden jetzt für einen Markt produziert, auf dem sie aus Sicht der Unternehmen hoffentlich gekauft werden und einen möglichst hohen Gewinn einbringen. Aus diesem Grund spricht man beim Kapitalismus auch von einer Marktwirtschaft. Idealtypisch stellt sich der Liberalismus es so vor, dass sich auf diesem Markt Angebot und Nachfrage genau austarieren und es keine Überproduktion gäbe, während durch die Konkurrenz Produkte automatisch immer den günstigsten Preis haben, weil die Kundschaft ja zur billigeren Konkurrenz wechseln könnte. Wer sich die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt in den größeren Städten angeschaut hat, weiß ganz gut, dass diese idealtypische Vorstellung vor allem eines ist: ein Hirngespinst. 
 
 

Waren vs. Güter

 
 
Wie bereits ausgeführt, sind Güter und Dienstleistungen nicht Wesensmerkmale des Kapitalismus, da dieser im Kern die Organisation von Arbeit und Produktion beschreibt. Es gibt aber dennoch viele Eigenschaften und Ausprägungen, die kapitalismusspezifisch sind. So wurden schon immer Güter produziert. Im Kapitalismus nennt man Güter Waren, womit man den Umstand kenntlich macht, dass diese mit Absicht der Gewinnmaximierung für einen Markt produziert werden. Dadurch bedingt werden Güter, Dienstleistungen, Menschen und Teile der Gesellschaft warenförmig zugerichtet, weil sie den Marktmechanismen teilweise oder ganz untergeordnet werden. Durch Rationalisierung und die Aufsplittung der Produktionsprozesse in immer kleinere und separat durchführbare Produktionsschritte, welche dann wiederum in eigene Produktionsstätten ausgegliedert werden können (man nennt das arbeitsteilige Differenzierung), wird auch der Mensch zu einem wichtigen Faktor bei der Berechnung von Produktionszeiten, Kosten und Materialaufwand. Der Mensch wird zu einer gleichwertigen Zahl neben den Rohstoffkosten und der Stromrechnung. Im Englischen nennt man zum Beispiel die Personalabteilung großer Unternehmen „human resources“, also Humanressourcen in direkter Übersetzung. Der Begriff „Humankapital“ ist mittlerweile ein feststehender Begriff. Er wurde auch schon von der „Gesellschaft der deutschen Sprache“ (GfdS) zum Unwort des Jahres gekürt. Der Mensch wird zum sprichwörtlichen Rädchen in der Maschine, brilliant filmisch versinnbildlicht in Charlie Chaplins „Modern Times“. In der Wertkritik werden die Lohnarbeitenden durch ihre Funktion als Verwertungswerkzeug des Kapitals sogar direkt als Teil des Kapitals gesehen.
 
Da man Waren herstellt, mit ihnen also einen möglichst hohen Gewinn auf dem Markt erzielen will, ist man bestrebt, die Kosten möglichst niedrig zu halten und gleichzeitig einen möglichst hohen Preis zu erzielen. Material- und Produktionskosten lassen sich durch sparsamere Verfahren reduzieren. Bei der Ressource Mensch finden Einsparungen vor allem über zwei Faktoren statt: Lohnkosten pro Stunde und Leistung einer Person pro Stunde. Man ist bestrebt die Kosten niedrig zu halten und gleichzeitig das Maximum an Leistung zu bekommen, um die Gewinnspanne der Waren zu vergrößern. Der Mensch wird der Gewinnmaximierung untergeordnet und sein Bedarf kontinuierlich wegrationalisert. Gleichzeitig ist der Mensch aber auf die Lohnarbeit angewiesen, da sämtlicher Gütererwerb im Kapitalismus mit Geld abgewickelt wird. So wird die menschliche Arbeitskraft auf den nicht ohne Grund so genannten Arbeitsmarkt geworfen und muss sich dort ebenfalls Marktmechanismen unterwerfen. Der  Widerspruch zwischen der Notwendigkeit des Kapitals, sich durch Lohnarbeit verwerten zu müssen und dennoch Loharbeit kontinuierlich aus dem Verwertungsprozess wegzurationalisieren, ist einer der Hauptwidersprüche im Kapitalismus – es kennzeichnet also die Widersprüchlichkeit des Systems. Da man diesem alleine gegenüber machtlos ist, haben sich die Menschen im 19. Jahrhundert zu Gewerkschaften zusammengeschlossen und mit oftmals blutigen Kämpfen, die viele Todesopfer forderten, angefangen, Dinge wie Arbeitsrechte und Betriebsschutz gegen Unternehmen und Staat durchzusetzen. Was wir heute an Sozialstaat und Rechtsschutz haben, ist zum größten Teil Resultat von über 150 Jahren Arbeitskampf. 
 
Durch den technologischen Fortschritt, der insbesondere durch die wissenschaftliche Revolution, die Bildung der Einzeldisziplinen und die verbesserten Forschungsbedingungen ermöglicht wurde, hat sich im Laufe der letzten 200 Jahre das, was man als Markt im Auge hat, auf die Größe der gesamten Erde ausgedehnt. Von lokaler und regionaler Produktion ging man über nationale Produktion hin zu einer inzwischen auch alle Kontinente umspannenden Produktionsweise für einzelne Produkte. Oberste Maxime hat dabei, sofern nicht staatlich eingegriffen wird, die Profitmaximierung. Dies führt auch zu dem relativ bekannten Beispiel einer Jeans, die mehrere zehntausend Kilometer Produktionsweg zurücklegt, bis sie letztlich im Laden steht. Aus ökologischer Sicht ein Desaster, aber es rechnet sich halt. Um den Widerspruch noch einmal zu verdeutlichen ein kleines Beispiel: Ein Unternehmen kann auf der einen Seite sehr viel Gewinn erzielen und muss dafür nicht zwangsläufig irgendeinen Bedarf decken. Solange der Gewinn da ist, ist alles in Ordnung. Auf der anderen Seite kann ein Unternehmen einen Grundbedarf decken, zum Beispiel Äpfel oder Weizen anbauen, und wird nicht bestehen können, wenn es diese Güter nicht mindestens kostendeckend verkauft. Die Gewinnerzielung hat also das Primat in der Zielsetzung der Unternehmen, alles andere ordnet sich dem unter.
 

 

Mehraufwand und notwendige Arbeit

 
 
Das Entkoppeln von direkter Nachfrage und Produktion hat den Effekt, dass es eine große Über- und Parallelproduktion von Waren gibt, die nicht den bestmöglichen Standards entsprechen. Es rechnet sich für die Unternehmen schlichtweg, wenn man darauf verzichtet, alle Handys mit bruchsicheren Displays auszustatten. Und die Firmen haben alle parallele Unternehmens- und Produktionsstrukturen mit eigenen Forschungsabteilungen, die parallel an den gleichen Produkten arbeiten und sich mit Patenten gegenseitig neue Technologie vorenthalten. Und dann werden die Produkte auch nicht alle abgenommen, da sie eben nicht auf direkte Nachfrage hin produziert werden. Unternehmen sind zudem bestrebt, den Gewinn kontinuierlich zu steigern. Das kapitalistische System ist auf konstantes Wachstum ausgelegt. Umsatzeinbrüche, egal durch was verursacht, sind fatal und zwar selbst dann, wenn alle Menschen mit einem Produkt ausgestattet wurden und aktuell kein real existierender Bedarf nach noch mehr Produkten dieser Art besteht. Der Bedarf muss also aufrechterhalten, sprich künstlich erzeugt, werden, zum Beispiel durch Werbung oder eingeplante maximale Lebensdauer, die nicht dem Maximum des Möglichen entspricht. Wenn ein Handy also kaputt geht, ist das also nicht unbedingt ein Versehen, sondern vom System durchaus so beabsichtigt.
 
Wenn man die Schablone der Verwertungslogik aber einmal beiseite legt und sich anschaut, wie man jenseits von Gewinnmaximierung und Wachstumsmantra mit der heutigen Technologie wirtschaften könnte, käme man zu einer völlig anderen Organisation der weltweiten Produktion. Zuallerst würde man schauen, was für einen Bedarf es für Güter und Dienstleistungen denn real gibt. Dazu muss man als erstes Bereiche ausmachen, die einen zwingend erforderlichen Bedarf decken. (Aktuell werden diese Bereiche mit dem Schlagwort „systemrelevant“ versehen, meinen damit aber nicht das System des Kapitalismus, sondern die Gesellschaft insgesamt als System. Systemrelevant für den Kapitalismus ist das Produzieren von Waren für einen Markt zur maximalen Gewinnerzielung, was in einigen Bereichen aktuell durch Pandemiebekämpfungsmaßnahmen nicht möglich ist und in anderen nur eingeschränkt läuft.) 
 
Zum zwingend erforderlichen Bedarf zählen alle Bereiche, die die Grundbedürfnisse des menschlichen Überlebens abdecken, also Nahrungsmittelproduktion, medizinische Versorgung und Gesundheitswesen, Vorsorgungsinfrastruktur, alles, was die dafür benötigen Geräte und Technologien zur Verfügung stellt und so weiter. Hier kann man durch technischen Fortschritt das benötigte Gesamtarbeitsvolumen sicher senken, wird aber nie einen Arbeitsbedarf von Null erreichen. Jede Gesellschaft muss also dafür sorgen, dass diese zwingend erforderlichen Tätigkeiten geleistet werden. Alles, was über die Deckung des Grundbedarfs hinaus geht, ist systemspezifische Mehrarbeit. Die ist auch nicht per se schlecht und überflüssig, ohne Serien und Filme wären wir zum Beispiel aktuell ziemlich aufgeschmissen. Die Frage ist nur, mit welcher Prämisse man diese Mehrarbeit begründet. Im Kapitalismus sind das zum Beispiel das Primat der Gewinnmaximierung und der Zwang zur Lohnarbeit. Man könnte stattdessen aber sagen, wir konzentrieren uns ausschließlich auf Dinge, die das menschliche Leben verbessern und gleichzeitig so nachhaltig wie möglich produziert werden. Wenn man dann feststellt, dass die Menschen im Schnitt nur 15 Stunden pro Woche arbeiten müssen und den Rest der Zeit zur freien Gestaltung zur Verfügung haben, dann wäre das auch gar nicht schlimm und würde die Prämisse erfüllen, das menschliche Leben möglichst angenehm zu gestalten. 
 
 

Wonach richten wir uns?

 
 
In der aktuellen Krise sehen wir, wie alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche damit zu kämpfen haben, dass ihre bisherigen Hauptprämissen im Widerspruch mit dem aktuellen Primat aller Entscheidungen – Pandemieeindämmung und möglichst wenig Tote – stehen. Davon ist nicht nur das Wirtschaftssystem betroffen. So wird auch darüber beraten, wie es mit den Schulabschlüssen weitergehen soll. Ziel der Schule ist das Vermitteln bestimmter Kenntnisse und Skills, um Personen fit für eine Ausbildung oder einen Universitätsbesuch zu machen, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen und den Bedarf der Wirtschaft nach ausgebildeten Arbeitskräften zu decken. Nun hat man bei Prüfungen aber das Problem, dass viele Menschen längere Zeit im selben Raum sitzen und somit eine Ansteckungsgefahr relativ hoch ist. Personen aus Risikogruppen, die zum Beispiel auf Dialysen angewiesen sind oder vor nicht allzu langer Zeit eine Chemotherapie hinter sich gebracht haben, können nicht ohne direktes Gesundheitsrisiko an den Prüfungen teilnehmen. Und selbst ohne diese Gruppe von Personen ist die Wahrscheinlichkeit, dass von den tausenden Schüler*innen eine Person mit dem Virus infiziert wird und dann daheim eine Person aus einer Risikogruppe ansteckt, sehr hoch. Die Entscheidung, die Prüfungen abzuhalten, ist sehr wahrscheinlich für schwere Krankheitsverläufe und möglicherweise Todesfälle verantwortlich. Was ist nun letztendlich die oberste Handlungsmaxime: Abschlussprüfungen durchführen, um den Ausbildungsbetrieb für den Arbeitsmarkt nicht zu beeinträchtigen, oder das Vermeiden jeglicher Gesundheitsrisiken mit möglicher Todesfolge?
 
