Nachruf: Rosa Luxemburg

„Liebknecht auf der Flucht erschossen – Rosa Luxemburg von der Menge getötet!“ titelte die Berliner Zeitung am 16.01.1919. Eine dreiste Lüge.

Am 15.01.1919 wurde Rosa Luxemburg Opfer eines Mordkomplotts, Karl Liebknecht ebenfalls hinterrücks erschossen.
Luxemburgs Leiche bargen Schleusenarbeiter am 31. Mai aus dem Berliner Landwehrkanal.
Am Abend des 5. Januar 1919 besetzten bewaffnete SpartakistInnen das Berliner Zeitungsviertel. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg konnten der Festnahme zunächst entgehen. Obwohl dieser Aufstand rund 160 Beteiligte das Leben gekostet hatte, verteidigten beide vehement ihre Propaganda. Luxemburg hatte am 7. Januar in Die Rote Fahne Position für die notwendige Gewalt bezogen: „Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen.“

Die untergetauchten Luxemburg und Liebknecht wurden an ihrem Todestag im Berliner Hotel Eden unter Misshandlungen vernommen. Nachdem sie aus dem Hotel gebracht wurde, wurde mehrmals mit einem Gewehr auf sie eingeschlagen, sie in ein Auto gestoßen und zum Landwehrkanal gefahren. Weil sie zu dem Zeitpunkt noch nicht tot war, wurde sie mit einem Kopfschuss ermordet und ihre Leiche anschließend in den Kanal geworfen.
Der Soldat Franz Röpke meldete seinem Vorgesetzten Hauptmann Weiler: „Eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwimmen sehen.“
Waldemar Pabst, ein deutscher Offizier und stets bemüht um Verknüpfungen zwischen der deutschen Armee, rechten Organisationen und Rüstungsindustrie, initiierte die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs. „Ich ließ Rosa Luxemburg richten“, sagte er später in einem Interview, weil Deutschland nur so vor dem Kommunismus hätte gerettet werden können (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45139766.html ).

Im Prozess vor dem Kriegsgericht, den Paul Jorns führt, später Chefankläger an Hitlers Volksgerichtshof, gegen neun Soldaten, tritt Pabst nur als Zeuge auf.
Leutnant Liepmann gesteht, Liebknecht getötet zu haben, wird aber von der Anklage des Mordes freigesprochen, da Liebknecht eben „auf der Flucht erschossen“ worden sei. Nur Sechs Wochen sitzt Liepmann ab. Luxemburgs Mörder wird nie gefunden. Pabst musste sich nie für einen der beiden Morde verantworten.

Ihr Tod machte Rosa Luxemburg bekannt.
Ihr Tod machte sie zur Heldin.
Ihr Tod machte sie zur Märtyrerin.

Ihrer gedenken jährlich Hunderte an ihrem Grab, mag es auch zynisch sein, Luxemburg und Lenin in einem Atemzug zu nennen. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden ist der Januar als Todesmonat und der Anfangsbuchstaben L. Die Alliteration, die daraus hervorgeht, Lenin-Liebknecht-Luxemburg genügt offensichtlich, um namensgebend für Gedenkveranstaltungen zu sein.
Obwohl die Positionen beider ihren Ursprung in der Sozialdemokratie hatten, standen sie sich in einigen Aspekten diametral und unwiderruflich unversöhnlich gegenüber.

Ein zentraler Punkt war der Stellenwert bzw. die Funktion der Partei, um die Revolution voranzutreiben.
Der demokratische Sozialismus, für den Luxemburg stritt, konnte ihrer Ansicht nach nur aus der Gesellschaft heraus geboren und mittels Kämpfen der ArbeiterInnen forciert werden. Der Partei schrieb sie eine beratende, unterstützende Rolle zu, entscheiden sollte die betroffene Klasse und zwar u. U. auch entgegen des Parteiwillens handeln.
Paul Levi, der seit 1913 ihr Anwalt war und ihr zudem mehrere Monate als ihr Geliebter sehr nahe stand, schrieb er in seinem Vorwort zur von ihm erstmals veröffentlichten „Russischen Revolution“: „Sie wusste den Kampf als Kampf, den Krieg als Krieg, den Bürgerkrieg als Bürgerkrieg zu führen. Aber sie konnte sich den Bürgerkrieg nur vorstellen als freies Spiel der Kräfte, in dem selbst die Bourgeoisie nicht durch Polizeimaßnahmen in die Kellerlöcher verbannt wird, weil nur im offenen Kampf der Massen diese wachsen, sie die Größe und Schwere ihres Kampfes erkennen konnten. Sie wollte die Vernichtung der Bourgeoisie durch öden Terrorismus, durch das eintönige Geschäft des Henkens ebenso wenig, als der Jäger das Raubzeug in seinem Walde vernichten will. Im Kampf mit diesem soll das Wild stärker und größer werden. Für sie war die Vernichtung der Bourgeoisie, die auch sie wollte, das Ergebnis der sozialen Umschichtung, die die Revolution bedeutet.“ (https://www.rosalux.de/publikation/id/1329/rosa-luxemburg-die-unbekannteste-bekannte-in-deutschland/?fbclid=IwAR0kLPNWKtmWidjcDvBxfeS-LehVDjD5DOqOYBbxc0SOTBOVQdJ7aCblb7c )
Mit Rosa Luxemburg starb nicht nur eine von wenigen Frauen, zudem akademisch gebildet, die in der Weimarer Republik aktiv Politik betrieben, sondern auch eine Frau, deren Utopie keine Terrorpraxis einer totalitären Partei brauchte, keine Gruppe von Tyrannen an der Spitze. Sie brauchte überhaupt keine Spitze. Mit ihr starb eine Frau, die sich für jene einsetzte, die sie ermordet hatten und mit ihr starb eine Frau, um die die heutige SPD die damalige SPD beneiden würde.

[Sophie Rot]

Oury Jalloh – Das war Mord!

Oury Jalloh – ein Name, der ein Fingerzeig ist, ein Fingerzeig auf einen Justizskandal, auf institutionellen Rassismus, auf Bullengewalt und auf die Gleichgültigkeit einer breiten Masse der Bevölkerung, die weiß, dass der/die Mörder noch heute in ihrer Mitte ist/sind. Jalloh lebte damals seit 4 Jahren als geduldeter Asylsuchender in Deutschland.

7. Januar 2005, Deussauer Polizeigewahrsam, Zelle 5, rechtswidrig dort festgehalten
Da wurde Oury Jalloh ermordet, fixiert auf einer schwer entflammbaren Matratze. Noch bevor die Tatortarbeiten begannen, gaben Beamten vorschnell ihre Thesen zum Besten, Jalloh habe sich selbst angezündet. Wenn einem der Arsch auf Grundeis geht… Ein Feuerzeug am Tatort war nämlich nicht zu finden.

Im Laufe der polizeilichen Untersuchungen wurden dann erstmal schön die „Beweise“ zurechtgelegt, so z. B. Feuerzeugrest, die dann drei Tage später angeblich doch noch in der Zelle gefunden worden seien, aber aus unerfindlichen Gründen erst 2012 untersucht wurden und weder Spuren von Jallohs Kleidung, Matratze oder DNA aufwiesen.
Die nächsten Jahre waren durchzogen von verschwundenen und manipulierten Beweismitteln, widersprüchlichen ZeugInnenaussagen und einer Vertuschung in Zusammenarbeit von Bullerei und Justiz.
2014 rollte die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau den Fall neu auf. Die Todesursache sollte nun endgültig geklärt werden. Ein neues Gutachten musste her. Dieses kam zu dem Schluss, dass die Beteiligung Dritter, sprich eine Fremdeinwirkung in irgendeiner Form, als wahrscheinlich betrachtet werden muss. Auf Basis dieses Gutachtend ließ die Staatsanwaltschaft den Brand simulieren, um einen möglichen Tathergang sowie zeitliche Abläufe zu rekonstruieren.
Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg entzog der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau 2017 den Fall und gab ihn weiter nach Halle. Das zuvor erstellte Gutachten ist nie veröffentlicht worden. Noch im Oktober 2017 wurde das Verfahren von Halle dann fügsam eingestellt.
Als einen Monat später durch das Magazin Monitor Infos der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau veröffentlicht wurde, war nachdrücklich klar: Oury Jalloh starb mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Fremdeinwirkung. Dies zeigten mehrere Gutachten zu Brandschutz, körperlicher Verfassung und der chemischen Reaktionen von Stoffen am Tatort. Es war nicht mehr von der Hand zu weisen, dass Jalloh vor dem Feuer schwer misshandelt wurde und mindestens handlungsunfähig wenn nicht schon tot war, so sah es auch der leitende Staatsanwalt aus Dessau-Roßlau. Er nannte sogar mögliche Verdächtige der Dessauer Bullen.

So grotesk es für Außenstehende klingen mag, es gelang der zuständigen Staatsanwaltschaft in Halle, die Einstellung des Verfahrens beizubehalten. Kein Wunder, wusste sie doch die Politik hinter sich.
Ein Untersuchungsausschuss, den Die Linke initiieren wollte, wurde vom Landtag Sachsen-Anhalt entweder abgelehnt (AfD) oder die Fraktionen enthielten sich (CDU/SPD/Grüne).
Ein Klageerzwingungsverfahren der Angehörigen von Oury Jalloh wurde 2019 gegen die mutmaßlich an dem Mord beteiligten Bullen vom Oberlandesgericht Naumburg ebenfalls abgelehnt.
All dies zu vergessen, gar zu verleugnen, wäre eine Beleidigung seines Andenkens.

Das ist unser Rechtsstaat. Ein Bullenstaat, der durch und durch rassistisch ist. Der Angehörige von Mordopfern verhöhnt. Der die Staatsbüttel schützt. Der ihnen einen Freischein gibt für jedwedes Unrecht bis hin zu Mord. Ein Vertuschungsapparat, an dem das Blut Unschuldiger klebt.

Oury Jallohs Fall zeigt auf besonders grausame und perfide Weise, dass Recht und Gerechtigkeit nicht dasselbe sind.

Oury Jalloh ist kein Einzelfall. Mehr als ein Dutzend Menschen kamen auf mysteriöse Weise im Polizeigewahrsam ums Leben. Auch bei ihnen gab es keine Aufklärung, keine Gerechtigkeit. Zwei starben im selben Dessauer Polizeirevier. Die Polizei vertuscht im großen Stil und der Staat zeigt keinen Aufklärungswillen. Es sind halt Menschen, die sie nicht interessieren. Geflüchtete, Obdachlose, Migranten, etc. Aber wir vergessen eure Schweinereien nicht und werden euch zur Rechenschaft zwingen.

Oury Jalloh – Das war Mord!

[Sophie Rot]

Koalition in Österreich – Grün und türkis ergibt braun

Grün und türkis ergibt braun

Bei der Wahl im September erhielten die österreichischen Grünen mit 13,9% realistische Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartnerin mit der ÖVP, die wiederum ein Ergebnis von 37,46% einfuhr.

Aber wie nun diese Rolle ausfüllen, ohne die eigenen Grundsätze zu verraten? Gar nicht! Das wissen wir spätestens, seitdem Donnerstag die Ziele im neuen Koalitionsvertrag bekannt gegeben worden sind. Für den Bald-Kanzler Sebastian Kurz, „Das Beste aus beiden Welten“. Dementsprechend fasste er den Kern der neuen Legislatur mit folgendem Satz zusammen: „Es ist möglich, das Klima und die Grenzen zu schützen.“

Ja, was soll man davon halten?
Jemand, der mit der FPÖ koaliert hat, hat sich längst als menschenfeindlich und ohne antifaschistischen Minimalstandard geoutet.
Von jemandem, der sich bei Viktor Orban anbiedert und gegen EU-Kommissionspräsident Juncker stellt, um sich für den Verbleib von Fidesz in der Europäischen Volkspartei auszusprechen, ist eben nicht mehr zu erwarten.
Jemandem, der die private Seenotrettung für die Toten im Mittelmeer verantwortlich macht, kann man nur bewusste Täuschung geballte Inkompetenz attestieren.