Gleiches gilt auch für die Arbeit, hier allerdings mit der Besonderheit, dass es eben zwingend erforderliche Arbeit gibt, die nicht ein halbes Jahr aufgeschoben werden kann. Krankenhäuser können nicht plötzlich aufhören, Kranke zu versorgen, Nahrungsmittel müssen zur Bevölkerung gelangen und Wasser muss aus dem Hahn kommen. Man kann allerdings, so wie in Italien geschehen, jegliche „nicht-systemrelevante“ Tätigkeit untersagen. Das zentrale Wesen des Kapitalismus ist damit effektiv, wenn auch erst einmal nur temporär, außer Kraft gesetzt. Die Warenproduktion, die Wirtschaft des Marktes, ist gestoppt. Das, was immer als unmöglich bezeichnet wurde, ist im Zuge der Pandemiebekämpfung geschehen. Lange lässt sich dieser Zustand freilich nicht aufrechterhalten, da die Menschen im Kapitalismus einer Lohnarbeit nachgehen müssen und die kapitalistische Geldwirtschaft auf die Warenproduktion angewiesen ist. Aus dem Stopp oder zumindest der Beeinträchtigung des kapitalistischen Normalbetriebs gibt es eigentlich nur zwei Wege heraus: Erstens der Weg zurück zum Normalbetrieb, sehr wahrscheinlich mit Beibehaltung einiger Maßnahmen aus der Krisensituation (und aktuell sind das vor allem Maßnahmen zulasten der Lohnarbeitenden) und zweitens der Weg weg vom Kapitalismus hin zu einer nicht auf Warenproduktion (hier nochmals der Hinweis, dass Waren die spezifische Form der Güter im Kapitalismus sind) ausgerichten Organisation des Wirtschaftens, welche einem anderen Primat als dem der Gewinnmaximierung folgt. 
 
Und so wie es aktuell aussieht, wird sich diese Frage in naher Zukunft sehr dringend stellen. Die Wirtschaft steht vor einer Krise, die den Börsencrash von 2008 und die darauf folgende Austeritätspolitik wie ein vergleichsweise harmloses Lüftchen aussehen lassen könnte. Warum das so ist und wie es dazu gekommen ist, dass wir vor einem Abgrund systemerschütternder Größe stehen, werden wir im zweiten Artikel beleuchten.

Lübcke, Halle, Thüringen, Hanau – wackelt das Hufeisen?

Es handelt sich um einen Gastbeitrag der Facebookseite Das goldene Hufeisen.

Aller Anfang ist schwer besagt ein Sprichwort. Das stimmt nicht immer, in diesem Fall aber schon. Damit ist nicht nur der formelhafte Einstieg in den Text mit einem Stichwort (wahlweise auch Zitat einer berühmten Person) gemeint, sondern auch die Wahl des Zeitraums, der in diesem Artikel verhandelt werden soll. Fängt man beim NSU an? Nimmt man die Hogesa-Demo 2014 in Köln? Die darauf folgenden Ausschreitungen der Jahre 2015/16 oder den Mob von Chemnitz? Den Anschlag von München? All das spielt sicher mit rein, insbesondere NSU und München, trotzdem scheint es am sinnvollsten zu sein, den Mord an Walter Lübcke als Startpunkt für die Betrachtungen zu nehmen.

Diese Seite beschäftigt sich mit der Hufeisentheorie, angeschlossen daran wird insbesondere die damit eng verknüpfte Extremismustheorie beleuchtet. Diese baut wiederum auf Totalitarismustheorien auf. Damit steht ein zentrales Merkmal der bundesdeutschen Politikbetrachtung im Fokus. Näheres dazu ist unserem Interview im empfehlenswerten Buch „extrem unbrauchbar“ zu entnehmen, welches wir dankenswerterweise veröffentlichen durften. Nachzulesen ist es mit einem Rückblick aus dem Dezember 2019 hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/12/25/rueckblick-ausblick-und-das-interview-aus-extrem-unbrauchbar/ Und in den letzten Monaten macht es immer mehr den Anschein, als ob eben dieses zentrale Denkmodell der BRD langsam anfängt zu wackeln. Der Mord an Walter Lübcke hat in Verbindung mit vielen anderen Ereignissen und Entwicklungen im rechtsradikalen Spektrum eine inzwischen spürbar breite Debatte in der Öffentlichkeit angestoßen. In überregionalen Zeitungen wie im Tagesspiegel und der Zeit, im Spiegel und bei ZDF heute wird die Hufeisentheorie kritisch diskutiert.

Die Ausgangslage

 

Das Hufeisenmodell ist ebenso simpel wie anschaulich und falsch. Darin liegt seine agitatorische und propagandistische Stärke – aber ebenso auch seine Schwäche, wenn es eine Situation wie die jetzige gibt. Da es simpel und gleichzeitig auch grafisch sehr anschaulich ist, spricht es intuitiv auch Personen ohne größere Kenntnis politischer Theorie an und erschließt sich sofort. Die letzten Jahre sind aber mit wenigen Ausnahmen, die prominentesten wären hier G20 in Hamburg und die maßlos überzogene Kantholzdebatte um Magnitz, von rechten Mobs, rechter Gewalt, rechter Landnahme und rechtem Terror geprägt. Alle paar Monate wird eine rechte Terrorgruppe aufgedeckt, rechte Bedrohungen veranlassen Lokalpolitiker*innen zum Rücktritt und zum Beantragen von Waffenscheinen, es gibt Sprengstoffanschläge und Mobs auf den Straßen. Zusätzlich wurde noch das rechtsterroristische Hannibalnetzwerk offengelegt, welches Verbindungen zu Terroristen und lokalen Terrorzellen hat, bestens in Armee, Spezialeinheiten und Behörden vernetzt war bzw. ist und Vorbereitungen für einen Tag X mit Waffentrainings und Exekutionen linker Politiker*innen eine ganz reale und realistische Gefährdung darstellt. Zusätzlich werden teilweise im Wochentakt Waffenlager von Rechten ausgehoben, welche teilweise mit Waffengebrauch dagegen halten und einen Polizisten erschossen haben.

In diese Gemengelage fügen sich jetzt drei Ereignisse in Deutschland und eine Entwicklung ein, die offenkundig zu einem Umdenken bei Einigen geführt haben. Da wäre der Mord an Walter Lübcke aus Kassel. Von Rechten und Rechtsradikalen wie Erika Steinbach (bis 2017 Parteikollegin von Lübcke in der CDU) wurde er wegen seiner humanistischen Haltung und entsprechenden Äußerungen ab 2015 als Ziel für den rechten Onlinemob markiert. Wenige Monate vor seiner Ermordung befeuerte Steinbach 2019 erneut den Mob gegen ihn. Der Täter, Stephan Ernst, ist seit Jahrzehnten in Neonazikreisen aktiv, hat Verbindungen zu Combat 18, zum NSU-Komplex und anderen rechtsterroristischen Kreisen, ist also alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Die Verbindung von Onlinemob, Angriffen rechtsradikaler Leitfiguren und -medien und den Untergangsbeschwörungen des rechten Lagers sind offensichtlich. So sehr man auch versuchen mag einen Einzeltäter zu stilisieren, Ernst kann nicht losgelöst vom rechten Onlinediskurs betrachtet werden. Und es gibt noch sehr viele andere Personen, die ähnlich wie Ernst ticken.

Die Anschläge in München und Halle

 

Die beiden anderen Ereignisse sind Teil einer weltweiten Entwicklung: Der Anschlag von München und der Anschlag von Halle als Teil der Onlineradikalisierung ansonsten nicht eine klassische rechtsradikale Sozialisierung durchlaufender Terroristen. München ist im kollektiven Gedächtnis nicht stark als rechter Terroranschlag verankert und es ist einer beständigen Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit zu verdanken, dass diese Tat nachträglich als rechter Terror anerkannt wurde und nicht als Amoklauf wie zum Beispiel Winnenden klassifiziert wird. Dennoch ist er einer der weltweit ersten Anschläge des neueren Typus rechten Terrors, der mit Christchurch seinen bisher blutigsten Höhepunkt fand und zu dem auch der Anschlag in Halle, bei dem ein größeres Blutbad durch die gesicherte Tür der Synagoge verhindert wurde, zu zählen ist. Halle wurde durch die komplette Offenheit des Täters bezüglich seiner Motive sofort als rechter Terror begriffen und die ideologischen Schnittstellen zu meinungsführenden Personen, Gruppen und Parteien im rechtsradikalen Spektrum in Sachen Antifeminismus, Antisemitismus, völkischem Denken, Maskulinismus und Umvolkungswahn wurden schnell aufgezeigt.

Auch die Art der Radikalisierung ist breit diskutiert worden. Im Gegensatz zur klassischen Nazisozialisation über Stiefelnazikreise und Kameradschaften haben wir es hier mit im realen Leben eher wenig vernetzten Rechtsradikalen zu tun. Das Antifa Infoblatt hat sich in den letzten beiden Ausgaben ausführlich mit dieser weltweiten Entwicklung beschäftigt, die umfangreichen Recherchen sind empfehlenswert. Und als vorläufiger Schlusspunkt reiht sich nun Hanau als Schauplatz rechten Terrors ein. Lübcke, Halle und Hanau liefern in nicht einmal zehn Monaten drei tödliche Terroranschläge mit rechtsradikaler Motivation zusätzlich zu den bereits angesprochenen Waffenbeschlagnahmungen, Festnahmen rechter Terrorgruppen, dem Hannibalnetzwerk und so weiter. Eine ähnliche Entwicklung gibt es linksradikalen Lager nicht, das simple Adäquanzdenken des Hufeisens lässt sich nicht mit der Realität abgleichen.

Im Gegenteil sind es gerade Linke, die sich nach allen Fällen rechtsradikalen Terrors als Erste an vorderster Front gegen Rechte stellen. Nach allen drei Anschlägen sind umgehend Linke in allen Landesteilen auf die Straße gegangen und haben gegen rechten Terror und für eine schonungslose Aufklärung demonstriert. Antifaschist*innen waren vielfach direkter und weitreichender in ihren Forderungen und Solidaritätsbekundungen mit Walter Lübcke als dessen Parteikolleg*innen von der CDU. Die Union ist nicht spontan auf die Straße gegangen, Antifas schon. Linke haben ihrerseits die verhaltenen Reaktionen der Union nach dem Mord an einem Unionsmitglied scharf kritisiert. Und das wird auch innerhalb der Union nicht unbemerkt geblieben sein. Ausgerechnet die Antifa, die böse linksextremistische Krawall- und Chaotentruppe, die man mit christlich-konservativen Ansichten aus der bürgerlichen Mitte (so ja das Selbstbild Vieler in der CDU) aus tiefstem Herzen ablehnt, gehen in voller Solidarität mit einem Unionsmitglied auf die Straße und sind wütender als die eigene Partei.

Heimathorst und eine mögliche Erkenntnis

 

Eine Person, bei der möglicherweise ein Umdenkprozess eingesetzt hat, ist ausgerechnet Horst Seehofer. Ja, es ist sehr spekulativ und weil es sich um den Heimathorst handelt, ist diese Spekulation auch mit höchster Vorsicht zu genießen zu genießen und steht unter jeder Menge Vorbehalt. Dennoch ist das, was man von Seehofer seit dem Anschlag von Halle hört, durchaus ein qualitativer Unterschied zu dem, was man von CSU-Leuten erwarten kann. Gerade dort hat man ja das Hufeisen und die Extremismustheorie für sich gepachtet. Auch an die Berliner JU mit ihrem „Schlager gegen Links“ sei hier verwiesen, was exemplarisch für die weltanschauliche Verzerrung der Realität steht, in der sich Einige dort befinden.

Und ausgerechnet Horst Seehofer verbittet sich nach Hanau sämtliche Verweise auf Linke und erteilt dem Hufeisen somit eine Absage. Möglicherweise hat es bei ihm Klick gemacht, nachdem es in Kassel, Halle und jetzt auch Hanau click click click gemacht hat. Als Bundesinnenminister ist er ja direkt mit solchen Terroranschlägen befasst und bekommt auch alle anderen hier bereits aufgezählten Entwicklungen und Ereignisse auf den Tisch gelegt. Das Wissen, dass es dann auch noch in Armee, Polizei und Behörden potentiell rechtsterroristische Netzwerke gibt, die sich auf einen Tag X vorbereiten und Zugriff auf zumindest Teile der staatlichen Logistik und Informationsressourcen haben, gleichzeitig Waffen, Munition und Namenslisten sammeln, dürfte in Verbindung mit dem Mord an Lübcke zumindest momentan das Seehofesche Hufeisendenken auf den kalten und harten Boden der Realität geholt haben. Es war auch Seehofer, der der Aufzählung von Halle und Hanau richtigerweise den Anschlag von München als ersten des neueren rechtsradikalen Terrortypus vorangestellt hat.

Allerdings darf man nicht den Fehler begehen, diesem möglichen Erkenntnisgewinn einiger Personen zu viel Hoffnung abzugewinnen. Öffentliche Distanzierungen vom Hufeisen sind wegen der genannten Entwicklungen und Bedrohungsszenarien aus dem rechten Spektrum mitunter notwendig, um sich selber öffentlich nicht zu sehr zu diskreditieren. Selbst Friedrich Merz hat sich vom Hufeisen distanziert, während er gleichzeitig rechtsradikale Forderungen umsetzen will um Rechtsradikale zu bekämpfen. Da werden dann nicht mehr Linke mit Nazis in einen Topf geworfen, um unter dem Deckmantel der (nicht existenten) Mitte rechte Politik zu betreiben. Man lässt halt einfach das zusammenschmeißen weg.

Nicht zu viel Freude

 

Der Bereich, in dem ein Seehofer das Hufeisen beerdigt hat, ist (sollte es denn so sein) auf den des Terroristischen begrenzt. Abseits davon steht das Hufeisen zur Diskussion, wird sich aber vor allem in der Praxis weiterhin äußerster Beliebtheit erfreuen. Als jüngstes Beispiel dafür kann den Scherz über Erschießungen und verpflichtende Arbeit für Reiche und die Reaktionen darauf heranziehen. Da wird dann tatsächlich von der FDP ein Tagesordnungspunkt im Bundestag anberaumt, ob die Linkspartei überhaupt verfassungskonform sei. Die CSU veröffentlicht Sharepics, Abgeordnete wollen die ganze Partei unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stellen und so weiter. Dabei wird nicht unbedingt offen das Hufeisen geworfen, ganz ohne kann man solche Aktivitäten aber nicht betrachten. Zu fest ist das Hufeisendenken gerade durch Union und FDP gehegt und gepflegt worden und wird es auch immer noch. Der Beißreflex Richtung Sozialdemokratie, Sozialismus, Anarchismus und Kommunismus sitzt tief und wird als fester Bestandteil der bundesrepublikanischen politischen Bildung auch nicht so schnell weggehen. Seit der Französischen Revolution bekämpft die Obrigkeit im deutschsprachigen Raum jegliche Progression von links, da hört man doch nicht wegen ein bisschen rechtem Terror mit auf.

Wirklich interessant und tatsächlich auch spannend (da ist sich das Adminteam einig) wird allerdings die kommende Auseinandersetzung innerhalb von CDU/CSU und FDP in Sachen Umgang mit der AfD. Die Vorgänge in Thüringen rund um die Wahl Kemmerichs mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten haben das Schlaglicht auf ein tiefsitzendes Problem beider Parteien geworfen. CDU/CSU und FDP haben mit der AfD die meisten inhaltlichen Übereinstimmungen und Schnittstellen. Das trifft sowohl auf alle anderen Parteien im Bundestag insgesamt zu, als auch auf Landesverbände und insbesondere die Bereiche Soziales, Wirtschaft, Sicherheit, Familie und alles, was mit Migration und Umverteilung zu tun hat. Bei der CDU gibt es dort mit der Merkel-Fraktion einen klaren Gegenpol, doch aktuell scheint die Partei unter dem Eindruck der AfD-Erfolge auf die Linie Friedrich Merz einzuschwenken. Dabei wirkt es so, als ob man sich in weiten Teilen der Union freut, das Kapitel Merkel hinter sich lassen und endlich wieder nach alter Manier dem Konservatismus frönen zu können. Sozialchauvinisten wie Merz oder der JU-Vorsitzende Kuban sind Aushängeschilder dieser Entwicklung und Marschroute.

Die Selbsttäuschung, in Verbindung mit einer Immunisierungsstrategie und vorweggenommener Kritikabwehr, man habe als „bürgerliche Mitte“ gar nichts mit Rechtsradikalen jeglicher Art zu tun, bröckelt zusehends. Für Kundige des Themenkomplexes war und ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich Landesverbände der Union und der FDP offen für eine Koalition mit der AfD positionieren. Die inhaltliche Nähe verbindet dabei genauso wie die tiefsitzende Ablehnung von Allem, was man als links verortet. Die AfD agiert insofern taktisch ziemlich klug mit ihrem wahnhaften Eindreschen auf alles irgendwie Linke. Egal wie hart sie übertreibt, verfälscht und lügt, sie stärkt damit die Fraktion in Union und FDP, die Linke aufs Blut verabscheuen. Und ja, davon gibt es nicht allzu wenige. Die Diskursverschiebung wird dort in Teilen freudig aufgegriffen, die nationalkonservative Werteunion ist da nur das Vorzeigeexemplar entsprechender Aktivitäten. Es ist keine Raketenwissenschaft vorherzusagen, dass es in den nächsten fünf Jahren offene Kooperations- und Koalitionsangebote auf Landesebene geben wird.

Bruchlinien

 

Spannend wird dabei vor allem, wo genau innerhalb der Parteien die Bruchlinien zu beobachten sein werden. Denn es gibt bei aller notwendigen Kritik, sei es an den konkreten Positionen oder am illusorischen Selbstbild der Mitte, auch eine starke Fraktion innerhalb der Union, die eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ablehnt. Wie stark diese Fraktion in der FDP ist, können wir nicht sagen. Da Christian Lindner aber bereits vor der Wahl Kemmerichs eine Duldung durch die AfD gebilligt hat, dabei aber den öffentlichen Gegenwind unterschätzte und zurückrudern musste, dürfte sie schwächer als in der CDU sein.

Innerhalb beider Parteien muss man sich aber auch gerade in Hinblick auf das Selbstbild der Mitte zusehends zu der Erkenntnis kommen, dass die eigene Partei diesem Anspruch nicht einmal formal gerecht wird. Die Möglichkeit, dass die AfD eine im bürgerlich-demokratischen Sinne konservative Partei wird, ist seit Jahren vorbei. Mit der Abwahl Luckes war der Weg der Partei entschieden und spätestens nach dem Ausscheiden Petrys 2017 braucht man auch gar keine großen Diskussionen mehr zu führen. Die AfD ist rechtsradikal und wer in ihr Mitglied ist, hat zumindest mit Nazis und Faschos kein Problem. Analog gilt für Personen, die Kooperationen und Koalitionen mit der AfD für möglich halten, dass sie kein Problem haben, mit Faschos und Nazis zu kooperieren und koalieren. Dieser Realität müssen sich alle Mitglieder zwangsläufig stellen.

Welche Konsequenzen daraus erwachsen, wird sich zeigen. Sicherlich werden Personen aus der Partei oder den betreffenden Fraktionen austreten, wenn es zu konkreten Kooperationen kommt. Ebenso wird es zu einem offenen Machtkampf zwischen Bundespartei und den Landesverbänden kommen, die mit der AfD offen zusammenarbeiten wollen. Die Bundespartei wird dabei aller Voraussicht nach verlieren, da der Drang einiger Landesverbände zur Kooperation stärker sein wird.

Neben der Entwicklung hin zur AfD und zur aktiven Stützung des parlamentarischen Rechtsradikalismus gibt es aber auch die gegenteilige Entwicklung. Man muss registrieren, dass es ebenfalls einflussreiche Kräfte gibt, die eine Normalisierung der Beziehung zur Linkspartei zumindest in Teilen anstreben. Der Unvereinbarkeitsbeschluss mit AfD und Linkspartei wackelt nicht nur hin zur AfD. Gerade die Personalie Ramelow, einem katholischen und sehr moderaten Sozialdemokraten, liefert im Gegenspiel mit Bernd Höcke, völkischer Faschist par excellence, die Gretchenfrage, wie man es denn nun mit dem Hufeisen halte.

In der Praxis hat sich die Linkspartei in den letzten 30 Jahren deutlich von der SED hin zu einer völlig normalen Partei im bundesrepublikanischen Parteiengefüge entwickelt. Der überwiegende Teil der Partei hat kein Interesse daran, die BRD grundlegend über den Haufen zu werfen. Und auch sämtliche Regierungsbeteiligungen haben bisher keine Gulags gebracht. Man kann – im Guten wie im Schlechten – der Linkspartei insgesamt Verfassungstreue attestieren. Sie versucht die Verfassung in einer sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Art auszulegen, nicht mehr, nicht weniger. Aus diesem Grund hat sich auch bei einigen Vertreter*innen von CDU und FDP die Haltung durchgesetzt, die Linkspartei als gleichwertige Partei innerhalb des Parteiensystems zu sehen. Es gibt ja auch immer mal wieder fraktionsübergreifende Absprachen, in die auch die Linkspartei eingebunden wird.