Den Großteil der Ministerien hat sich die ÖVP gesichert: zehn an der Zahl und zwar wichtige Schlüsselpositionen. Dazu gehören u. a. das Innen- und Außenministerium, Arbeits-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Integrationsministerium. Das sind alle Ministerien, die irgendwie den Bereich Asyl und Migration tangieren – mit Ausnahme des Justizministeriums. Dies haben die Grünen bekommen, zusätzlich noch Umwelt und Gesundheit.

Die Punkte zu Klima- und Umweltpolitik bilden den grünen Juwel des Programms, der womöglich Vieles von dem Desaster kompensieren soll, was im Koalitionsvertrag zu Asyl und Einwanderung festgehalten ist. Zu den Zielen gehört es u. a. Österreich bis 2040 „klimaneutral“ zu machen, immerhin zehn Jahre früher als es Deutschland und die EU versprochen haben, aber immer noch viel zu spät (Eine Studie der EU stellte 2030 als das Schlüsseljahr für die Menschheit heraus: „Sollten Temperaturen über 2030 hinaus weiter ansteigen, werden wir mit häufiger vorkommenden Dürren und Überschwemmungen konfrontiert sein, mit extremerer Hitze und der Armut von 100 Millionen Menschen.“ https://espas.secure.europarl.europa.eu/…/ESPAS_Report2019.… )
Bis 2035 soll es keine Öl- und Kohleheizungen mehr geben und die Energiewende vollständig umgesetzt sein. Der Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes ist geplant und Flüge sollen teurer werden. Auf die CO2-Steuer haben die Grünen gleich ganz verzichtet. Bei all diesen Punkten muss berücksichtigt werden, dass es sich dabei um Ankündigungen in einem Bereich handelt, bei dem gerade die großen Industrienationen ihre selbstgesteckten der Reihe nach verfehlen – und die im Detail auch nicht unbedingt das versprechen, was wir uns darunter vorstellen. Verkehrstechnisch interessant ist noch das sogenannte 1-2-3-Ticket: Man zahlt damit für entweder ein Bundesland, drei Bundesländer oder ganz Österreich 1, 2 oder 3 Euro am Tag für ein Jahresticket, welche alle öffentlichen Verkehrsmittel abdeckt. Für Wien ändert sich dabei gar nichts, da man dort bereits 365 Euro fürs Jahrenticket zahlt.

Die Einkommensteuer für GeringverdienerInnen soll von 25 auf 20 Prozent abgesenkt werden, auch die weiteren Stufen werden gesenkt. Mehreinnahmen durch Steuern gibt es also nicht, auch nicht durch eine Vermögenssteuer, Unternehmen sollen sogar noch entlastet werden durch eine Senkung der Körperschaftssteuer (womit übrigens unklar bleibt, wie der Ausbau der Öffentlichen eigentlich finanziert werden soll). Im Regierungsprogramm findet sich ebenfalls der Schwarze-Null-Fetisch, den Deutschland von Wolfgang Schäuble nur allzu gut in Erinnerung hat.

Noch in ihrem Wahlprogramm hatten die Grünen unter dem Motto „Solidarität kennt keine Grenzen“ gefordert, sichere und legale Zugänge nach Europa zu schaffen. Das ist natürlich längst hinfällig, der Koalitionsvertrag präsentiert sich bei diesem Themengebiet ganz auf Linie der ÖVP.

Ein Punkt ist beispielsweise der, dass es eine Präventivhaft geben soll, d.h. es besteht die Möglichkeit, Geflüchtete zu inhaftieren allein aufgrund der Annahme, sie könnten eine Straftat begehen. Für ÖsterreicherInnen oder andere EU-Staatsangehörige sollen die sogenannten Rückkehrzentren für Asylsuchende, ein Überbleibsel der ÖVP-FPÖ Politik, bleiben bestehen.
In der ach so „neuen Migrationsstrategie“ haben sich ÖVP und Grüne für eine Erleichterung der Arbeitsmigration entschieden. Wer sich also gut im Wirtschaftssystem nutzbar machen kann, darf kommen, der Rest wird konsequent abgeschoben oder kommt am besten gar nicht erst.
Der Clue beim Thema Migration ist allerdings ein anderer. So hält der Koalitionsvertrag fest, beide Regierungsparteien haben die Möglichkeit, sich außerhalb der Koalition Mehrheiten zu suchen, falls eine Einigung untereinander nicht möglich ist. Heißt im Klartext: Ein Freibrief für Kurz in Sachen Migration mit einer FPÖ-Mehrheit seine Politik durchzusetzen und zwar mit dem Abnicken der Grünen. Hauptsache, die Koalition bleibt bestehen, koste es, was es wolle. So scheint das grüne Credo: Mitregieren um jeden Preis und eine Beruhigungspille fürs Gewissen. Mitstimmen muss man zwar nicht, es als Koalitionspartnerin mittragen und umsetzen aber sehr wohl.

Insgesamt haben die Grünen erhebliche Zugeständnisse machen müssen, wenn man nicht sogar schon von Selbstaufgabe sprechen kann, der ÖVP hingegen tun die Kompromisse wahrscheinlich kaum weh, vor allem vor dem Hintergrund der Stimmung in der Bevölkerung, bei der sich zumindest vordergründig in weiten Teilen ein immer stärkerer Wille abzeichnet, gegen den Klimawandel vorzugehen. Die Grenzen des Sag- und Umsetzbaren hat die ÖVP in Zusammenarbeit mit der FPÖ erweitert, vieles davon wird mitgenommen in die neue Koalition und damit mit dem Einverständnis der Grünen fortgesetzt, die damit aktiv den gesellschaftlichen Rechtsruck vorantreibt.
Mit „Wir sind gewählt worden, um Verantwortung zu übernehmen“, appellierte der grüne Parteichef und neue Vizekanzler Werner Kogler beim Bundeskongress um die Stimmen der Delegierten. Und obwohl Sebastian Kurz in der Vergangenheit deutlich gezeigt hat, für welche Politik er steht, hat eine verantwortungslose Mehrheit der Grünen von 93,18% für ein Bündnis mit der ÖVP gestimmt. Die Vorstellung, diese ÖVP sei formbar und habe nur noch nicht die richtigen Argumente gehört, ist opportunistisch, fahrlässig und naiv. Ernsthaft anzunehmen, sich gegen die ÖVP behaupten zu können, zeugt von einer ungemeinen Selbstüberschätzung.
Da haben wohl nicht wenige die Koksvorräte von Strache angezapft.

Abseits der konkreten Regierungsbildung hat diese Koalition durchaus einen Modell- bzw. Laborcharakter, der die internationale Politik der nächsten Jahrzehnte beeinflussen könnte. Aktuell hat sich die Rechte auf ein Anzweifeln des Ausmaßes bis hin zur vollständigen Leugnung des menschenverursachten Klimawandels festgelegt. Insbesondere Rechtsradikale weisen jegliche Änderungen durch mneschlichen Einfluss von sich und tun teilweise so, als ob das Klima sich gar nicht ändern würde. Die zunehmenden Extremwetterbedingungen werden diese Taktik des Leugnens zusehends mit den harten Realitäten konfrontieren. Man schaue nur mal nach Australien, solche Katastrophen werden sich häufen. Dementsprechend muss sich auch die Taktik der Rechten ändern, sie müssen sich den Klimaänderungen stellen und diese in ihre Programme einarbeiten.

Der Satz, man könne sowohl das Klima als auch die Grenzen schützen, ist dabei möglicherweise die Leitlinie, mit der sich das bewerkstelligen ließe. Interessant wird es sein, wie nicht nur das konservative Lager, sondern vor allem die Rechtsradikalen darauf reagieren werden. Alte Parolen der Marke „Umweltschutz ist Heimatschutz“ warten zusammen mit den rechtsradikalen Ursprüngen der Ökobewegungen darauf, für das 21. Jahrhundert aufpoliert zu werden. Und da man eh harsche Maßnahmen umsetzen muss, um dem Klimawandel zu begegnene, kann man ja gleich noch ein paar mehr radikale Maßnahmen autoritärer Natur gegen Unliebsame und Fremde durchführen. Wenn man schon mal dabei ist…

[Sophie Rot]

#akkvorschlaghammer und der Versuch die ZPS-Säule abzubauen

Heute wurde in Berlin versucht, die Säule des Zentrums für politische Schönheit, kurz ZPS, zu entfernen. Das ZPS hatte mit einer Aktion Opfer des Holocaust instrumentalisiert, Opfer- und Angehörigenverbände ignoriert und sich wahrheitswidrig als große Aufdecker inszeniert, im Endeffekt aber vorrangig sich selber in Szene gesetzt. Dazu haben wir uns bereits geäußert und zusätzlich eine allgemeine Kritik am ZPS aus antifaschistischer Sicht formuliert, da auch reale Antifaarbeit vom ZPS auf ähnliche Weise instrumentalisiert wird. Man setzt sich gerne selbst in Szene und verkauft Dinge als Eigenleistung, die unzählige Aktivist*innen unentgeltlich erbringen. Nachzulesen ist die Kritik hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/12/04/causa-zentrum-fuer-politische-schoenheit/ 
 
Heute sollte mit der Aktion #akkvorschlaghammer die Säule entfernt werden. Dazu sollte die Säule abgeflext werden, was kurz vor Gelingen durch das Eintreffen der Polizei verhindert wurde. Es wurden Personalien einiger Anwesender festgestellt und laut Aussage der Polizei wurde Anzeige wegen Sachbeschädigung gestellt. In einer Pressemitteilung wird die Intention des ZPS unterstützt, insbesondere die CDU/CSU vor einer Zusammenarbeit mit der AfD zu warnen. Jedoch ist man über die „Ignoranz gegenüber lebenden Jüdinnen und Juden“ bei der „Planung und Durchführung“ entsetzt und kritisiert die Art, wie die Shoa „triviliasiert“ wird. Nachzulesen ist die Mitteilung hier: https://twitter.com/democ_de/status/1213804310091436033/photo/2
 
Interessant ist, dass die Säule nach Aufforderung vom Bezirksamt bereits vor zwei Wochen hätte geräumt werden sollen, was vom ZPS ignoriert wurde.  Philipp Ruch, Kopf des ZPS, war während der Aktion kurz am Telefon zu vernehmen, beendete das Gespräch jedoch mit Verweis auf private Verpflichtungen. Denn die Frage des Besitzes der Säule wirft eine für ihn privat- wie steuerrechtlich interessante Frage auf: Wem gehört die Säule und wer ist dafür verantwortlich? Für Kosten der Aktionen kommt ein Verein auf, mit dem Ruch offiziell nichts zu tun hat. Enno Lenze schreibt in einer Recherche dazu:
 
„Spendet man über die Homepage, in deren Impressum Ruch privat steht, so geht die Spende gar nicht an ihn. Die hinterlegte Emailadresse ist mit einem Paypalkonto verbunden, welches einem gemeinnützigen Verein gehört. Dieser soll auch die Spendenbescheinigung ausstellen, die bei entsprechenden Versuchen aber nie ankamen. Der Verein hat Angestellte, Ruch ist nicht im Vorstand. Sonst ist wenig bekannt. Ruch gehört eine Kapitalgesellschaft in Birmingham, deren Zweck unter anderem die Vermarktung von Kunstwerken ist. Das Geschäft scheint gut zu laufen, wie man den Geschäftsberichten entnehmen kann. Hier sind „net current assets“ von rund 40.000€ verzeichnet.“ Quelle: https://ennolenze.de/zps-alleinnuetzige-gesellschaft-ohne-haftung/4324/ 
 
Sollte Ruch jetzt tatsächlich Anzeige gestellt haben, wären vermutlich auch seine geschäftlichen Verwicklungen zu klären – oder Verantwortliche des gemeinnützigen Vereins, mit dem Ruch angeblich nichts zu tun hat, an den aber die Spenden gehen, für die er auf der Seite des ZPS einsteht.  
 
Jenseits aller rechtlichen Fragen bleibt weiterhin der Umstand, dass das ZPS sehr oft ohne Einbindung von seit Langem in den Bereichen tätigen Personen und Organisationen Aktionen aufzieht und mit der Säulenaktion ganz unmittelbar jüdische Verbände übergangen hat, um die Shoa für die eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Die öffentliche Kritik war dieses Mal so groß, dass man dazu auch eine Entschuldigung abgegeben hat. 
Ebenso ist wieder zu bemerken, dass Kritik am ZPS von Vielen als Sakrileg angesehen wird. Solange man nur für die richtige Sache wäre, ist alles in Ordnung. Inflationär wird mit dem Vorwurf des Spaltens agiert. In der Masse ist aber vor allem festzustellen, dass man so inhaltliche Kritik vollständig abblocken will und sich gar nicht erst mit dieser befassen möchte. Denn es ist egal, was man beim ZPS kritisiert und es ist egal, um welche Aktion es sich konkret handelt, es kommen immer die Vorwürfe des Spaltens.
 
Dabei geht es gerade in Deutschland bei Schuldaufarbeitung und dem Ziehen der Konsequenzen daraus nicht darum, dass sich möglichst viele damit wohl fühlen. Es geht darum, konsequent gegen den deutschen Sozialcharakter vorzugehen, der seinerzeit das Naziregime mit Massenunterstützung ermöglicht hat und sich dann nach Ende des Krieges in diversen Formen der Schuldabwehr betätigte. Nur irgendwie gegen Rechte zu sein ist da nicht ausreichend. Es gehört vor allem dazu, sich selbst in den eigenen Ansichten zu Fragen von Schuld und Verantwortung radikal in Frage zu stellen und kritisch unter die Lupe zu nehmen.
 
Antifaschismus ist keine narzisstische Selbstinszenierung, es ist kein Geschäft zur Vermarktung, es ist kein Übergehen der Opferverbände, es ist auch keine Selbstvergewisserung auf der richtigen Seite zu stehen, damit das eigene Gewissen beruhigt ist. Es ist auch kein Loben von Aktionen, die andere stellvertretend für das eigene Gewissen durchführen, um den Markt des Gewissens zu beruhigen. Antifaschismus ist die Notwendigkeit des Handelns, beruhend auf gesellschaftlichen Zuständen, Ansichten und Vorgängen, die es zu überwinden gilt. Nicht alles davon muss unmittelbar faschistisch sein, die Schuldverdrängung und der entsprechende Abwehrkomplex zum Beispiel sind hier als Beispiel zu nennen. Vieles davon ist in einem sekundärfaschistischem Feld angesiedelt, also im Umgang und mit der Rezeption von Faschismus und Faschist*innen. Dabei muss man sich selbst als in dieser Gesellschaft und mit ihrem Umgang sozialisierte Person selbst in Frage stellen. Auch wenn es dem eigenen Gewissen nicht immer zu mehr Gemütsruhe verhilft und man sich selbst unangenehmer Selbsterkenntnis stellen muss, vielleicht nicht ganz dem Selbstbild entsprochen zu haben – oder das Selbstbild als mangelhaft zu erkennen.

Interview mit dem Kollektiv „IfS dichtmachen“

Was war der Anlass für die Gründung eures Kollektivs?
 
Zum Anlass der „Sommerakademie“ 2016 des sogenannten „Instituts für Staatspolitik“ in Schnellroda haben sich Aktivist*innen aus dem Saalkreis und aus Halle getroffen, um den ersten Gegenprotest zu planen und durchzuführen. Nach den ersten paar Demonstrationen erschien es uns dann sinnvoll, dem Ganzen auch einen Rahmen zu geben, also eine Gruppe zu gründen, in der weitere Leute aus der Region aktiv werden können.
 
Das IfS wurde im Jahr 2000 gegründet, Antaios und Sezession folgten 2002 und 2003. In welcher Form gab es in der Zwischenzeit Proteste und Aufklärung über Schnellroda in der Region?
 
Wir demonstrieren, wie gesagt, seit September 2016 zu jeder größeren Veranstaltung des „IfS“ bzw. des Verlags Antaios (insbesondere zu den „Winter- und Sommerakademien“). Davor gab es keine organisierten Proteste. Allerdings wissen wir, dass die Anwesenheit der Kubitscheks und ihre politische Tätigkeit seit den ersten größeren Medienberichten zur „Neuen Rechten“ dort schon kritisch diskutiert wurde und auch auf Ablehnung stieß. Es gab also auch vor unserem Engagement Konfliktpunkte bzgl. der faschistischen Agitation im Ort.
 
Welche Relevanz für die radikale Rechte hat Kubitschek mit seinen Plattformen?
 
Kubitschek ist mit seiner Verlagsgruppe (Ellen Schenke, Benedikt Kaiser) ein Stichwortgeber und ein Anheizer. Er ist zwar weit davon entfernt, der große „intellektuelle Strippenzieher“ hinter der AfD zu sein, als der er sich gerne ausgibt oder von diversen Jouralist*innen ausgegeben wird, aber wenn er eine Parole ausgibt, dann wird diese von den „Identitären“, von „Ein Prozent für unser Land“ und auch von manchen AfD-Hetzer*innen aufgenommen und mit voller Überzeugung als neuste brillante Erkenntnis aus Schnellroda vertreten. Auch wenn man das nicht überschätzen darf, stiften Kubitscheks Plattformen also eine gewisse Einheit in Teilen der extremen Rechten, bringen die Vernetzung der Menschenfeind*innen voran und sorgen für den akademischen Anstrich, der aus der Perspektive vieler Medien aus Nazi-Kameradschaftern plötzlich „identitäre Hipster“ macht – auch wenn der Schein da inzwischen endlich gebrochen scheint. Auch wenn die Bedeutung Kubitscheks etwa für die AfD, wie bereits erwähnt, nicht so bedeutend ist wie Kubitschek dies gerne verlautbart, ist darauf hinzuweisen, dass er es war, der einen Tag nach Höckes „Dresdner Rede“ in der Sezession die Verteidigungslinie vorgab. 
 
Was sind die wichtigsten regionalen und überregionalen Vernetzungen von Schnellroda?
 
Also regional möchten wir vor allem darauf hinweisen, dass sich das „IfS“ offensichtlich hervorragend mit der klassischen Neo-Nazi-Szene in Sachsen-Anhalt versteht. Es wurden mehrmals Nazis aus dem weiteren Umland beobachtet, die „das Schäfchen“ (den Veranstaltungsort der „Akademien“) während unserer Demonstrationen auf Befehl von Kubitschek „schützen“ sollten – d.h. davor standen und gepöbelt haben. Bundesweit spielt für die Schnellroda-Gruppe die AfD die größte Rolle: Während man sich früher immer als außerparlamentarisch präsentiert hat, ist man heute absolut auf AfD-Kurs und prügelt sich mit anderen Rechtsextremen um die parlamentarischen Fleischtöpfe. Deshalb waren 2019 auch gleich Alexander Gauland und Alice Weidel als „Stargäste“ auf den „Akademien“, während ansonsten eigentlich nur das Stammpersonal heranzitiert wurde. Über Deutschland hinaus fügt sich das „IfS“ in ein Netzwerk der europäischen extremen Rechten ein, wobei man von einem osteuropäischen Schwerpunkt ausgehen kann, da bereits Faschisten aus Ungarn, Serbien und Kroatien anwesend waren und Kubitschek dort auch schon auf Tour war.
 
Welche unmittelbaren Auswirkungen bzw. welche Wirkmacht auf die nähere Umgebung sind aus eurer Sicht feststellbar seit sich Schnellroda zu einer auch bundesweit relevanten rechtsradikalen Plattform entwickelt hat?
 
Als unmittelbarste Auswirkung ist sicher das sog. „Haus der Identitären Bewegung in Halle“ zu verstehen, dessen gewählter Standort ja unter anderem auf die Nähe zu Schnellroda zurückzuführen ist. Ansonsten lässt sich der Einfluss eher punktuell fassen, etwa wenn bestimmte Kreistagsabgeordnete Kontakte zu Kubitschek pflegen oder die Vermittlung von „Identitären“ oder dem „IfS“ nahestehenden Faschisten als Mitarbeiter von Landtags- oder Bundestagsabgeordneten.
 
In welcher Form seid ihr aktiv, wie klärt ihr auf?
 
Wir bringen jährliche Reader raus, in denen wir die Redebeiträge unserer Demonstrationen und unsere Recherchebeiträge sammeln und dazu ein kleines Fazit verfassen, um über unsere Arbeit zu informieren. Darüber hinaus schreiben wir auch Blogeinträge zu aktuellen Themen rund um die „Neue Rechte“ und bringen demnächst einen Schnellroda-spezifischen Newsletter heraus, der auch an die Anwohner*innen des Dorfes gehen soll. Prinzipiell versuchen wir, unsere Demonstrationen immer mit der Information an die Bevölkerung zu verbinden und starten dementsprechend auch immer mit einem Infostand vor der Demo. Darüber hinaus versuchen wir, uns auch kritisch mit der Ideologie der „Neuen Rechten“ und speziell des „IfS“ auseinandersetzen und bieten Vorträge zu dem Themenbereich an.
 
Merkt ihr, ob und wenn ja in welcher Form sich der Protest in Schnellroda gegen die Akademien auswirkt?
 
Immer wieder konnten die Akademien durch unseren Protest nicht in der geplanten Form stattfinden, da die Rechten sich nicht selten von unserer reinen Anwesenheit haben ablenken lassen. Wir können darüber hinaus bei Kubitschek und seinen Anhänger*innen eine gewisse Resignation beobachten: Während man 2016 noch auf „Defend Schnellroda“ machte, versucht man nun sehr aggressiv so zu tun, als wären wir gar nicht da. Trotzdem verwenden die „Sezession“ und andere Schmierblätter aber immer noch Artikel auf uns, in denen erklärt wird, wie egal wir Kubitschek sind. Wir glauben, dass unsere Demonstrationen dementsprechend dazu beitragen, die Attraktivität der „Akademien“ zu schmälern und dass die Rechten sich inzwischen überlegen müssen, wen sie da einladen und wen nicht.
 
Gab es bereits Bedrohungssituationen und/oder Auseinandersetzungen zwischen euch und AkteurInnen des Schnellroda-Netzwerks?
 
Es gibt immer wieder „aufklärende“ Artikel und Tweets aus dem Umfeld von Schnellroda, die unseren „Linksextremismus“ oder unsere Unterstützung durch diese oder jene vermeintlich super-wichtige Institution „aufdecken“ sollen. Was da dann berichtet wird, ist zwar immer öffentlich einsehbar, aber mit welcher Selbstüberschätzung so getan wird, als hätten die Faschos eine ernsthafte Recherche vorgelegt, ist ganz amüsant. Trotzdem birgt das natürlich auch eine Bedrohungssituation: Die in solchen Berichten namentlich genannten Mitstreiter*innen sollen dem rechtsextremen Mob vorgeworfen werden und auch wenn es oft nicht funktioniert, wissen wir ja inzwischen leider alle, zu was ein digitaler Shitstorm werden kann. Darüber hinaus gab es auf den vergangenen Demonstrationen von uns immer wieder Pöbeleien durch die Faschist*innen. Sie fanden oftmals ihr Akademieprogramm so langweilig, dass sie lieber Stress an unseren Infoständen gemacht und sich sonstwie daneben benommen haben. Insbesondere die „Identitären“ bauen unheimlich gerne Drohkulissen auf und kokettieren mit ihren Gewalttaten, die sie öffentlich dann wieder leugnen.
 