Angesichts des gefestigten parlamentarischen Rechtsradikalismus in Form der AfD stellt sich die ganz praktische Frage, wie man zu einem antifaschistischen Minimalkonsens steht (sprich keinerlei Kooperation und Zusammenarbeit mit der AfD) und welche ideologischen Unterschiede man bereit ist, bei der Bekämpfung der AfD außen vor zu lassen, um handlungsfähig zu sein. In welcher Form und in welchem Umfang das passieren wird ist schwer zu sagen. Es bleibt aus Sicht des Hufeisens aber spannend, was da auf uns zukommt.

Das antifaschistische Minimum und die AfD – wie geht es weiter nach Thüringen?

Eine Woche ist es jetzt her, dass sich Kemmerich von der FDP mit Hilfe von Stimmen der CDU und der AfD hat zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen. Viel ist passiert in dieser Woche, viel mehr wird passieren. Überraschend ist das Ganze dagegen nun wirklich nicht. Wer sich ein wenig eingehender mit der Normalisierung der AfD im parlamentarischen Betrieb beschäftigt hat, wird die eigenen Erwartungen in weiten Teilen bestätigt sehen.

Alle haben es gewusst

 

Im Laufe der letzten zwei Jahre sind immer wieder Kooperationen von Unionspolitiker*innen mit AfD-Leuten zu beobachten gewesen. Diese fanden vor allem auf regionaler Ebene statt, bekannt sein dürfte unter anderem die gemeinsame Front von AfD, Nazis und CDU gegen einen Auftritt von Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus Dessau. Einzelne Stimmen aus Union und auch der FDP haben im Laufe der Jahre immer wieder eine Normalisierung der Beziehungen zur AfD angesprochen, wurden aber vor allem in den Anfangsjahren bis zur letzten Bundestagswahl durch die schrittweise Radikalisierung der Partei hin ins völkische und faschistische Spektrum immer wieder durch die Realität überholt.

Die Radikalisierungsphase der AfD ist nun weitestgehend abgeschlossen. Der Flügel und Höcke sind tonangebend und wer auch immer hoffte, die Partei würde nationalkonservativ bleiben, in einem rechtsliberalen Sinne, der oder die hat die Partei inzwischen verlassen. Wer 2020 in der AfD ist, teilt sich die Partei ganz bewusst mit Faschos und sonstigen Rechtsradikalen – oder zählt selbst zu diesen Gruppen. Und das weiß man auch bundesweit. Die AfD wird in der Öffentlichkeit als die rechtsradikale Partei gesehen, die sie ist. Dieser Punkt ist ebenso banal wie wichtig, ist er doch entscheidend für den Umgang mit FDP und CDU.

Denn hier haben wir es mit Berufspolitiker*innen zu tun, denen täglich Brot der politische Betrieb ist. Wenn irgendwer wissen muss, um was für eine Partei es sich bei der AfD handelt, dann diese Leute. Wer also im Jahr 2020 offen aufruft zur gemeinsamen Sache mit der AfD, der ruft offen zur Kooperation mit dem Faschismus auf. Und das in vollem Bewusstsein aller historischen Lehren und aktueller Entwicklungen. Wer 2020 in irgendeiner Art und Weise mit der AfD kooperieren möchte, hält den Faschos die Steigbügel. Und muss deshalb folgerichtig auch so behandelt werden. FDP und CDU können nicht auf einmal total überrascht tun, wenn sie das direkte Ziel antifaschistischen Aktivismus werden. Sollten weiterhin Teile der Parteien, wie zum Beispiel die Werteunion, offen für die Kooperation mit der AfD werben, dann sind diese auch weiterhin Ziel antifaschistischer Aktivität und den entsprechenden Maßnahmen, welche erforderlich sind für einen erfolgreichen Aktivismus.

Die Qual der Mittelwahl

 

Wichtig ist dabei aber auch, dass man in diesem Aktivismus sinnvoll abwägt, ob und inwiefern die diskutierten Mittel hilfreich sind. Nach der Wahl Kemmerichs wurden Beleidigungen und Bedrohungen auch seiner Familie gegenüber berichtet, ebenso soll eine FDP-Abgeordnete im Beisein ihres Kindes mit einem Böller beworfen worden sein. Sollte dies den Tatsachen entsprechen, so ist das abzulehnen. Sippenhaft ist nichts, was man sich als Antifaschist*in zu eigen machen sollte. Auch darf man nicht die Augen vor dem Zustand von FDP und CDU verschließen. Denn diese Parteien verfügen nicht über eine einheitliche Position und stehen in den kommenden Jahren vor ernsthaften internen Problemen.

Ideologisch stehen FDP und Unionsparteien der AfD am nächsten. Dies trifft sowohl auf die Wirtschaftspolitik zu (noch ist die AfD fundamental-liberal eingestellt und damit insbesondere der FDP nahe) als auch auf die Sozialpolitik und den Nationalismus. Verbindend ist auch der Hass auf Linke, in der Frühzeit der BRD haben Union und FDP aktiv die Integration alter Nazisgrößen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft betrieben, es fanden sich einflussreiche Netzwerke alter Nazis in beiden Parteien. Gegen Linke konnte man fast nahtlos weiterarbeiten, der Kalte Krieg bot den entsprechenden Rahmen zur Verfolgung. Die Unionsparteien sind im Laufe der Geschichte der BRD faktisch gesehen immer weiter entfaschisiert worden, ebenso die FDP. Offene Nazianbandelei ist heute nicht mehr ohne bundesweite Aufmerksamkeit möglich, früher bestimmten die Altnazis noch direkt das Bild der Parteien.

Der Spalt in Union und FDP

 

Es ist unabdingbar, dass man auch aus der radikalen Linken heraus anerkennt, dass es bei Union und FDP Personen und Gruppen gibt, die das antifaschistische Minimum erfüllen und keine Zusammenarbeit in irgendeiner Form mit Faschos unterstützen oder tolerieren wollen. Auf der anderen Seite gibt es als prominentestes Beispiel die Werteunion, welche offen für eine AfD-Zusammenarbeit wirbt und sich aktiv für die Normalisierung von Faschos einsetzt. In diesem Spannungsfeld zwischen einem Ruprecht Polenz, ehemaliger CDU-Generalsekretär, und einem Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Leiter des Bundesverfassungsschmutzes, wird sich die interne Auseinandersetzung innerhalb der Union abspielen.

Die Werteunion ist noch nicht lange aktiv, aber sie ist eine logische Konsequenz aus dem Geschehen der letzten Jahre. Die AfD hat die ehemals klare Aufteilung im Parteienspektrum insofern ausgehebelt, als dass es jetzt eine rechtsradikale Partei gibt, die teilweise zweitstärkste Kraft ist und somit das rechtsradikale Stimmenpotential fast vollständig abrufen kann. Zur NPD konnte man wegen ihrer Kameradschaftsanbindung leicht Distanz halten, bei einer AfD mit breiter Zustimmung bundesweit fällt dies schwerer. Zumal sich in den Reihen der AfD auch viele ehemalige CDU-Mitglieder finden, die über alte Kontakte verfügen. Die AfD hat rechtsradikale Positionen für erheblich größere Bevölkerungsteile wählbar gemacht.

Der klassische deutsche Konservatismus hat viele inhaltliche Schnittstellen mit unterschiedlichsten rechtsradikalen Ideologien. Der Fokus auf die Nation und das deutsche Volk als zentraler Bezugspunkt der eigenen Weltanschauung sind der größte Anknüpfungspunkt, verbunden mit einem hierarchischen Gesellschaftsbild und einem autoritären Herrschaftsprinzip sowie einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, der Hass und die Ablehnung alles Linkem wurde bereits erwähnt. Wie stark diese Details gewichtet sind und wie sie genau ausformuliert sind unterscheidet unterschiedliche Ansätze, ebenso wie stark man das plebiszitäre Element einer parlamentarischen Demokratie zulässt. Wer behauptet, man könne klassischen Liberalismus und Konservatismus glasklar von nationalrevolutionären Ideologien und dem Faschismus trennen, lügt. Es gibt keine klare Grenze.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Werteunion als Scharnier zwischen einem im demokratischen Sinne bürgerlichen Konservatismus und dem nationalrevolutionären Treiben innerhalb der AfD versteht und versucht. Da der Übergang eh fließend ist, kann man ihn auch organisationstechnisch derart gestalten. Das politische Spektrum innerhalb der Unionsparteien differenziert sich unter Einbeziehung des AfD-Aufstiegs aus. Für die Union wird es daher interessant, wie sie als Gesamtpartei damit umgeht. Die Frage stellt sich nicht nur nach Thüringen, sie wird sich auch in Zukunft weiter stellen.

Noch ist die Zeit nicht reif

 

Thüringen kam für die Werteunion und die offene Kooperation mit der AfD vielleicht ein oder zwei Jahre zu früh. Man hat angetestet und festgestellt, dass die Stimmung noch nicht so weit ist. Es wird aber nicht bei diesem Versuch bleiben. Die Werteunion baut ihr Netzwerk erst auf und es wird genügend Kreis- und Landesverbände geben, bei denen die Machtoption das antifaschistische Minimum übertrumpfen werden. Insbesondere wenn der Antikommunismus tief sitzt, alles Linke mit Insbrunst gehasst und abgelehnt wird, hat die AfD gute Chancen auf Annäherung der Union. Die Linken, die Antifa – ein gemeinsamer Feind verbindet und was sind dann schon die paar etwas zu harschen Aussagen von Höcke? Hauptsache man hat den Linken eins ausgewischt. Genau solche Aussagen gab es unmittelbar nach der Wahl Kemmerichs zu vernehmen, bis die Bundesspitze bei Union und FDP dem einen Riegel vorgeschoben hat.

Für eine direkte Kooperation auf Landesebene bieten sich aktuell insbesondere die neueren Bundesländer an, in denen die AfD teilweise zweitstärkste Kraft ist und auch über sehr rechte Landesverbände von CDU und FDP verfügt. Sachsen-Anhalt und Sachsen sind hier die offensichtlichen Kandidaten, aber auch Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg können in Frage kommen, sollte die Union den Platz in der Regierung verlieren. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer offenen Kooperation kommt.

In den Reihen müssen sich dann die Mitglieder, die das antifaschistische Minimum erfüllen und auch ernsthaft vertreten, mit den Mitgliedern umgehen, die dieses Minimum aktiv untergraben. „Wie hältst du es mit der AfD“ dürfte in den kommenden Jahren zur Gretchenfrage werden. Für einige wird sich auch die Frage stellen, ob sie die Partei verlassen, wenn man Gruppierungen wie die Werteunion nicht ausschließt. Es ist anzunehmen, dass sich in den nächsten zehn Jahren auch auf Bundesebene das absolute Kooperationsverbot als Feigenblatt verabschiedet und man zumindest den Landesverbänden offiziell die Faschokuschelei erlaubt. Konservative und Liberale haben auf Partei- und Organisationsebene noch nie von alleine den antifaschistischen Minimalkonsens gehalten und sie werden es auch in Zukunft nicht.

Augen auf beim Aktivismus

 

Aus antifaschistischer Sicht ist es daher geboten, sich die Demarkationslinien innerhalb von Union und FDP genau anzuschauen und nicht blind alle Parteimitglieder als Ziel antifaschistischen Aktivismus anzusehen. So wenig man darauf auch Lust haben mag, im Notfall muss das antifaschistische Minimum auch innerhalb von Union und FDP gestützt werden, sollte die Situation es erforderlich machen. Wichtig ist dabei aber zu beachten, dass es sich ausschließlich um konkrete sachbezogene Aktionen und Themen handeln kann. Jenseits der Fragen des antifaschistischen Minimums gibt es wenig bis gar nichts Verbindendes und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dort Genoss*innen vor sich zu haben.