Die IB in Halle hat kürzlich die Aufgabe des Hauses in der Adam-Kuckhoff-Straße 16 bekannt gegeben (wie ernst das real genommen werden muss, wird sich zeigen). Generell sind bei der IB fortwährend Anzeichen des Zerfalls festzustellen. Damit neigt sich ein Aktions- und Bewegungsexperiment Kubitscheks dem Ende entgegen. Was könnte eurer Ansicht nach darauf folgen oder neu gestartet werden?
 
Es bleibt zunächst zu konstatieren, dass die „IB“ zwar offiziell aus dem Haus ausgezogen ist, jedoch weiterhin Kader im Haus wohnen. Auch Antaios und EinProzent betreiben dort weiterhin ein Büro. Derzeit scheinen jedoch Ressourcen und Ideen zu fehlen selbstständig zu agieren. Den Auszug der IB würden wir dahingehend interpretieren, dass versucht wird Druck und somit auch Aufmerksamkeit vom Haus zu nehmen. Man muss daher aufpassen und weiterhin wachsam bleiben, ob es ihnen gelingt, das Haus effektiv nutzen zu können. Die identitäre Ortsgruppe scheint ja ein Revival der „Kontrakultur Halle“ zu versuchen. Dass das für die Gruppe zum Erfolg führt, darf aus unserer Sicht jedoch bezweifelt werden.
 
Anfang Oktober 2019 gab es das versuchte Massaker in der Synagoge in Halle, bei dem ein Rechtsradikaler zwei Menschen erschoss. Als Motivation nannte er typische Elemente rechtsradikaler Ideologien wie z. B. eine sogenannte Umvolkung oder jüdische Weltverschwörung, Feminismus als Zerstörer der Nation/des Volkes: Finden sich diese Inhalte und wenn ja in welchem Umfang auch in den Veröffentlichungen aus Schnellroda wieder? 
 
Der Verlag Antaios fällt seit Jahren dadurch auf, dass er Bücher verlegt, auf die sich Rechtsterroristen aktiv beziehen. Im Verlagsprogramm findet sich das Standardwerk zum „Großen Austausch“ von Renaud Camus, Texte des Bloggers „Fjordman“, an dem sich Anders Behring Breivik orientiert hat und auch das Buch, welches beim Komplizen des Lübcke-Mörders gefunden wurde – in einer Hasstirade gegen Walter Lübcke wurde dessen Name markiert. Zu diesem Thema gab es auch einen Redebeitrag von uns bei der Demonstration gegen die „Sommerakademie“ 2019 den wir aufgrund der Aktualität noch mal für den Anfang Januar erscheinenden Schnellroda-Newsletter aufgearbeitet haben. Natürlich wäre es falsch, das „IfS“ direkt mit dem Anschlag in Halle in Verbindung zu bringen, was jedoch nicht bedeutet, dass es im Umkehrschluss nichts damit zu tun hat. Neben den Bezügen zur publizierten Literatur des „Antaios-Verlages“ bleibt festzuhalten, dass an der „Sommerakademie“ 2019 Kader der „Reconquista Germanica“ teilnahmen, die sich in ihrem „meme-war“ auf dieselben Imageboards wie der spätere Attentäter bezogen.
 
Wie kann man euch vor Ort oder von außerhalb am besten unterstützen?
 
Wir freuen uns in erster Linie über Teilnehmer*innen auf unserer Demo am 11.01. in Schnellroda (oder den nächsten Demonstrationen). Ansonsten finden wir es auch wichtig, dass unsere Inhalte weiter verbreitet werden und dass Menschen das Problem in Schnellroda auf dem Schirm haben. Dazu bieten wir auch Vorträge an.
 
Von wo kann man eure Materialien und Rechercheergebnisse beziehen?
 
Unsere Broschüren erscheinen kostenfrei als PDF auf unserem Blog. Dort stellen wir auch zeitnah Redebeiträge und Analysen online. Ansonsten folgt uns am besten auf Facebook und Twitter. Auf Anfrage verschicken wir auch unser Infomaterial.
 
Welche anderen Anlaufstellen bzw. Materialien zu dem Kubitschek-Komplex könnt ihr empfehlen? 
 
Grundsätzlich möchten wir auf die Rechercheergebnisse von „Sachsen-Anhalt rechtsaußen“ verweisen, in denen viele Informationen zu den Akteur*innen des „IfS“ und der Verstrickung in andere Milieus dokumentiert sind. Allgemein zur „Neuen Rechten“ finden wir die Bücher von Volker Weiß sowie die verschiedenen Publikationen zur Identitären Bewegung empfehlenswert. Das „IfS“ selber scheint ein wenig ein blinder Fleck in einer kritischen Publizistik zu sein, die genannten Empfehlungen reißen das „IfS“ immer nur am Rande an. Wir hoffen daher auch, mit unseren Broschüren und Analysen zu weitgehender kritischer Auseinandersetzung mit der Ideologie und dem Wirken des „IfS“ anzuregen und eine Grundlage dafür bereitzustellen.
 
Welche rechtsradikalen Aktivitäten abseits von Schnellroda und der IB gibt es in Halle und der Region?
 
Es gibt im Saalekreis und in Halle über die sogenannte „Neue Rechte“ hinaus einige klassische Neo-Nazis, rechtsextreme Hooligans und andere gewaltbereite Faschist*innen. Am bekanntesten sind dabei wahrscheinlich die Aufmärsche des Hetzers Sven Liebich, die er regelmäßig in Halle stattfinden lässt. Zwar ist sein Publikum seit Jahren sehr klein, aber er verbreitet beständig faschistische Propaganda, stört Veranstaltungen und stachelt sein Gefolge zur Gewalt an, während Polizei und Justiz scheinbar keinen allzu großen Handlungsbedarf sehen. In der Region kam es vor allem zwischen 2015 und 2017 zu größeren Neonazi-Demos in Querfurt, Bad Lauchstädt, Merseburg, Eisleben und weiteren Orten. Die Oraganisator*innen haben sich jetzt aber anderen Betätigungsfeldern zugewandt wie Kampfsport und Rechtsrock.
 
In welcher Form werdet ihr von Stadt/Land und Zivilgesellschaft unterstützt oder behindert? 
 
Wir haben einige zivilgesellschaftliche Unterstützer*innen aus Halle und der Region, die unsere Veranstaltungen entweder begleiten, bewerben oder materiell supporten. Immer wenn wir aktiv auf Organisationen zugekommen sind, haben wir positives Feedback bekommen. Allerdings würden wir uns natürlich auch wünschen, dass noch mehr antifaschistische, zivilgesellschaftliche Gruppen von sich aus in Schnellroda oder der Umgebung aktiv werden. Von offizieller Seite sieht es da aber deutlich schlechter aus: Ohne jedes Argument stellt der Verfassungsschutz des Landes Sachsen-Anhalt Mutmaßungen in seinem Bericht darüber an, ob wir „extremistisch beeinflusst“ wären. Und die Zusammenarbeit mit den zuständigen Stellen im Saalekreis ist auch eher schwierig. Aber das sind wahrscheinlich Sachen, die inzwischen fast jede antifaschistische Gruppe treffen.

Rückblick, Ausblick und das Interview aus „Extrem unbrauchbar“

Werter Freundeskreis des Hufeisens, das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Seit etwa eineinhalb Jahren sind wir jetzt aktiv und gehen den diversen Hufeisenwürfen und Ausprägungen des Schmiedehandwerks nach. Nicht alles ist ein Treffer (Entschuldigung dafür an dieser Stelle) und es wird auch nicht immer nur dem klassischen Hufeisen von rinks und lechts dokumentarisch Raum gegeben. Ideengeschichtlich und politiktheoretisch ist das Hufeisen ein recht begrenztes Feld, auch wenn sich insbesondere Rechte jede Mühe geben, es spannend zu halten.

Die Seite ist als Nebenprodukt entstanden und wird nicht immer mit der Sorgfalt betrieben, die das Thema verdient hat. Das hat sich in den letzten Monaten etwas geändert. Grund dafür ist insbesondere das Buch „Extrem unbrauchbar“ vom Verbrecher Verlag. Dort durfte die Seite in Form eines Interviews einen kleinen Teil beitragen und hat sich doch ganz gut geschlagen neben den anderen Beiträgen. Dankenswerterweise können wir nach Rücksprache mit den Herausgeber*innen das Interview veröffentlichen, welches im Sonner 2019 entstanden ist.

Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Diskurs, denn insbesondere der Aufstieg der AfD hat Fragen rund um Extremismustheorien, Hufeisentheorie und Totalitarismustheorien mit neuer Relevanz versehen. Die Rechtsradikalen rekurieren ausgiebig auf diese drei eng miteinander verbundenen Theoriegebilde und versuchen diese in ihrem Sinne bestmöglich zu instrumentalisieren. Aus rechts wird links, aus Rechtsradikalen werden Antifaschist*innen, aus Antifas werden Nazis, die aktuelle Gesellschaft einem totalitären Meinungsdiktat von links unterzogen, Merkels Regierungszeit zum totalitären Regime und die AfD zur einzigen Partei frei von Antisemitismus.

Die Rechte kämpft aktiv und offensiv um Meinungs- und Deutungshoheit. Dabei bedient sie sich – wenn auch viel plumper und intellektuell ohne jeglichen Anspruch – der gleichen Taktik wie die rechtsradikalen Denker vor 100 Jahren, auf die sich bis heute bezogen wird. An die fraglos vorhandene geistige Größe eines Carl Schmitt, eines Oswald Spengler, eines Moeller van den Brucks, der Stilistik eines Ernst Jüngers oder der rhetorischen Schärfe eines Goebbels kommen die Heerscharen der heutigen Wiedergänger nicht heran. Das liegt auch daran, dass es kaum originäre Theorieproduktion gibt, während das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende der Epoche der klassischen Moderne eine rege ideologische Verarbeitung der Kriegserlebnisse bewirkte. 1914 und die Ereignisse von 1918/19 wirkten als Katalysator für rechtsradikale Theoretiker und ließen – nicht nur aber auch speziell in Deutschland – die Grenzen des semiabsolutistischen wilhelminischen Kaiserreichs als Staatsform wegfallen und schufen den Raum für regen Utopismus von rechts.

So ziemlich alles, was man heute aus den Reihen der AfD und anderer rechter Agitationsplattformen vernimmt, ist nur ein maximal lauwarmer Aufguss der Theorieproduktion der Weimarer Republik. Und so ist auch das Hufeisengewerbe immer noch mit den selben Themen wie dereinst befasst. Wenn Alexander Gauland in Schnellroda referiert, dann ist das nichts weiter als eine Aktualisierung des antisemitischen Ideologems der wurzellosen Kosmopoliten für die Jetztzeit. Leicht ist das nicht, mehr als eine gewissenhafte handwerkliche Fleißarbeit aber auch nicht. Wenn Leute wie Sellner bis Peterson vom Kulturmarxismus reden, dann ist das nur die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung für die Weltordnung nach dem Ende des Bolschewismus.

Denn neben dem Klassiker der Gleichsetzung von links und rechts ist vor allem die Ideologie des Antikommunismus ein immer wiederkehrendes Element. Darunter ist nicht Kritik oder Ablehnung von Kommunismus allgemein oder der realen Verhältnisse sozialistischer Länder und Diktaturen gemeint. Die Ideologie des Antikommunismus lässt sich auf folgenden Satz herunterbreche: „Everything I don’t like is communist.“ Darunter fallen dann auch Sachen wie „linke Meinungsdiktatur“, „rot-grün versifft“, „Klimadiktatur“ und andere Späße, mit denen Rechte eben nicht nur Personen mit kommunistischer Weltanschauung bedenken. Davon ist Thunberg genauso betroffen wie die SPD, die Antifa und der lokale Ableger der FAU.

Dieser Antikommunismus war es auch, der eine reibungslose Integration von Nazis in die BRD ermöglichte. Teile der alten Ideologie durfte man nicht mehr öffentlich kundtun, anderen aber im neuen Gewand öffentlich und offiziell weiter nachgehen. Der Verfassungsschutz gründete sich darauf und damit auch die Extremismustheorie, welche als Arbeitsbegriff des Verfassungsschutzes entstanden ist. Hufeisen und Antikommunismus lassen sich also nicht voneinander trennen, da Hufeisenwerfen ein Teil antikommunistischer Praxis ist.

Die Begriffsumdeutungen und -verfälschungen der Rechten mögen von außen noch so plump und amateurhaft aussehen, sie erreichen aber in der Zielgruppe ihre Wirkung. Und die ist nun einmal nicht die liberale oder radikale Linke, diese ist eine eh dem bürgerlichen oder nationalistischen Konservatismus zugeneigte Gruppe. Dort nimmt man es auch nicht so genau mit politischer Bildung und ist im Gegenteil sogar oftmals dankbar dafür, wenn Dritte ihnen die ideengeschichtliche Nähe und Tradition zu und von rechtsradikaler Ideologie und insbesondere der Nazizeit mit ein wenig Sprachmagie wegdefinieren. Denn Sprachmagie ist es tatsächlich, was Rechte im Hufeisengewerbe betreiben. Völlig entkernt von jeglichem Inhalt wird dort mit Begriffen umhergeschleudert, als wäre gerade Kissenschlacht im Obersalzberg. Die Taktik dabei ist, sämtliche Wörter so unscharf und unpräzise zu verwenden, dass man vor einem Wust an Buchstaben steht, der eine Art Smokescreen für die tatsächlichen Positionen und Forderungen darstellt. Je komplexer und begriffsschwanger rechte Texte daherkommen und Definitionen verwischen und umdeuten, desto sicherer kann man sich sein, dass es hier um das Verschleiern (oftmals genuin) rechter Inhalte geht, damit diese einem „Aber ich bin doch gar nicht rechts!“-Publikum zur Gewissensberuhigung dienen können. Exemplarisch sei hier auf die Bahamas verweisen, in der antisemitische Ideologeme, rechte Verharmlosung sowie Hufeisengewerfe mit Begriffen wie „linksfaschistsche[r] Ideologie“ rechte Inhalte wiederdeutschgewordenen Renegaten von links schmackhaft machen.

Die unübersehbaren Querfrontallüren und das immer weiter um sich greifende Hufeisengewerfe gegen alles, was man irgendwie als links verortet, werden auch in Zukunft weiter an Bedeutung zunehmen. Wie stark sich die parlamentarische Festigung der AfD gesellschaftlich auswirken wird, muss sich zeigen. Das sie mit ihrem Kampf gegen Linke Positionsverschiebungen im bürgerlichen Lager und bei enttäuschten Exlinken verursachen wird, steht dabei außer Zweifel. Man schaue sich nur einmal die Werteunion an.

Linke täten gut daran, sich so weit es möglich ist jeglichem Vokabular von Hufeisen-, Extremismus- und Totalitarismustheorien zu entledigen. Damit reproduziert man nur Theoriegebilde, die gegen Linke gerichtet sind. Ebenso sollte man darauf achten, dass man selber nicht zu sehr mit Begriffen und Definitionen rumsaut und möglichst präzise damit arbeitet. Die stärkste Waffe gegen Hufeisen und Extremismustheorie ist noch immer eine fundierte Kenntnis ihrer Hintergründe, ihrer Fehler und ihrer Verfälschungen. In letzter Konsequenz wäre dazu sogar der Verzicht auf die Wörter links und rechts notwendig, was angesichts der tiefen Verwurzelung im Diskurs aber weder möglich noch praktisch ist.

Interview aus „Extrem unbrauchbar“

 

Liebes goldene Hufeisen, sind die Gegner der Hufeisentheorie nicht mindestens genauso schlimm wie ihre Anhänger?

Auf jeden Fall! Wer sich mit der Hufeisentheorie beschäftigt, hinterfragt eine der populärsten Grundannahmen vieler Medienberichte und Menschen. Nichts ist gefährlicher, als als unumstößlich angenommenem Halbwissen mit Argumenten zu begegnen und möglicherweise einen Nachdenkprozess in Gang zusetzen.

Warum ist eure Arbeit so wichtig? Warum gerade jetzt?

Um uns als Seite geht es gar nicht. Generell ist das Aufklären über die Hufeisentheorie und den ideentechnisch eng verwandten Extremismus- und Totalitarismustheorien wichtig. Dazu können wir hoffentlich einen kleinen Teil beitragen. Wie bereits in der ersten Antwort angedeutet, führt eine Aufklärung unweigerlich dazu, das (auch im geometrischen Sinne) eindimensionale Denken des simplen Links-Mitte-Rechts-Schemas aufzubrechen, und führt im Idealfall zu einer weniger voreingenommenen Betrachtung politischer Theorien. Die Hufeisentheorie ist eine verfälschende Perspektive auf die politische Ideengeschichte und dient einzig dem Schutz der bürgerlichen bzw. liberalen Mehrheitsgesellschaft. Die gute » Mitte« und die schlechten »Ränder«, der als gut angesehene Ausgleich zwischen Positionen, die angebliche Gewaltfreiheit der »Mitte« und die schlichtweg fehlende Bildung in Bezug auf politische Theorie charakterisieren das klassische Hufeisen- und Extremismusdenken. Eine zeitliche Aktualität erhält das Themengebiet aus Hufeisen, Extremismus und Totalitarismus durch den Aufstieg der radikalen Rechten zu einer bundesweiten, in allen Parlamenten erfolgreichen und sich als Bewegungspartei im faschistischen Sinne versuchenden, AfD. Im Zuge dessen müssen reichlich Hufeisen geworfen werden, man kann ja nicht nur eine Seite angreifen, dadurch würde ja das Hufeisen in eine Schieflage geraten. Zu sehen ist das zum Beispiel am Artikel des notorischen Eckhard Jesse, der auf die in seinen Augen große und unterschätzte Gefahr des Links»extremismus« im Zuge der Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst hinweisen musste. Neben diesem bürgerlich-konservativen Hufeisen wird aber insbesondere von Seiten der AFD versucht, Antifaschismus und generell linkes Gedankengut als faschistisch darzustellen. Hier will man sich gegen die ideologische Nähe der eigenen Positionen zum NS und der klaren historischen Kontinuität in der radikalen Rechten des deutschsprachigen Raumes immunisieren. Diese Begriffsumdeutung ist eine klassische Strategie, wird aber von vielen Menschen nicht ausreichend durchschaut, da die politische Bildung fehlt.

Nach welchen Kriterien vergebt ihr eure Auszeichnung?

Nach Bauchgefiihl. Die Seite ist eigentlich nur als Nebenprojekt entstanden, um die ganzen »die rotlackierte SAntifa«- und »Linksfaschismus«- Kommentare abladen zu können. Daher suchen wir auch nicht speziell nach Hufeisen, wir nehmen das, was so des Weges daherkommt. Neben dem klassischen Hufeisen, die Nazis als links darzustellen nehmen wir auch völlig themenfremde Sachen. Wichtig ist dabei nur, dass man entweder zwei gegensätzliche Sachen als gleich darstellt oder mit einer Aussage das Gegenteil dessen bewirkt, was man bewirken will. Ein gutes Beispiel ist hier ein Schild einer Kirche aus den USA, auf dem sinngemäß stand: »Remember Satan was the first to demand equal rights! « Da denkt man dann instinktiv, dass dieser Satan doch eigentlich ein ganz korrekter Typ gewesen sein muss. Zugegebenermaßen sitzt aber auch nicht jeder einzelne Post zu hundert Prozent.

Wer hat sich seit Beginn eurer Arbeit besonders ums goldene Hufeisen verdient gemacht? Verdient jemand vielleicht sogar mittlerweile ein Platin-Hufeisen?

Schwer zu beantworten. Wer auf jeden Fall eine Sonderstellung einnimmt, ist die Seite »JAFD«, also die Juden in der AfD. Wird nicht oft gefeatured, was schlicht an der unglaublichen Menge an Hufeisen und Geschichtsrevisionismus liegt. Man kann gar nicht so viel posten, wie dort Mist verzapft wird, insbesondere,wenn man sich die Kommentare dort noch anschaut. Erika Steinbach ist mit ihrem legendären Tweet — »Die NAZIS waren eine linke Partei. Vergessen NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEI…« — auch eine Kandidatin fiirsLebenswerk. Ein besonderes Augenmerk sei hier aber auch auf die SPD gerichtet, die im Zuge von Kevin Kiihnerts Sozialismusdebatte unzählige Hufeisen produzierte und offensichtlich nicht mal das eigene Grundsatzprogramm zu kennen scheint. Realpolitisch muss dann auch noch der Verfassungsschutz genannt werden, der mit seiner Extremismustheorie ganz entscheidend für die Akzeptanz von Hufeisen, Extremismusbegriff und Zentrismus verantwortlich ist.

Was machen gegen Hufeisenwerfer, also außer sehr gute Facebook-Gruppen haben?

Es gibt eigentlich nur eine Sache, die gegen Hufeisen und Zentrismus hilft: politische Bildung. Nur wenn man begreiflich macht, dass es sich dabei um bestimmte Betrachtungsweisen handelt,die einen klaren politischen Zweck erfüllen und ihre Grenzen haben, kann man diesem Denken entgegenwirken. Oft geht das ja mit einer Art Pazifismus der sich als gut sehenden Mitte einher, welche meint, dass die bürgerliche Gesellschaft immer gut und richtig ist und außerdem sehr friedlich sei. Dies ist ja auch ganz klar gewollt, klassische Hufeisen sollen den aktuellen Status Quo stützen. Der Kolonialismus mit seinen Verbrechen passt da schon gar nicht mehr rein und die Millionen Todesopfer werden ausgeblendet. Auch dass in den USA über etwa 100 Jahre eine Art Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften und organisierte Arbeiter*innenbewegung geführt wurde, ist nirgends in Erfahrung zu bringen. Man muss diese Schutzbehauptungen der bürgerlichen Staaten angreifen und als Lügen offenlegen.

Auf einer theoretischeren Ebene: Was ist denn eigentlich das Problem mit Hufeisen?