Auch darf man aus radikal linker und antifaschistischer Perspektive nicht den Fehler begehen und sich zu sehr auf sämtliche Parteien im Parlament verlassen. Insbesondere die gerade überall zu sehenden wehmütigen Gedanken an das Ende von Merkels politischer Karriere strafen jeden eigenen Anspruch Lügen. Ob darin der Wunsch nach gedulsamer Führung durch „Mutti“ oder eine andere Person zum Ausdruck kommt, die eigene Anspruchslosigkeit oder die Angst vor Wandel ist in der Summe nicht zu sagen. Merkel und Co aber über Gebühr als antifaschistische Vorkämpfer*innen zu stilisieren kann aber nicht der Weg sein. Die Union ist auch unter Merkel eine sozialchauvinistische und rassistische Dreckspartei, die nichts gegen den Klimawandel tut und mit Vorliebe auf Linke einprügelt.

Die radikale Linke muss sich in erster Linie auf sich selber verlassen und darf sich auch nicht in inhaltlicher Anbiederung an die eh nicht vorhandene „bürgerliche Mitte“ selbst aufgeben. Es gibt im Falle der AfD nur die Frage, wie konsequent antifaschistisch man ist und wie weit man solidarisch mit entsprechendem Aktivismus ist, auch wenn selbst bestimmte Aktionsformen nicht ausführen würde. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass das alles kein Selbstbespaßungs- und Selbstdarstellungsladen ist. Es muss Antifaschismus immer und vorrangig um die praktische Umsetzung gehen und er muss auf Resultate abzielen. Wenn dann Antifaschist*innen es als erforderlich ansehen ein wenig unverkrampfte Automobilkritik zu äußern oder das Schlüsselbein vom Nazi mal knacken muss, nehmen sie bewusst das Risiko der Strafverfolgung auf sich, um ein Ziel zu erreichen. Und dieses ist nicht die Selbstvergewisserung der eigenen Radikalität. Im Notfall muss man da auch zurückstecken und bei klarer inhaltlicher Positionierung anschlussfähig nach außen bleiben, um eben kein Selbstbespaßungsladen zu werden.

Leicht ist das alles nicht, aber es wird auch in den kommenden Jahren nicht leichter. Die AfD hat es geschafft, dass vorhandene rechtsradikale Stimmenpotential abzugreifen. Was jetzt passiert, wo dieses erstmals eine bundesweit etablierte parteiliche Organisation hat, ist nicht vollends abzusehen. Sicher ist aber, dass es in einigen Regionen zu einem merklichen Einfluss kommen wird und sich nationalistische und völkische Hegemonien ausweiten können. Wie erfolgreich die AfD beim Ausbau ihrer Stimmanteile werden kann, hängt auch zu einem Teil davon ab, wie CDU und FDP es schaffen, den antifaschistischen Minimalkonsens innerhalb ihrer Parteien durchzusetzen. Insbesondere auf Landesebene sollte man sich da aber keinen allzu großen Illusionen hingeben. Liberale und Konservative sind durch die großen inhaltlichen Schnittstellen zu anfällig für die Kooperation, als dass sie es dauerhaft durchhalten könnten, die AfD auszugrenzen. Der Faschismus ist schließlich ein Resultat der Moderne und der bürgerlichen Gesellschaften.

Gedenken auf deutsch – mach es dir einfach

„Wenn irgendein Onlinekommentator sich mit Goethe verbunden glaubt, dann ist das seine nationale Identität. Aber wenn ich ihn mit Hitler in Verbindung bringe, dann bin ich ein Rassist.“ nach Wolfgang Pohrt
 
Heute ist der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Dieses Datum ist inzwischen zum weltweiten Gedenktag der Opfer des Holocausts geworden und so trudeln von allen Seiten fleißig Erinnerungen, Mahnungen und Sharepics ein, damit man dem Datum formal Genüge getan hat. Es ist insbesondere in Deutschland ein Popanz, dem man nicht entgehen kann und deshalb Jahr für Jahr die ewig gleichen Satzbausteine aufwärmt und neu zusammensetzt. Damit hat man dann die Pflicht getan. Mir wäre fast lieber, die meisten täten gar nichts dergleichen, insbesondere sich öffentlich der Gedenkverpflichtung zu fügen und die ewig gleichen Satzbausteine aufwärmen und neu zusammensetzen. Mir geht das inzwischen alles nur noch wahnsinnig auf den Zeiger. Die Jahre haben mich in bestimmten Sachen verbittern lassen und seit der Säulenaktion des ZPS befinde ich mich im Eikel-Geisel-Modus, was das Betrachten der deutschen Aufarbeitunsgökonomie angeht. (Wer mit Geisel nichts anzufangen weiß: https://de.wikipedia.org/wiki/Eike_Geisel und https://lizaswelt.net/2007/08/06/in-memoriam-eike-geisel/) Hinzu kommen das Verhalten der Berliner Polizei, Opfer des Naziregimes und deren Angehörige von ihrem Gedenken abzuhalten, um gleichzeitig den Rechtsradikalen der AfD Vorrang zu gewähren, dieser unsägliche Kommentar von Sabine Müller vom Hessischen Rundfunk zum Gedenken in Yad Vashem und der übliche kollektive Gedenktaumel der gegenseitigen Versicherung, aus der Geschichte gelernt zu haben und besser zu sein.
 
So groß die Worte sind, die man allerorts vernehmen kann, so wenig Konsequenz folgt aus ihnen. Die Ursachen dafür sind vielfältig, haben aber vor allem mit zwei Dingen zu tun: Erstens will man vor allem sicher sein, dass man selber auf der richtigen Seite steht und mit dem Ganzen, was die Nazizeit und den Holocaust ermöglichte, so rein gar nichts zu tun hat. Und zweitens ist das Gedenken immer so lange wohlfeil, wie es ein Gedenken bleibt. Also eine formale Handlung, die man wie eine Begrüßungsrunde bei Familienfeiern einfach abhandeln und sich dann den wichtigen Dingen widmen kann. Eine schonungslose und kritische Betrachtung des Themenkomplexes mit den daraus zu schließenden Konsequenzen, insbesondere für sich selber und das eigene Umfeld, wollen die Wenigsten vornehmen. Es ist zu unbequem, es ist mit Arbeit und Selbstkritik verbunden. Und es berührt elementare Fragen der gesamtgesellschaftlich dominierenden Ansichten. Es hat viel mit Identität zu tun, mit Gruppenzugehörigkeit und sehr viel mit der Fähigkeit, sich selbst innerhalb politischer Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Und es hat sehr viel mit Deutschland und dem Deutschsein als Sozialcharakter und Gruppenideologie zu tun. Kein Wunder also, dass man lieber auf Popanz und deutscheste Pflichterfüllung beim Abarbeiten des Termins setzt.
 

Tradiertes Ressentiment und Abwehreaktion auf die Moderne

 

 
Über dem ganzen Thema hängt wie das Schwert des Damokles die Frage, wie der Holocaust geschehen konnte und warum er ausgerechnet in Deutschland passierte. Diese Fragen zu beantworten ist nicht einfach. Dazu muss man überhaupt erst einmal begreifen, was Antisemitismus ist, wo dieser herkommt und was für Ausprägungen einzelne Ideologiebausteine des Antisemitismus annehmen und wo man sie überall antrifft. Und das tun in vollem Umfang doch recht wenige Menschen. Gerade wenn es um den Holocaust und das NS-Regime geht, wollen viele auch gar nichts von antisemitischen Kontinuitäten wissen. Ein Paradebeispiel dafür ist Philipp Amthors Interview bei n-tv heute. Dort behauptet er, Zuwanderer müssten sich an unsere Kultur anpassen und für Antisemitismus sei kein Platz. Im Gegenteil ist antisemitisches Denken mit seinem Vorlauf im Antijudaismus seit Jahrhunderten fester Bestandteil des öffentlichen Denkens in den Gebieten, die später einmal einen deutschen Nationalstaat bilden sollten. Man könnte sogar sagen, dass, wenn etwas deutsch ist, dann ist es Antisemitismus. Und dieser hat auch heute hier seinen Platz und sitzt im Bundestag, bei der Polizei und in den Ministerien. Er hat eine andere Form finden müssen als in seiner Hochphase des NS, aber er war immer hier und ist in weiten Teilen akzeptiert.
 
Antisemitismus ist nicht einfach nur der Hass auf jüdische Menschen. Antisemitismus ist eine vollständige Ideologie, die in sich geschlossen ein komplett auf Verschwörungsmythen aufbauendes Weltbild erzeugen kann. In voller Entfaltung kann man damit sämtliche Vorgänge und Ereignisse erklären und einer Gruppe von Menschen unmittelbar anlasten, welche entweder direkt Juden (alle oder davon eine große Teilmenge) sind oder in ihrer Funktion innerhalb des Weltbilds die Rolle der Juden einnehmen und so als Chiffre für sie gelten (Kosmopolit*innen, Ostküste, Banker, Rothschilds, etc). Die einzelnen Bestandteile dieser Weltanschauung, auch Ideologeme oder Tropen genannt, bauen zum großen Teil auf Jahrhunderten antijudaistischer Propaganda auf. Der Antisemitismus ist dennoch unweigerlich eine Ideologie der Moderne und das aus zwei Gründen, die ihn vom Antijuadismus wesentlich unterscheiden. Der Antijudaismus bezog sich vorrangig auf den Glauben und so konnte man zumindest theoretisch der unmittelbaren Verfolgung entgehen, indem man sich um- bzw. zwangstaufen ließ. Mit der wissenschaftlichen Revolution und der Herausbildung der einzelnen Disziplinen begann man auch die Natur immer systematischer zu betrachten und teilte schließlich auch den Menschen in verschiedene Rassen ein. Die darauf aufbauende Rassenkunde des Menschen erweiterte dies auf Volksgemeinschaften und schrieb diesen per Geburtsmerkmal bestimmte Eigenschaften zu. Die vormals vorrangig am Glauben festgemachten Verschwörungsmythen wurden im 19. Jahrhundert verstärkt als unveränderliche Eigenschaften des jüdischen Volkes an sich angesehen. Kann man sich vom Glauben theoretisch lösen, so ist das jetzt nicht mehr möglich. 
 
In das 19. Jahrhundert fällt auch die Herausbildung der Nationalstaaten in Europa, welche vom Aufstieg des Bürgertums und des Kapitalismus begleitet wurde und das Ende des Feudalismus bedeutete. Dies brachte massive gesellschaftliche Umbrüche mit sich. Die Juden, eh schon durch Berufsverbote, Verfolgung und Ausgrenzung in eine Außenseiterposition durch den Ruf der Geldgier gebracht, boten sich förmlich dazu an, die vorhandenen Mythen auszubauen und als Projektionsfläche für die negativen Auswirkungen der Umbrüche. Die zunehmend abstrakter werdenden Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus wurden auf diese Weise vereinfacht und greifbar, man ordnete sich die Welt so, wie es einem gerade passte und hatte Sündenböcke parat. Der Antisemitismus als Welterklärung ist also unweigerlich ein Teil der Moderne und stellt eine Abwehrreaktion auf die immer komplexer werdenden Gesellschaften dar. Was man nicht versteht, rationalisiert man sich unter antisemitischen Vorzeichen zusammen. Es war der Jud und die sind ja von Geburt aus so. Weiß man doch“, denkt man sich dann so.
 