Wie bereits angedeutet handelt es sich dabei um eine stark vereinfachende und verfälschende Betrachtung der politischen Landschaft. Beim klassischen Hufeisen werden ja radikale Linke und radikale Rechte als mehr oder weniger gleich dargestellt. Da sind dann anarchokommunistische Personen, die staatliche Autorität auf ein Minimum reduzieren und falls möglich ganz abschaffen wollen, die keine Diskriminierung nach Ethnie, Herkunft, Geschlecht und so weiter durchgehen lassen, genauso übel wie beinharte Nazis, die den Holocaust vollenden möchten und ganze Volksgruppen versklaven und unterjochen wollen. Aus Sicht der BRD macht das Sinn, weil man staatsfeindliche Ansichten jeder Art in einem Rutsch diskreditiert. Außerdem dominiert man mit dieser Betrachtung ganz einfach die mediale Berichterstattung, da Hufeisen und Extremismus so einfach verstindliche Tools sind, dass man sie nicht groerklaren muss und die meisten Personen sich auch nicht weiter den Kopfdriiber zerbrechen.In der Praxis ist das vor allem für die radikale Linke ein Problem. Emanzipatorische Ansichten und für viele Menschen reale Verbesserungen der Lebensqualität mit sich bringende Maßnahmen stehen dann sofort unter Stalinismusverdacht oder sind so schlimm wie Hitler. Auch hier sei auf die panische Angstmache im Zuge der Enteignungsdebatte aus Berlin und um Kühnert verwiesen. Wenn es dann um Antifaschismus geht, haben wir das Problem der bürgerlichen Querfront. Da man aus »der Mitte«, insbesondere bei der CDU/CSU,alle Arten von als extremistisch gebrandmarktem Denken ablehnt, kann man ja nicht einfach nur mal gegen Nazis sein. Man muss auch immer gegen die ganz bösen Linken sein, die ja auch eigentlich mindestens genauso schlimm wie die Nazis sind. Dadurch wird praktischer Antifaschismus diskreditiert und kriminalisiert, was dann wiederum indirekt Nazis schützt, da Antifaschismus oft auf Ablehnung stößt und daher nur eingeschränkt agieren kann.

Fast geschafft, zwei Drittel des Fragebogens sind ausgefüllt! Wie fühlt ihr euch?

Rinks und lechts sind doch das Gleiche! Alles schlimm, schlimm, schlimm! Ah, wo waren wir noch mal?

Müsste etwas anderes anstelle des Hufeisens treten, und wenn ja, was?

Dem Hufeisen sowie der Extremismustheorie liegt eine Art grafische Veranschaulichung politischer Theorie zugrunde. Man geht davon aus, dass man eine Linie ziehen kann und dann von links nach rechts politische Positionen verortet und damit dann den vollständigen Überblick über alle politischen Theorien hat. Diese Annahme ist grundfalsch, und eine eindimensionale Visualisierung kann niemals eine halbwegs erschöpfende Darstellung sein. Idealerweise müsste man auf Begriffe wie links, rechts und Mitte vollständig verzichten und stattdessen die korrekten Bezeichnungen der zugrundeliegenden politischen Theorien und Ideologien verwenden. Der Vorteil wäre hier, dass man dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede viel feiner ausarbeiten könnte und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen möglich sind. Praktisch scheitert das aber in zwei Dingen. Erstens ist der Aufwand dafür viel zu gro8, man bräuchte dann wirklich ein universitäres Bildungsniveau in Sachen politischer Theorie, um die Feinheiten zu verstehen. Und zweitens sind die Begriffe links, rechts und Mitte so tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt, dass es unmöglich ist, sie dort zu entfernen. Aber es würde tatsächlich helfen, wenn man ein wenig mehr mit politik- und sozialwissenschaftlichen Bezeichnungen arbeiten würde, um einfach neben links, rechts und Mitte andere Bezeichnungen im regelmäßigen Umlauf zu haben.

Was ist eigentlich mit der Mitte kaputt?

Das lässt sich pauschal nicht sagen, da es keine Mitte gibt. Grundsätzlich ist das kaputt, was eine bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Arbeits- und Produktionsorganisation kaputt macht. Deren Prämissen werden ja von der Mehrheit der Gesellschaft geteilt, weshalb Mehrheitsgesellschaft hier ein besserer Begriff ist. Die Mitte sieht dann aber auch wieder von Land zu Land und je nach Jahr anders aus. Positionen der CDU würden in den USA als kommunistisch gebrandmarkt werden, mehrheitsfähige Ansichten zu Homosexualität aus den 5oerJahren, inklusive Strafverfolgung sind heute nicht mehr mehrheitsfähig und so weiter. In Österreich kommt eine rechtsradikale Partei auf über 20 Prozent und nimmt auch vom Ibizavideo relativ wenig Schaden. Dort sind große Teile der Gesellschaft stärker rechts eingestellt als in Deutschland. Was die Mitte tatsächlich kaputt macht,ist das Unvermögen sich ernsthaft mit politischen Konzepten auseinanderzusetzen, Sehr viele Menschen können nicht einmal die Grundzüge der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben, von unterschiedlichen Versionen ganz zu schweigen. Demokratie wird hierzulande ganz oft mit dem parlamentarischen System gleichgesetzt, wahrend Anarchismus als Chaos dasteht — obwohl im Anarchismus eine Demokratisierung aller wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereiche angestrebt wird. Stattdessen wendet sich die gute Mitte im eigenen Saft und fühlt sich moralisch allen anderen überlegen, weil man ja eben die goldene Mitte sei.

Ist das Problem international? Gibt es deutsche Besonderheiten?

Das Problem ist auf jeden Fall international, der Zentrismusbegriff wird in den USA viel starker benutzt als hier. Jedes Land hat dabei unterschiedliche Ausprägungen von Extremismus- und Hufeisenverständnis. Brasiliens rechtsradikaler Präsident Bolsonaro stellt zum Beispiel wahrend des Besuchs der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem die Nazis als Linke dar, obwohl die israelische Regierung rechte Parteien aus Deutschland und Osterreich, namentlich die AfD und die FPÖ, boykottiert. Deutsche Besonderheiten finden sich vor allem in der Betrachtung der eigenen Historie. Da gibt es dann einerseits die klassische Schuldabwehr aus dem rechten Lager, die ungeachtet personeller und ideologischer Kontinuitäten Nazis als links darstellen wollen, um sich selbst trotz ideologischer Nähe möglichst weit weg darzustellen. Auch das Phänomen des Schuldabwehrantisemitismus ist in bestimmten Formen ein deutsches Sonderphänomen. Und dann wäre da noch der ganze Komplex DDR, den man mit sehr viel Hufeisen und verfälschender Darstellung behandelt.

Ihr arbeitet ja in der gefährlichen Welt des Internets, kriegt ihr viel Hate? Und wenn ja, was schreiben die Leute so und wie geht ihr damit um?

Die Facebookseite bekommt tatsächlich sehr wenig Hate ab. Einzige Ausnahme sind Posts mit Israelbezug, da läuft sich dann die antisemitische Internationale warm und bezeichnet Israel als Nazistaat und fabuliert vom Holocaust an den Palästinensern. Inhaltlich ist das alles nicht haltbar, Fakten haben antisemitisches Denken aber noch nie gestört. Genau wegen solcher Dinge machen wir die Sache aber auch, Agitation ist Teil der Arbeit.

Was sind eure Lieblings-Netflix-Shows?

Ob die jetzt auf Netflix laufen oder nicht, keine Ahnung. Favoriten sind » The Handmaid’s Tale«, »Hannibal«, »Battlestar Galactica« und generell eher anspruchsvolle Serien. Die eigenen Ansprüche sind sowohl wegen des politischen Anspruchs als auch wegen eines Interesses an Film und Musik sehr hoch.

Renegaten

Man kennt sie, Überläufer ins oder aus dem gegnerischen Lager. Wir Linken verleihen immer noch die Horst-Mahler-Medaille oder den Jürgen-Elsässer-Preis, wenn es Tendenzen in das rechte Lager zu beobachten gibt. Dabei ist das klassische Überläufertum gar nicht mal der Regelfall. Viel häufiger verschieben sich die weltanschaulichen Rahmen merklich, ohne das es eine Person so benennen möchte. Viel eher verkauft man sich als Renegat*in, um sich als geläuterte Person noch bestens selbst zu vermarkten. Neben den in diesem hervorragenden Artikel aufgezählten Beispielen (vom Titelbild gebenden Fleischauer über Broder bis hin zu Wagenknecht und Palmer) gibt es noch unzählige weitere Beispiele.

Das Umfeld der Bahamas ist ein weiteres Beispiel. Dort macht man sich, ähnlich wie Broder, daran, alle über Jahre geäußerten Vorwürfe im Alter Stück für Stück abzuräumen. Die Liste ist stattlich: Umvolkungsgeraune über Soros, Opfer-Täter-Umkehr bei sexueller Belästigung, offene Verschwörungsmythen zum rechten Mob in Chemnitz, ein Aufruf Antifafahnen zu verbrennen, Klima“zweifel“, Nazi- und Holocaustrelativierungen, Forderungen die Grenzen zu schließen, Gerede von Listen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die länger als die von Nordkreuz (ja der rechten Terrorzelle) seien, ein die Mainstreammeinung bestimmendes Linkskartell inklusive Medien,Schutz und Solidarität für einen nachweislich frauenbelästigenden Mann, Rassifizierung von Muslimen, öffentliche Positionierung gegen Faschooutings und noch ganz viel mehr. Trotzdem sieht man sich noch als progressiv, emanzipatorisch und antifaschistisch.

Die im Text beschriebene Brücken- oder Türöffnerfunktion darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden. Der Schaden eines Thilo Sarrazin konnte nur deshalb so groß sein, weil er als SPD-Mitglied nicht als rechtsradikal wahrgenommen wurde und bei einem der größten Verlage veröffentlichen durfte, während man ihn in sämtliche Sendungen einlud. Der Nimbus des Renegaten, des Tabubrechers und des Klartexters verkaufte sich millionenfach. Und was? Rassebiologische Ansichten, Sozialchauvinismus, Fremdenhass und öffnete die Tür für den heute noch aktuellen rechten Diskurs. Nur eine Person in der Position Sarrazins konnte das schaffen. Ein NPD-Funktionär hätte niemals diese oder überhaupt Aufmerksamkeit bekommen.

Wichtig ist die Funktion dieser Türöffner auch in Bezug auf das Verständnis dessen, was sich als „bürgerliche Mitte“ versteht. Dort sieht man sich ja immer frei von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und so weiter. Die Mitte sei ja gut und frei von Gewalt. Dabei zeigen Personen wie Palmer oder Sarrazin, dass die Mitte in diesem Selbstbildnis nur ein Phatasma ist. Diese Mitte, die sich selbst als bürgerlich sieht, enthält natürlich alle möglichen Formen der Diskriminierungen und täuscht sich nur selber damit, nichts damit zu tun haben. Man spaltet unliebsame Positionen ab, um sich dann weder personell noch inhaltlich mit ihnen beschäftigen zu müssen. Es sind immer die anderen antisemtisch, aber doch nicht Augstein, Todenhöfer oder Kohl! In Deutschland hat man diese Schuldverdrängung nach Ende des Naziregimes zur gesamtgesellschaftlichen Disziplin erhoben und ignoriert historische Tatsachen, so sie einem nicht ins Bild passen.

Die SPD hat mit den Freikorps in Deutschland protofaschistische Paramilitärs eingesetzt und damit sowohl die eigenen Genoss*innen erschießen lassen als auch den Feinden der Weimarer Republik freie Hand und Organsiationsmöglichkeiten gelassen. Die Saat der Freikorps bekam nicht wieder in den Griff. Das bürgerliche Lager ignoriert geflissentlich, dass nur die SPD (die KPD war schon eingeknastet oder wurde verfolgt) gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat. Das gesamte bürgerliche Lager hat dem Faschismus die rechtliche Legitimation gegeben. Konrad Adenauer hat sich 1932 für eine Koalition von Zentrumspartei und NSDAP in Preußen ausgesprochen und einige Monate nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 verlautbaren lassen: „Dem Zentrum weine ich keine Träne nach; es hat versagt, in den vergangenen Jahren nicht rechtzeitig sich mit neuem Geiste erfüllt. M.E. ist unsere einzige Rettung ein Monarch, ein Hohenzoller[,] oder meinetwegen auch Hitler, erst Reichspräsident auf Lebenszeit, dann kommt die folgende Stufe. Dadurch würde die Bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser kommen.“

Beim Aufbau der BRD waren dann Nazis auf allen Ebenen entscheidend beteiligt, wurden in den 50ern vor allem über die Unionsparteien und die FDP fest in die Gesellschaft integriert und übernahmen höchste politische und wirtschaftliche Positionen. Vom Nationalsozialismus wollte man nichts mehr wissen, man einigte sich stillschweigend auf einen Mantel des Schweigens. Nur wenige stellten sich dem entgegen, am bekanntesten dürften heute Beate Klarsfeld und Fritz Bauer sein. Letzterer war Generalstaatsanwalt und ein Film über sein Wirken mit dem Namen „Der Staat gegen Fritz Bauer“ verdeutlicht, wie gut sein kompromissloser Einsatz bei der Verfolgung von NS-Verbrechern ankam. Leute wie Franz Josef Strauß sagten sogar offen, dass sie rechte Terrorgruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann taktisch nutzen könnten und das es sich nur um harmlose Patrioten handele. Die Geschichte der BRD ist eine Geschichte der Selbstverleugnung der Ansichten, die in der „Mitte“ relativ kritikfrei Platz haben. Wer darauf verweist, so wie man es gerade bei der Kritik von Antifaschist*innen an der Aktion des ZPS zum Teil sehen kann, wird als Spalterin oder Nestbeschmutzerin verunglimpft. Es sind halt immer die anderen.

Renegaten übernehmen die Funktion, dass man Identifikationsfiguren hat, die einem vorleben, wie man sich mit rechten Ansichten weiterhin in besten gesellschaftlichen Kreisen bewegen kann und sich nicht um die eigene Position zu kümmern braucht. Man ist abgesichert, selbst wenn man offen rechtes Gedankengut verbreitet.

Causa Zentrum für politische Schönheit

Die aktuelle Aktion macht wieder einmal Schlagzeilen und wird auch von Linken durchaus gut bewertet. Im Gegensatz zu vorherigen Aktionen ist das negative Echo dieses Mal aber deutlicher. Dies verwundert nicht, handelt es sich hier doch (erneut) um eine Instrumentalisierung des Holocausts ohne Einbindung der Opfer, deren Angehöriger und Interessenvertretungen. Ähnliches wurde bereits in abgeschwächter Form mit der Aktion bei Höcke mit den auf dem Nachbargrundstück platzierten Kopien der Stelen vom Holocaustmahnmal. Auch damals waren keine Opferinteressen in die Planung involviert, der Holocaust in Form seiner bundesdeutschen Gedenkpraxis (die man auch in vielen Punkten kritisch sehen muss) ist wieder nur ein Mittel zum Zweck, genutzt nach Belieben von Deutschen. 
 
Hier wird damit kokettiert, Asche von Holocaustopfern in der Nähe des Reichstags platziert zu haben. Dazu hat man angeblich Bodenproben von diversen Stellen entnommen und testen lassen, um Holocaustüberreste nachzuweisen. Richtig ist, dass der Punkt der Weiterverwendung oder Entsorgung der menschlichen Überreste öffentich nicht bekannt ist und nicht verhandelt wurde. Ginge es dem ZPS aber darum, auf diesen Fehlstand hinzuweisen, hätte es beim Zentralrat der Juden, beim Auschwitzkomitee und in Yad Vashem angefragt, wie man zusammen darauf aufmerksam machen kann. Ohne Störung der Totenruhe, ohne über die Opfer hinweg zu entscheiden und ohne die Nachfahren mit so einer Aktion zu brüskieren. Denn beim Holocaust geht es um die Juden als Opfergruppe, die nichts zu entscheiden hatten. Deshalb sollte man ihnen zumindest heute die Möglichkeit der Mitgestaltung einräumen und nicht gegen ihren Sinn agieren. Wenn man es schafft, bei Götz Aly und Lea Rosch zu fragen, dann sollte man es auch schaffen, den Zentralrat der Juden und das Auschwitzkomitee zu fragen. Dabei hat das ZPS sowohl bei den Stelen für Höcke als auch jetzt kläglich versagt. Das hat das ZPS inzwischen auch selber einsehen müssen und sah sich gezwungen, eine Entschuldigung abzugeben.
 
Wiederaufarbeitung darf gerade bei den Verbrechen der Nazizeit nicht GEGEN die Opfer und ihre Angehörigen passieren. Hier haben die Nachfahren der Täter und Täterinnen schön die Füße stillzuhalten und müssen dann auch mal in den sauren Apfel beißen und hinnehmen, wenn ihre Vorstellungen NICHT als maßgeblich betrachtet werden. Für das ZPS mag das dann bedeuten, dass eine Aktion möglicherweise weniger schlagzeilenträchtig ist. Daher stellt sich nun die Frage, worum es dem ZPS im Kern geht. Ist das Aufsehen das Ziel, die Kunst nach eigenem Willen umzusetzen? Geht es um das Erreichen eines politischen Ziels um jeden Preis? Oder will man sich ernsthaft inhaltlich mit einem Thema auseinandersetzen und dieses möglichst nachhaltig bearbeiten?
 
Das es um das Aufsehen geht, dafür sprechen die behandelten Themen und die gewählten Aktionsformen und -orte. Auch die Darstellung der vergangenen Aktionen auf der Homepage spricht dafür, da sie insbesondere die Reaktionen von Presse, Staat und Gesellschaft ins Zentrum rückt. Um das Erreichen konkreter politischer Ziele jenseits von Aufregern und einer Woche medialer Debatte geht es nicht, denn was genau hat das ZPS erreicht? Dafür, das konkrete Forderungen gestellt werden, hat man keine einzige konkrete Durchsetzung von irgendwas im Kopf, zumindest sind diese nicht ersichtlich bzw. werden in den Handlungen nicht als primäres Ziel kenntlich. Und um in den jeweiligen Aktionsfeldern nachhaltige Aktionen geht es ganz offensichtlich auch nicht. Eigeninszenierung ist das Ziel, Skandalisierung das Mittel.
 
Hier wurde bereits das Brüskieren der Holocaustopfer und ihrer Angehörigen angesprochen. Aber auch andere Aktionen zeugen nicht davon, dass man sich mit anderen AkteurInnen verständigt. Nehmen wir die Aktion Soko Chemnitz. Mit einer Hoax-Seite tat man so, als wolle man jetzt erstmalig die Nazis identifizieren und anprangern. Angeblich sammelte man dann die Suchergebnisse in der Website und kam so an die Daten von Rechten. Was nirgends während und nach dieser Aktion zur Sprache kam, ist, dass es zig Leute gibt, die ihre Aufgabe in der Nazirecherche sehen und daran arbeiten, Personen, Gruppen und Zusammenhänge zu identifizieren. Rechercheteams gibt es in jeder Region und sie sind ein wichtiger Teil antifaschistischen Aktivismus. Das ZPS hat aber nicht nur nicht auf tatsächliche Recherchetätigkeit verwiesen, es hat die Daten auch noch an die Polizei gegeben:
 
„“Soko Chemnitz“ leitete den Datenschatz des rechtsextremen Netzwerks mit allen relevanten Daten (Namen, IP-Adresse, Suchbegriffe, automatische Gewichtung) für die weiteren Ermittlungen an den Staat in Form der Polizei Sachsen, dem Bundesinnenministerium und dem LKA 532 Berlin (Staatsschutz Abteilung rechtsmotivierte Kriminalität) weiter. Als nicht relevant eingestufte Suchanfragen wurden direkt nach der Eingabe gelöscht.“
 
Anstatt mit den Daten tatsächliche Antifaarbeit zu unterstützen, kooperiert man mit den Behörden, die insbesondere in Sachsen mit Rechten durchsetzt sind. Wer ersthaft Vertrauen in Polizei und Verfassungsschutz hat, muss seit Jahrzehnten blind sein. Und man kooperiert mit den Behörden, die konsequente Antifaarbeit behindern und verfolgen. Das ZPS hat, faktisch gesehen, echter Antifaarbeit keinen Millimeter geholfen und stattdessen sich so inszeniert, dass es jetzt mal den Nazis so richtig an den Kragen zu ginge. Auf der Seite wird zudem stolz gezeigt, dass ein Arbeitgeber eine Person gekündigt hätte und es eine Anzeige wegen eines Hitlergrußes gab, die von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Beides sind keine Resultate, mit denen man sich sonderlich brüsten müsste. So etwas machen Menschen privat jeden einzelnen Tag. Wenn man seinen Aktionen aber den Anstrich von praktischer Relevanz geben will, muss man das vermutlich derart reißerisch präsentieren.
 
Alles in allem ergibt sich nach einigen Jahren anhand der Aktionen des ZPS das Gesamtbild, dass es hier vor allem um die Lautstärke geht, nicht um den Inhalt. Wie wenig man sich mit politischen Inhalten auseinandersetzt, zeigt die Einordnung der Aktionen gegen Rechts in die Kategorie „Widerstand gegen den Totalitarismus“. Damit bedient man sich eines der Begriffe, die symptomatisch für die deutsche Schuldabwehr nach Ende des Naziregimes stehen und mit dem darin enthaltenen Antikommunismus als weltanschaulichem Element die Wiedereingliderung der Nazis in sämtliche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftichen Bereiche der BRD ideologisch den Weg bereitete. Wer vom Totalitarismus spricht, hat vom Faschismus offenbar wenig verstanden. Und das ZPS meint, damit dann auch gleich noch Politik machen zu wollen. Wenn man die aktuelle Aktion auch dort einordnen wird, kann man das als glatten Geschichtsrevisionismus bezeichnen. Denn es war der Nationalsozialismus, die die Jüdinnen und Juden umbrachten, kein überkommenes politiktheoretisches Konstrukt.

Wie den Schoß unfruchtbar machen – über das Versagen im Umgang mit Rechten

Die Diskussion um den Umgang mit Rechtsradikalen ist insbesondere seit dem Aufkommen und wachsenden Erfolg der AfD recht prominent im gesellschaftlichen Diskurs. „Mit Rechten reden“ – oder nicht – ist ein allseits bekanntes Schlagwort geworden. Wie man jetzt mit der AfD und Einzelpersonen genau verfährt ist eine nicht immer einfach zu beantwortende Frage. Die Frage stellt sich allerdings schon etwas länger, Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ kann als Türöffner für den heute noch aktuellen Diskurs bezeichnet werden. Hierbei spielt die SPD-Mitgliedschaft Sarrazins die entscheidende Rolle. Wäre sein Buch von einem NPD-Funktionär oder beim Kopp Verlag erschienen, es hätte niemanden außerhalb kleiner rechtsradikaler Kreise interessiert. Wenn ein Rechter ein rechtes Buch schreibt, dann ist der Inhalt erwartbar. Mit dem Parteibuch der SPD und der Vergangenheit als Finanzsenator in Berlin war Sarrazin aber mit dem Gütesiegel der bürgerlichen „Mitte“ versehen und theoretisch ja sogar so was wie ein Linker.

Allein durch diesen Umstand konnte das Buch bei einem renommierten Verlagshaus erscheinen, welches mehr Mittel und Wege für das Marketing zur Verfügung hat. Außerdem konnte man „Deutschland schafft sich ab“ als Skandalbuch eines Politikers verkaufen, der jetzt endlich mal die Wahrheit auftischt, auch wenn das Establishment diese nicht hören will. Gegen diese Kombination aus gefühlten Wahrheiten und Rebellenpose konnte man anschreiben wie man wollte, mit Logik und Argumenten kam man dem nicht bei. Wer liest denn schon ernsthaft ein Buch und prüft dann selbstständig die Argumente und Fakten nach, um sich dann ein fundiertes Urteil über den Inhalt zu erlauben? Eben. Mit „Deutschland schafft sich ab“ wurde eine für die breite Öffentlichkeit neue Sprache in den Mainstream eingeführt. Der Historiker Volker Weiß hat dazu geschrieben und das genau analysiert. Wer mehr dazu wissen möchte, kann dies in seinem Buch „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“ nachlesen.