Das deutsche Wesen

 

 
Besonders stark ausgeprägt war der Antisemitismus im deutschsprachigen Raum. Das Wort „Antisemitismus“ selber ist eine deutsche Erfindung und geht auf Friedrich Marr zurück, der 1879 die „Antisemitenliga“ gründete, welche den Begriff popularisierte und die Judenemanzipation innerhalb des Deutschen Reiches zurücknehmen wollte. Politisch organisierter Antisemitismus war fester Bestandteil des deutschen Parteien- und Vereinswesens von Beginn an. Marr selber ist auch für eine der ersten schriftlichen Aufzeichnungen des Mythos bekannt, die später als jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung und als Reaktion auf den Untergang der UDSSR heutzutage als Kulturmarxismus weiten Anklang findet. Auch für die Niederlage im Ersten Weltkrieg machte man gerne die Juden verantwortlich und die Popularität des antisemitischen Machwerks „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in den 20ern Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland belegen das. Der Antisemitismus hatte in Deutschland eine alle Bevölkerungsschichten durchdringende und verbindende Funktion. Und wenn die Juden genetisch so veranlagt sind, wie man es ihnen zuschreibt, dann liegt es in ihrer Natur und sie werden immer so handeln. Was also tun, wenn man verhindern will, dass sie auch in Zukunft ihrer Natur folgen? Die letzte Konsequenz eines geschlossenen antisemitischen Weltbildes ist die Vernichtung der Juden. Und genau das taten die Deutschen dann auch. Der eliminatorische Antisemitismus wurde auch nicht erst durch die Nazis erfunden, entsprechende Forderungen gab es schon vorher, unter anderem von Eugen Dühring. Dieser war an der Entwicklung des Rassenantisemitismus maßgeblich beteiligt und hatte zeitweise einen so großen Einfluss auch innerhalb des sich organisierenden Proletariats, dass Friedrich Engels sich zu einer Reihe von Artikeln veranlasst sah, die dann als sogenannter „Anti-Dühring“ in Buchform zusammengefasst wurden.
 
Verantwortlich dafür war auch das völkische Denken, welches insbesondere in Deutschland weit verbreitet war und aus Ablehnung gegenüber dem Erzfeind Frankreich und dessen republikanischen Bürgerverständnis in Stellung gebracht wurde. Von Citoyen und Bourgeoise wollte man nichts wissen, man war volksdeutsch. Und so führte das spezifisch deutsche Wesen dann unter der Herrschaft der von Beginn an offen radikalantisemitisch auftretenden Nazis zum Holocaust und der Befreiung Auschwitz-Birkenaus vor 75 Jahren als dessen symbolischen Endpunkt. Dabei ist der Holocaust nur ein Symptom, die Vernichtung der Juden ist die konsequente Auslebung von antisemitischen Ressentiments durch den Staat und weite Teile der Bevölkerung sowie der Tatenlosigkeit des Auslands. 
 

Schuldabwehr, Verdrängung und Selbstbetrug

 

 
Was ist demzufolge die einzig logische Konsequenz, um ein weiteres Auschwitz wirklich zu verhindern? Man muss sich mit den über Jahrhunderte gewachsenen und gesamtgesellschaftlich verfestigten antisemitischen Ressentiments auseinandersetzen und diese bekämpfen. Da diese aber eben über Jahrhunderte von breiten Bevölkerungsteilen in unterschiedlichen Ausprägungen vertreten wurden, kann man dies nicht, ohne sich in einer Form der Kollektivschuld der Deutschen zu stellen. Die Deutschen haben aber bereitwillig die NSDAP gewählt und sich auch recht kampflos in das NS-Regime gefügt. Die Nazis verfügten über eine breite Zustimmung innerhalb der Bevölkerung und setzten ihr antisemitisches Programm Stück für Stück um, ohne dass sie dafür ernsten Widerstand von innen bekamen. So gut wie alle Personen innerhalb des Deutschen Reiches haben auf irgendeine Art am NS partizipiert und nichts im Angesicht der Barbarei unternommen.
 
Also erfand man sich selber einen Entschuldungsmythos, der es sogar zum Gründungsmythos der BRD geschafft hat: Die Stunde Null. Aber wer am 1. Mai 1945 Nazi war, ist nicht am 1. Mai 1946 plötzlich geläuterter Demokrat. Es gab keine Stunde Null, man versuchte nur so gut wie möglich unter der Besatzung mit den neuen Gegebenheiten klarzukommen. Nazi war plötzlich niemand mehr gewesen, gewusst hatte man auch nichts und selbst wenn, was hätte man denn schon tun können? Dieser Mythos wurde zu einem prägenden Moment in der jungen BRD und erlaubte dann auch die schnelle Eingliederung alter Nazis in den neuen Staat, man deckte sich gegenseitig und schwieg schlichtweg über die eigene Beteiligung. Außerdem hatte man den Krieg verloren und wurde geteilt, damit sollte es doch eigentlich dann auch wieder genug sein. Man ging als Volkskollektiv in den Krieg und danach wollte man kollektiv im Volk nichts mehr von sich selber wissen.
 
Der Kampf um eine umfassende Aufarbeitung deutscher Verantwortung ist bis heute nicht abgeschlossen. Das heutzutage schwer nachzuvollziehende Moment des kollektiven Wahns gegen die Juden und die unvorstellbare Grausamkeit der Vernichtungslager machen es einfach, sich der eigenen Aufarbeitung zu entziehen. Mit der Massenvernichtung hat man ja schließlich nichts zu tun und würde das auch niemals tun, so tönt es vielerorten aus den Mündern derjenigen, die sich nicht mit Antisemitismus beschäftigen wollen. Dabei nehmen sie die schlimmstmögliche Erscheinungsform des Antisemitismus und stellen diese als die Norm da. Und damit haben die meisten heutzutage tatsächlich nicht viel zu tun. Nur ist eine Erscheinungsform, ein Symptom, niemals die Ursache. Die Ursache sind die eben seit Jahrhunderten tradierten Ressentiments gegen Juden und das darauf aufbauende antisemitische Weltbild. Und das verschwindet nicht plötzlich, nur weil die rote Fahne vom Reichstag geschwenkt wird. Wer Auschwitz verhindern will, muss sich also kritisch mit den Facetten antisemitischen Denkens, dem antisemitischen Einfluss im deutschen Wesen und mit dem spezifisch deutschen Sozialcharakter auseinandersetzen, der den Holocaust ermöglicht hat. 
 
So geht das natürlich nicht. Dann wäre ja möglicherweise das trügerische Selbstbild von sich und der Gesellschaft in Gefahr. Und so hat man sich in Deutschland erst sehr lange vor der eigenen Verantwortung gedrückt und sich dann schlussendlich eine moralische Überlegenheit daraus zusammengeschustert, dass man nicht alle Phasen der deutschen Vergangenheit bejubelt. Ich war früher auch so. Ich habe früher auch das Anerkennen des Holocausts und Dinge wie das Holocaustmahnmal dazu benutzt, Deutschland und mich als anderen Ländern moralisch überlegen zu fühlen. Von den Opfern wollte ich nichts hören, von den Ursachen auch nicht. Stattdessen sollte am deutschen Gedenkwesen die Welt genesen und es alle so wie wir machen. Wir Deutschen haben immerhin aus der Vergangenheit gelernt! Wir sind gut und stehen jetzt auf der richtigen Seite der Geschichte. Mit solch einfachen Schlagworten habe ich eine ernste Auseinandersetzung mit dem Thema weggeschoben. Der Möllemann hatte damals auch Recht in meinen Augen, dass man ja nichts mehr sagen dürfe und irgendwann muss doch auch mal Schluss sein. Wir stellen uns ja immerhin gerade ein Holocaustmahnmal ins Zentrum der Hauptstadt, also bitte keine Belehrungen von Opfern und Angehörigen.
 

Es geht nicht um das eigene Wohlgefallen

 

 
Aber das war einmal. Von diesem Denken habe ich mich, ausgelöst durch einige harte Einschnitte in meine Gedankenwelt, Stück füt Stück verabschiedet. Ich habe gelernt, dass es nicht um mich geht. Es geht nicht darum, dass ich mir selber die Versicherung ausstelle, ja nur auf der richtigen Seite zu stehen. Es geht nicht um mein Selbstbild, es geht um gesellschaftliche Prozesse und Ansichten. Und an diesen bin ich möglicherweise beteiligt und diese habe ich möglicherweise selber durch meine Sozialisation verinnerlicht, ohne das ich mir über sie im Klaren bin. In einer Gesellschaft, in der man sich nicht konsequent mit den Ausprägungen antisemitischen Denkens beschäftigt, lernt man das nicht automatisch. Und wenn dann jemand an die Grundfesten kollektiver Ansichten geht, dann will man davon auch in der Regel nicht viel wissen. Weil das sehr wahrscheinlich auch eine Selbstkritik in einigen Punkten erforderlich macht und sich das für Leute, die nur auf Selbstversicherung aus sind, nicht gut ausgeht. 
 
In einem größeren Maße hat man das sehr deutlich bei der Säulenaktion des ZPS gesehen. Und das nicht nur bei uns, eigentlich überall wo das Stören der jüdischen Totenruhe und das vollständige Übergehen der Opfer- und Interessenverbände kritisch gesehen wurde. Diese Aktion hat neben allem, was man daran konkret kritisieren kann, eine Welle an sekundärem Antisemitismus ausgelöst. Da durften sich dann Juden anhören, man solle gefälligst froh sein, dass die Asche ihrer Angehörigen jetzt doch noch mal für einen guten Zweck verwendet wird. Wer das anders sähe, der spalte die Linken/das antifaschistische Lager/die Gesellschaft und man soll sich doch nicht so haben wenn Deutsche gerade aus ihrer Vergangenheit lernen. Das ZPS dient dabei als eine Art Projektionsfläche des Denkens auf der richtigen Seite zu stehen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Wie man selbst im Kleinen immer schön auf der richtigen Seite stehe, so tut es das ZPS stellvertretend für die guten Deutschen bundesweit. Das Gewissen wird dann gleich doppelt beruhigt, weil es öffentlich passiert und man sich öffentlich auf die richtige Seite stellen kann, während das Denken einem größtenteils vorher abgenommen wurde. 
 
Dabei stören dann natürlich Kleinigkeiten wie der Zentralrat der Juden, das Auschwitzkomitte und der Zentralrat der Sinti und Roma. Solange man denen ein paar Sachen hinbauen kann und ein, zwei Mal im Jahr ein „nie wieder“ verlautbaren lässt, ist es ja noch auszuhalten mit denen. Fängt der Jude dann aber mal an, eine eigene Haltung zu entwickeln und das kollektive Reinwaschen von jeglicher Schuld und Verantwortung in der Praxis kritisch zu sehen, dann geht das überhaupt nicht mehr. Man arbeitet hier immerhin auf, was wollen die Opfer und deren Nachfahren denn noch? Undankbares Pack. So hätte ich vor 15 Jahren auch noch argumentiert und wäre auch ein großer Fan vom ZPS gewesen. Das Alles nur, um mich selbst nicht kritisch sehen zu müssen. Und die Leute, die vor ein paar Wochen noch jegliche Kritik an der Aktion und am ZPS selber abschmetterten und den Opfern und Angehörigen erklären mussten, wie es Deutsche richtig machen, gedenken heute der Befreiung von Auschwitz und mahnen an, alles gegen Antisemitismus zu tun. Nur halt nicht bei sich selbst.
 

Eine Politik des Versagens

 

 
Doch nicht nur auf der individuellen Ebene hat man in Deutschland Probleme damit, ernsthafte Konsequenzen aus dem Holocaust zu ziehen und das eigene politische Handeln ernsthaft daran auszurichten. Solange man es bei Worten belassen kann, sind die meisten freudig mit dabei. Geht es dann um ein Übertragen auf die Realpolitik, knicken die meisten ein. Was nützt es, wenn Steinmeier in Yad Vashem ein paar wohlige Worte quacksalbert, wenn die Berliner Polizei der AfD den Erstzugang zum Gedenken in Marzahn ermöglicht und Opfer, Angehörige und Antifaschist*innen ausschließt? Selbst wenn man, warum auch immer, der AfD und anderen Rechtsradikalen einen Besuch am Gedenktag gestattet bzw. gestatten muss, dann doch nicht mit Vorzugsbehandlung. Man kann doch nicht die parlamentarische Kraft des Faschismus, die im Kern geschichtsrevisionistisch ist und bis in die Spitze mit antisemitischen Personen besetzt ist, einen Fünf-Sterne-Tag bescheren und diejenigen benachteiligen, die sich ernsthaft gegen antisemitische Kontinuitäten einsetzten und das mit dem „nie wieder“ ernst meinen. Solange es zu solchen Szenen kommt, braucht wirklich niemand im Staatsapparat etwas davon erzählen, man sei konsequent im Kampf gegen Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus. 
 
Es ist auch völlig egal, dass ein Heiko Maas wegen Auschwitz in die Politik gegangen ist, wenn er dann mit Antisemiten aus dem Iran und anderen Ländern lächelnd vor der Kamera die Hände schüttelt, während sich die deutsche Außenpolitik nicht merklich ändert im Umgang mit antisemitischen Regimen und Organisationen. Von „historischer Verantwortung“ wird viel geredet, aber sie stört immer dann, wenn es konkret wird. Und so duckt man sich weg vor der Selbstkritik. Und das nicht nur auf staatlicher Seite oder bei den Rechten. Antisemitismus ist nichts, was einer bestimmten politischen Richtung vorbehalten ist und anschlussfähig an alle politischen Lager. Die Linke hat bekanntermaßen genug Probleme mit Gestalten wie Dehm und solid.nrw, Gabriel hat als Außenminister Israel einen Apartheidsstaat genannt und ein Norbert Blüm krebst auch noch munter bei der Union rum. Der Verfassungsschutz beobachtet dagegen den VVN-BdA und der Verein bekommt die Gemeinnützigkeit entzogen, weil man sich zu sehr politisch äußert. Olaf Scholz will allen Vereinen in Deutschland politisch einen Maulkorb verpassen und ihnen politisches Engagement beim gleichzeitigem Status der Gemeinnützigkeit unmöglich machen. Natürlich hat auch er heute ein We remember“-Schild in die Kamera gehalten, garantiert ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. 
 
Niemand will AntisemitIn sein und so was gibt es folgerichtig auch nicht im eigenen Umfeld. Zusammen mit einem Bildchen am 9. November und am 27. Januar ist die Sache dann getan und das Gewissen ausreichend beruhigt. Danach kann man dann wieder Auschwitz mit Gulags und NS mit Kommunismus gleichsetzen, behaupten in Palästina passiere gerade das Gleiche wie damals im Dritten Reich und die Medien seien alle irgendwie gesteuert, während Antisemitismus keinen Platz in Deutschland habe und wir ja alle draus gelernt hätten. Deutsche Erinnerungskultur und die entsprechende Aufarbeitung ist eben doch nur deutsch und es wäre überraschend, wenn man sich daraus nicht auch noch eine gerne nach außen getragene Überheblichkeit konstruieren würde. Anstatt sofort auf Abwehr und Gegenangriff zu setzen, wenn es um das Thema Antisemitismus geht, sollte man vielleicht erst einmal die Argumente wahrnehmen und schauen, ob sie nicht tatsächlich einen selber betreffen. Wenn es immer nur die Anderen waren, ist es am Ende niemand gewesen. Wer ein neues Auschwitz ernsthaft verhindern will, sollte nicht beim leisesten Hauch von Kritik auf die Barrikaden gehen. Und im Idealfall zieht man tatsächliche Konsequenzen, die sich in mehr als nur ein paar Worten dann und wann ausdrücken.

Care-Arbeit und Probleme ihrer Aufwertung

Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat eine neue Ausarbeitung veröffentlicht. Darin geht es um die weltweit wachsende Ungleichheit und das weitere Auseinanderdriften der Einkommensverteilung und Arbeitsbelastung.

Wer sich mit dem Themenkomplex ein wenig auskennt, wird hier keine großen Neuigkeiten vorfinden. Die einzelnen Punkte sind wohlbekannt und wurden hier publikumswirksam mit persönlichen Geschichten garniert, um das manchmal trockene Runterbeten von Zahlen emotional zugänglicher und greifbarer zu machen. Ein alter und weil wirksam gerne genommener Trick. Der Schwerpunkt liegt hier auf zwei Personengruppen: Milliardäre (Oxfam zählt 2153, von denen laut Forbes Magazin 233 Frauen sind) auf der einen Seite und Frauen/Mädchen in den unteren Einkommensschichten auf der anderen Seite. Mit dieser Gegenüberstellung fährt Oxfam die gerade populäre Schiene, sich an den Extremauswüchsen der kapitalistischen Wirtschaftsweise abzuarbeiten und einen faireren Kapitalismus zu skizzieren, ohne jedoch den Kapitalismus in seinen Grundmechanismen überhaupt als Problem wahrzunehmen.

Dieser Umstand zieht sich auch in vielen kleinen wie großen Dingen durch die Veröffentlichung durch und letztendlich führt sie auch zu einer schwierigen Implikation, wie sie mit dem Sharepic von HR Info deutlich wird. Die dahinterstehende Problematik beruht im Grunde auf dem Verständnis von Arbeit und Entlohnung und berührt auch aktuelle Trendbegriffe, die teilweise in urfeministische Bereiche hineinreichen. Zentral ist dabei das Feld der Reproduktionsarbeit bzw. der Care-Arbeit, was sich intuitiv besser greifen lässt. Zu diesem Bereich zählt man Kinderbetreuung, Pflege, Hausarbeit und im weiteren Sinne nach Margrit Brückner „de[r gesamte] Bereich weiblich konnotierter, personenbezogener Fürsorge und Pflege, d.h. familialer und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung und stellt sowohl eine auf asymmetrische Beziehungen beruhende Praxisform als auch eine ethische Haltung dar.“ ^1

Sowohl Feminist*innen als auch radikale Linke haben die geschlechterasymetrische Verteilung dieser Tätigkeiten und somit die Ausbeutung von Frauen im Familienverbund und auf gesellschaftlicher Ebene seit weit über 100 Jahren aufgezeigt und kritisiert. Die Soziologie liefert ebenfalls seit Jahrzehnten entsprechendes Datenmaterial und es liegt vor allem an der eigenen weltanschaulichen Ausrichtung, wie man diese Ungleichverteilung der geleisteten Carearbeit einordnet. Rechte zum Beispiel sehen darin in der Regel kein Problem, da für sie Frauen als selbstverständlich angenommen emotionaler sind und so „natürlich“ besser für Erziehung und Pflege geeignet seien als Männer. Sie nehmen solche Tatsachen daher eher mit einem Schulterzucken zur Kenntnis und bekämpfen im Gegenzug jegliche Gleichverteilungsbestrebungen.

Soweit erst einmal der allgemeine Rahmen, aber wo fangen jetzt aus linker Sicht die Probleme an? Hier wird ja eine Gleichverteilung der zu leistenden Arbeit angestrebt. Im Sharepic des HR kann man das Wort „unbezahlt“ lesen. Und je nachdem, was man jetzt als Arbeit definiert, ist das auch vollkommen richtig. Im Endeffekt gibt es für alles, was man als menschliche Tätigkeit und soziale Interaktion vornehmen kann, eine Möglichkeit der Monetarisierung, also der Lohnarbeit. Insbesondere wenn man von Erziehungs- und Pflegearbeit spricht, gibt es für alles bezahlte Jobs. Aber auch – jetzt folgt ein aktueller Trendbegriff – „emotional labour“ kann bezahlt werden. Eigentlich wird darunter verstanden, dass man sich auf Arbeit für Kolleg*innen und Kundschaft verstellt, heutzutage wird der Begriff aber teilweise für so ziemlich alles verwendet, was man unter „Leuten zuhören“ verstehen kann. Dafür gibt es ausgebildete Psycholog*innen, deren Job es ist, Leuten bei ihren Problemen zuzuhören. Sex wird unter dem Motto „Sexarbeit (ist Arbeit wie jede andere)“ ebenfalls in diesen Bereich eingemeindet.

Unstrittig ist, dass es eine geschlechterspezifische Ungleichverteilung gibt. Die Frage ist nur, ob man diese in Form von Lohnarbeit der kapitalistischen Verwertung unterwerfen soll. Soll jetzt alles, wofür man Geld nehmen kann, auch der Lohnarbeit unterworfen werden? Stellt Mama demnächst Rechnungen für das Putzen der Wohnung und lassen sich Freunde emotional labour auszahlen, wenn sie deinem Liebeskummer für ein paar Wochen zuhören? Diese Beispiele sind zugespitzt, treffen aber den Kern des Problems der unebzahlten Carearbeit. Auf der einen Seite wird der Bereich der Carearbeit momentan immer weiter gefasst (siehe emotional labour, was einem immer häufiger unterkommt), auf der anderen Seite diese Arbeit dann als un- oder unterbezahlt aufgezeigt und somit in letzter Konsequenz zu Lohnarbeit gemacht.

Wer mit der Warenwerdung von Produkten, Tätigkeiten und letztendlich von Menschen selbst im Kapitalismus vertraut ist, muss hier die Alarmsignale wahrnehmen. Die Lösung der ungleichverteilten Tätigkeiten im Carebereich kann nicht sein, dass man noch mehr Tätigkeiten der kapitalistischen Verwertung unterwirft. Zumal die einzelnen Felder in der Regel nicht genau taktbar sind und somit rationalisiert werden können. Die Kindheit und Alter passen schlecht in Verwertungslogiken des Kapitals und Gewinnerzielungsinteressen und Rationalisierung betreffen ganz direkt die Lebenqualität. Wenn man wie Oxfam kein Interesse daran äußert, den Kapitalismus zu überwinden, läuft man Gefahr, hier mit einer an sich unterstützenswerten Forderung neue Bereiche der kapitalistischen Verwertung zu unterwerfen, die dann aber bitte geschlechtergerecht zu verwerten sind. Und die sich auch nicht wirklich kapitalistisch verwerten lassen, ohne das soziale Gefüge zu einem großen Teil zu verkapitalisieren. Niemand sollte ein Interesse daran haben, familiäre und freundschaftliche Interaktionen unter emotional labour einzuordnen und monetär aufzuwiegen, selbst wenn es nur im Kopf geschieht. Was wäre die letztendliche Konsequenz aus einer bis zu Ende gedachten Lohnarbeit für emotional labour? Stellen sich Freundeskreise am Ende vom Monat gegenseitig Rechnungen aus?

Was mit Bereichen passiert, die der kapitalistischen Verwertung unterworfen werden, sieht man im Bereich der Medizinversorgung. Und genauso sieht man die Unterschiede, die Eingriffe von öffentlicher Seite bewirken können. Man muss sich nur einmal die die Gesundheitsbranche in den USA anschauen. Dort kostet die Geburt eines Kindes im Krankenhaus durchschnittlich 10.000 Dollar. Ja, richtig gelesen. Man muss im Schnitt 10.000 Dollar dafür zahlen, dass man im Krankenhaus ein Kind gebirt. Teilweise wird sogar das Halten des Babys nach der Geburt in Rechnung gestellt. Untersuchungen im Krankenhaus kosten schnell vier- bis fünfstellige Beträge und viele Menschen können sich lebensnotwendige Behandlungen und Medikamente nicht leisten. So sieht eine im Vergleich unregulierte kapitalistische Verwertungslogik aus. Bei aller notwendig zu leistender Kritik am deutschen Gesundheitssystem (oder anderen vergleichbaren), sind die Unterschiede in der Breitenversorgung eklatant. Niemand stürzt hier durch die Kosten einer Herzoperation direkt in die Armut.

Der Bereich der Carearbeit, insbesondere der Bereich der Pflege, ist vor solchen Zuständen wie in den USA auf jeden Fall zu bewahren. Eine Ausweitung der Lohnarbeit auf Caretätigkeiten jeglicher Art birgt diese Gefahr immer in sich. Und mit einer CDU am Drücker sollte man auch vorsichtig sein, welche Forderungen man stellt. Spahn wirbt aktuell um Pflegekräfte aus Lateinamerika, um die hiesigen Leerstellen zu besetzen. Das europäische Ausland wurde schon größtenteils abgegrast und es sind solche Vorgänge, die von Oxfam und anderen zurecht kritisiert werden. Genau solche Missstände sollen durch eine Aufwertung der Carearbeit auch monetär behoben werden. Nur werden sie das nicht langfristig verhindern können, wenn sie die Lohnarbeit als Konzept stärken und den Kapitalismus in seinem Lauf nicht überwinden wollen. Oxfam selber fordert auf Seite 43: „[…] shift the responsibility for of unpaid care work to the state and the private sector.“ ^4 Es wird also eine Ausweitung der kapitalistischen Privatwirtschaft gefordert, wenn auch unter gewissen „fairen“ Rahmenbedingungen.

Idealerweise muss der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit bei der zu leistenden notwendigen und erforderlichen Arbeit ein antikapitalistischer sein und Menschen wie menschliche Tätigkeiten entkomodifizieren, sie also der kapitalistischen Verwertung entziehen. Dies trifft vor allem den sozialen Bereich somit die Carearbeit. Sicher ist das schwer inmitten einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Aber in einer postkapitalistischen Gesellschaft mit überwundener Lohnarbeit und einem viel niedrigerem Arbeitspensum als heutzutage nehmen soziale Aktivitäten einen sehr viel größeren Wert ein als heutzutage. Gerade die Benachteiligung von Frauen rührt innerhalb des Kapitalismus zum Teil daher, dass sich die ihr zugeschriebenen Tätigkeiten und das Gebären der Kinder nicht einfach plan- und berechenbar der Verwertung unterwerfen lassen. Man muss also die Gratwanderung schaffen, einerseits die geleistete Arbeit im Carebereich besser zu entlohnen und die Geschlechterasymetrie zu beenden, anderseits aber darauf zu achten, nicht der Verwertbarkeit anheim zu fallen und im Namen der Emanzipation das Spiel des Kapitalismus betreiben und Wege zu finden, dessen Verwertungslogik von links auszuweiten. Stattdessen kann man über den Bereich der Carearbeit einen neuen Gesellschaftsansatz konzipieren, der eben jene Logik überwindet und als Blueprint für andere Dienstleistungsbereiche dienen kann und auch für die Güterproduktion postkapitalistische Anregungen liefert.

^1 Brückner, Margrit: Entwicklungen der Care-Debatte – Wurzeln und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, Ursula; Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2010, S. 43

#akkvorschlaghammer und der Versuch die ZPS-Säule abzubauen

Heute wurde in Berlin versucht, die Säule des Zentrums für politische Schönheit, kurz ZPS, zu entfernen. Das ZPS hatte mit einer Aktion Opfer des Holocaust instrumentalisiert, Opfer- und Angehörigenverbände ignoriert und sich wahrheitswidrig als große Aufdecker inszeniert, im Endeffekt aber vorrangig sich selber in Szene gesetzt. Dazu haben wir uns bereits geäußert und zusätzlich eine allgemeine Kritik am ZPS aus antifaschistischer Sicht formuliert, da auch reale Antifaarbeit vom ZPS auf ähnliche Weise instrumentalisiert wird. Man setzt sich gerne selbst in Szene und verkauft Dinge als Eigenleistung, die unzählige Aktivist*innen unentgeltlich erbringen. Nachzulesen ist die Kritik hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/12/04/causa-zentrum-fuer-politische-schoenheit/ 
 
Heute sollte mit der Aktion #akkvorschlaghammer die Säule entfernt werden. Dazu sollte die Säule abgeflext werden, was kurz vor Gelingen durch das Eintreffen der Polizei verhindert wurde. Es wurden Personalien einiger Anwesender festgestellt und laut Aussage der Polizei wurde Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt. In einer Pressemitteilung wird die Intention des ZPS unterstützt, insbesondere die CDU/CSU vor einer Zusammenarbeit mit der AfD zu warnen. Jedoch ist man über die „Ignoranz gegenüber lebenden Jüdinnen und Juden“ bei der „Planung und Durchführung“ entsetzt und kritisiert die Art, wie die Shoa „triviliasiert“ wird. Nachzulesen ist die Mitteilung hier: https://twitter.com/democ_de/status/1213804310091436033/photo/2
 
Interessant ist, dass die Säule nach Aufforderung vom Bezirksamt bereits vor zwei Wochen hätte geräumt werden sollen, was vom ZPS ignoriert wurde.  Philipp Ruch, Kopf des ZPS, war während der Aktion kurz am Telefon zu vernehmen, beendete das Gespräch jedoch mit Verweis auf private Verpflichtungen. Denn die Frage des Besitzes der Säule wirft eine für ihn privat- wie steuerrechtlich interessante Frage auf: Wem gehört die Säule und wer ist dafür verantwortlich? Für Kosten der Aktionen kommt ein Verein auf, mit dem Ruch offiziell nichts zu tun hat. Enno Lenze schreibt in einer Recherche dazu:
 
„Spendet man über die Homepage, in deren Impressum Ruch privat steht, so geht die Spende gar nicht an ihn. Die hinterlegte Emailadresse ist mit einem Paypalkonto verbunden, welches einem gemeinnützigen Verein gehört. Dieser soll auch die Spendenbescheinigung ausstellen, die bei entsprechenden Versuchen aber nie ankamen. Der Verein hat Angestellte, Ruch ist nicht im Vorstand. Sonst ist wenig bekannt. Ruch gehört eine Kapitalgesellschaft in Birmingham, deren Zweck unter anderem die Vermarktung von Kunstwerken ist. Das Geschäft scheint gut zu laufen, wie man den Geschäftsberichten entnehmen kann. Hier sind „net current assets“ von rund 40.000€ verzeichnet.“ Quelle: https://ennolenze.de/zps-alleinnuetzige-gesellschaft-ohne-haftung/4324/ 
 
Sollte Ruch jetzt tatsächlich Anzeige gestellt haben, wären vermutlich auch seine geschäftlichen Verwicklungen zu klären – oder Verantwortliche des gemeinnützigen Vereins, mit dem Ruch angeblich nichts zu tun hat, an den aber die Spenden gehen, für die er auf der Seite des ZPS einsteht.  
 
Jenseits aller rechtlichen Fragen bleibt weiterhin der Umstand, dass das ZPS sehr oft ohne Einbindung von seit Langem in den Bereichen tätigen Personen und Organisationen Aktionen aufzieht und mit der Säulenaktion ganz unmittelbar jüdische Verbände übergangen hat, um die Shoa für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Die öffentliche Kritik war dieses Mal so groß, dass man dazu auch eine Entschuldigung abgegeben hat. 
Ebenso ist wieder zu bemerken, dass Kritik am ZPS von Vielen als Sakrileg angesehen wird. Solange man nur für die richtige Sache wäre, ist alles in Ordnung. Inflationär wird mit dem Vorwurf des Spaltens agiert. In der Masse ist aber vor allem festzustellen, dass man so inhaltliche Kritik vollständig abblocken will und sich gar nicht erst mit dieser befassen möchte. Denn es ist egal, was man beim ZPS kritisiert und es ist egal, um welche Aktion es sich konkret handelt, es kommen immer die Vorwürfe des Spaltens.
 
Dabei geht es gerade in Deutschland bei Schuldaufarbeitung und dem Ziehen der Konsequenzen daraus nicht darum, dass sich möglichst viele damit wohl fühlen. Es geht darum, konsequent gegen den deutschen Sozialcharakter vorzugehen, der seinerzeit das Naziregime mit Massenunterstützung ermöglicht hat und sich dann nach Ende des Krieges in diversen Formen der Schuldabwehr betätigte. Nur irgendwie gegen Rechte zu sein ist da nicht ausreichend. Es gehört vor allem dazu, sich selbst in den eigenen Ansichten zu Fragen von Schuld und Verantwortung radikal in Frage zu stellen und kritisch unter die Lupe zu nehmen.
 
Antifaschismus ist keine narzisstische Selbstinszenierung, es ist kein Geschäft zur Vermarktung, es ist kein Übergehen der Opferverbände, es ist auch keine Selbstvergewisserung auf der richtigen Seite zu stehen, damit das eigene Gewissen beruhigt ist. Es ist auch kein Loben von Aktionen, die andere stellvertretend für das eigene Gewissen durchführen, um den Markt des Gewissens zu beruhigen. Antifaschismus ist die Notwendigkeit des Handelns, beruhend auf gesellschaftlichen Zuständen, Ansichten und Vorgängen, die es zu überwinden gilt. Nicht alles davon muss unmittelbar faschistisch sein, die Schuldverdrängung und der entsprechende Abwehrkomplex zum Beispiel sind hier als Beispiel zu nennen. Vieles davon ist in einem sekundärfaschistischem Feld angesiedelt, also im Umgang und mit der Rezeption von Faschismus und Faschist*innen. Dabei muss man sich selbst als in dieser Gesellschaft und mit ihrem Umgang sozialisierte Person selbst in Frage stellen. Auch wenn es dem eigenen Gewissen nicht immer zu mehr Gemütsruhe verhilft und man sich selbst unangenehmer Selbsterkenntnis stellen muss, vielleicht nicht ganz dem Selbstbild entsprochen zu haben – oder das Selbstbild als mangelhaft zu erkennen.