Worum geht es, was läuft falsch?

 

In der Wochenzeitung Die Zeit ist vergangene Woche in der Reihe 10 nach 8 ein Text von Verena Weidenbach erschienen, der sich auch mit dem Thema des Umgangs mit der AfD beschäftigt. Vorweg: Der Artikel ist sehr gut und eine unbedingte Leseempfehlung. Er unterscheidet sich wohltuend von anderen Artikeln, da er eine klare Position vertritt und zu erkennen gibt, dass Weidenbach tatsächlich Ahnung von der Materie hat. Sehr oft hat es nämlich den Anschein, dass Personen über Antifaschismus (hier im Sinne des allgemeinen Kampfes gegen Rechtsradikale in allen Betätigungsfeldern zu verstehen) und die politische Rechte schreiben, die keine oder nur sehr rudimentäre Erfahrung und Sachkenntnis in dem Bereich haben. Es ist ja erst einmal nicht verwerflich, wenn Personen sich nicht auskennen. Zum Problem wird es dann, wenn man sich ohne Kenntnis des konkreten Gegenstandes ein Urteil erlaubt und dieses dann auch noch der breiten Öffentlichkeit präsentieren kann.

Viele der Diskussionsbeiträge zum Thema „Mit Rechten reden“ und „Umgang mit Rechten/der AfD“ lesen sich sich so, als ob die für den Beiträge verantwortlichen Person nichts über konkrete antifaschistischer Arbeit und die dazugehörenden Probleme wissen. Auch eine Kenntnis rechter und rechtsradikaler sowie politikwissenschaftlicher Theorien und Begriffe allgemein ist oft schmerzlich zu vermissen. Das trifft nicht nur auf Journalist*innen zu, wiegt hier aber schwerwiegender. Dies soll an drei Beispielen genauer ausgeführt werden. Als erstes dient ein relativ bekanntes Zitat Bernd Höckes aus einer Rede im Jahr 2018:

«Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir das durchsetzen, dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können. Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.»

Wessen Theorie ich nicht kenn…

 

In Bento, dem Portal des Spiegels für Jüngere, wird daraus dann, dass „er nach einer Machtübernahme der AfD in Deutschland auch vor der Türkei nicht haltmachen will. Den Islam wolle er dem Land dann verbieten.“  In der Welt wird fabuliert, dass „ihn auch Muslime am Bosporus fürchten“ müssen. Was beiden Autoren hier fehlt, ist die Kenntnis von Carl Schmitts Begriff des Politischen. Dieser ist einer der wichtigsten Einflüsse auf das politische Denken der Rechten und bildet die Grundlage für den Ethnopluralismus. Kurz gesagt, es geht um die räumliche Trennung von in sich geschlossenen politischen Einheiten. Höcke will also nicht der Türkei den Islam verbieten, er will den Islam und seine Anhänger*innen bis zum Bosporus räumlich begrenzen. Für ihn stellt der europäische Kontinent eine christliche Einheit dar, die man in dieser Form auch erhalten muss. Die Konsequenzen für den bereits historisch Jahrhunderten inklusive Islam multikonfessionellen Balkan sind interessanterweise niemandem eine Erwähnung wert.

Die fehlende Kenntnis der ideologischen und weltanschaulichen Grundlage führt dann zu einer inhaltlichen Verfälschung und wird an die Lesenden weitergegeben. Die Funktion der Journalistin, das Gesagte möglichst korrekt einzuordnen und kontextuell dem möglicherweise unwissenden Publikum aufzubereiten, ist hier vollständig abhanden gekommen und wird sogar in das Gegenteil verkehrt, da man Ver- statt Aufklärung liefert. Fehler wie diese sind symptomatisch für den deutschen Journalismus und demzufolge auch für den öffentlichen Diskurs.

Es ist erstaunlich, wie unpräzise mit Begriffen aus den Sozialwissenschaften und der politischen Ideengeschichte umgegangen wird. Ein prominentes Beispiel ist Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe. Seit fast 30 Jahren ist er in journalistischen Toppositionen beschäftigt und versagt regelmäßig an simpelsten Themen. Die G20-Proteste waren für ihn „Faschismus von links“ und Hamburg wurde zum „Bürgerkriegsgebiet“. Beides ist so offenkundig hirnrissig, dass man sich gar nicht erst zu einer Erwiderung herablassen möchte. Es gibt nur zwei Erklärungsmöglichkeiten:

1. Poschardt weiß, dass er die Begriffe falsch benutzt und insbesondere den Faschismusbegriff gegen jedwede halbwegs vernünftige Faschismustheorie einsetzt. Er entscheidet sich bewusst dagegen, verfälscht und lügt.

2. Er hat keine Ahnung, was diese Begriffe bedeuten.

Beide Optionen sind für eine Person in seiner Position eigentlich untragbar und zeugen in jedem Fall davon, dass ihm die fachliche Kompetenz fehlt, die sein Posten eigentlich erfordern sollte. Da wir von der Welt-Gruppe reden, ist diese Art von Hufeisenverfälschung hingegen sogar exakt die Art von Qualifikation, die es für den Job braucht.

Handzahme Uninformiertheit – leichtes Spiel für Rechtsradikale

 

Ein Beispiel, bei dem sich sowohl fachliche Inkompetenz und völliges Unvermögen im Umgang mit Rechtsradikalen finden, ist das Interview mit im ZDF Morgenmagazin mit Jörg Meuthen nach dem Terroranschlag von Halle. Mit zahnlosen Fragen über bestimmte Formulierungen Höckes versuchte man Meuthen beizukommen, der diese weitestgehend ignorierte und die bekannte Opferrolle darbot. Scharfe Nachfragen gab es nicht, die fünf Minuten ließen eh keine Zeit um Meuthen ernsthaft in eine Ecke zu drängen. Aus journalistischer Sicht war dieses Interview eine Vollkatastrophe und Blamage. Dabei hätte man, wenn man schon einem rechtsradikalen Spitzenpolitiker Sendezeit einräumt, ihn mit seinen eigenen Aussagen konfrontieren können.

Dem ZDF Morgenmagazin lagen garantiert die Aussagen des Halleattentäters aus dem Video und dem Manifest vor, waren diese doch schon am selben Abend mit ein wenig Recherche zu finden. Wenn wir das schaffen, dann auch ein Großbetrieb wie das ZDF. Es war bekannt, dass der Attentäter an die jüdische Weltverschwörung und den gesteuerten Bevölkerungsaustausch glaubt. Nicht nur gibt es dazu aus den Reihen der AfD unzählige zustimmende Aussagen, Meuthen selber hat sich diesbezüglich mehrfach selber geäußert. In einem Facebookpost führte er aus, wie George Soros die Flüchtlingsströme nach Europa lenken würde und was die SPD damit zu tun hat. Der sonst üblicherweise lautstark von AfD-Mitgliedern verbreitete Verschwörungsmythos des gesteuerten Bevölkerungsaustauschs wurde hier rot angepinselt und somit zur jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung light.

Man konnte also wissen, mit wem man es zu tun hat und das Meuthen selbst ideologischer Wegbereiter der Weltsicht ist, die zwei Menschen in Halle das Leben kostete und fast zu einem Massaker in der Synagoge führte. Und da wir vom ZDF Morgenmagazin reden, kann man dieses Wissen erwarten. Es handelt sich schließlich nicht um einen alleine betriebenen Youtube-Channel, sondern um eine der Flagschiffsendungen eines Senders mit einem Umsatz von über 2 Milliarden Euro jährlich. Für gute Rechercheleute bleibt aber wohl nicht viel übrig. Meuthen konnte sich relativ gefahrenfrei durch ein zahnloses Kurzinterview navigieren. Erkenntnisgewinn: Null

Die journalistischen Versäumnisse im Umgang mit Rechten haben dazu geführt, dass dieses Jahr die ARD-Talkshows „hart aber fair“ mit Frank Plasberg, „Maischberger“ und „Anne Will“ sowie die ZDF-Sendung “ Maybrit Illner“ den Negativpreis „Die goldene Kartoffel“ erhalten haben. Wohl verdient, wie nicht nur das (nicht mit dem Preis bedachte) Morgenmagazin mit dem Meuthen-Interview zeigte. Sandra Maischberger lädt anlässlich des AfD-Parteitags in Braunschweig Meuthen als Gast ein, um über den Kampf von „Moderaten“ und „Radikalen“ in der Partei zu sprechen. Ohne die Sendung gesehen zu haben, lässt schon die Ankündigung Schlimmstes befürchten.

Keinen Plan, aber Hauptsache irgendwas mit Populismus und Extremismus

 

Ein wirklich eklatantes Problem stellt die offenkundige Begriffslosigkeit dar. Man versteckt diese hinter der Nutzung einiger Schlagwörter, mit denen man meint den Gegenstand korrekt erfasst zu haben und muss sich nicht mit lästigen Fragen über die korrekte Begriffsverwendung rumschlagen. Die am häufigsten benutzten Begriffe sind dabei rechtspopulistisch und rechtsextrem. Was genau diese Begriffe jetzt inhaltlich bedeuten, wird dabei selten klar und eigentlich auch nie erklärt. Man geht davon aus, alle wüssten schon, was gemeint ist. Nun handelt es sich dabei aber um Begrifflichkeiten, die man tunlichst unterlassen (rechtsextrem) oder nur sehr begrenzt (rechtspopulistisch) verwenden sollte.

Mit dem Begriff des Rechtsextremismus verwendet man einen Begriff des Verfassungsschutzes, gegründet von Exnazis und Antikommunisten, welcher der Extremismustheorie entstammt. Diese ist in den Sozial- und Politikwissenschaften aus gutem Grund kaum in Verwendung, der ihr Erklärungsgehalt sehr marginal ist und zudem eine ideologische Ordnung der politischen Landschaft vornimmt, welche statt auf Inhalte auf (vermeintliche) Äußerungsformen zurückgreift. Mehr dazu kann man hier nachlesen: https://rambazamba.blackblogs.org/2018/02/15/die-extremismustheorie-urspruenge-inhalt-und-konsequenzen/. Wer das Denken des Verfassungsschutzes nicht reproduzieren will, sollte daher diesen Begriff aus dem Wortschatz streichen. Beim Begriff des Populismus handelt es sich nicht direkt um einen extremismustheoretischen Ausdruck. Er wird in den Sozialwissenschaften häufiger verwendet, konzentriert sich aber ebenso wie der Extremismusbegriff vor allem auf die Form, nicht auf den Inhalt. So kommt es dann zustande, dass Rechts- und Linkspopulismus und -extremismus häufig im selben Atemzug genannt und gedacht werden, ohne das es um konkrete Inhalte ginge. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der ständige Vergleich von den Aussagen einer AfD-Person und gleichklingenden Formulierungen Hitlers oder einer anderen Nazigröße, wobei es den Vergleichen in der Regel ausschließlich um die Form, also die Formulierung, geht, und eher selten um das inhaltlich damit Ausgedrückte. Wie man den Populismusbegriff mit Bedacht auf seinen beschränkten Erklärungsgehalt einsetzt, kann man in einem Artikel von Floris Biskamp im Katapult Magazin sehen.

Form vs. Inhaltslosigkeit und Sachunkenntnis

 

Dieses Konzentrieren auf die Form ist dann auch einer der großen Schwachpunkte im Umgang vieler Medien mit Rechten, sowie allgemein im öffentlichen Diskurs. Wenn man vorrangig auf das wie achtet, und nur rudimentäre Kenntnisse über rechte Weltanschauungen und Theoriegebilde hat, kommen solche eklatanten Fehler wie bei der eingangs aufgezeigten Fehlinterpretation Höckes raus. Wie soll man denn argumentativ etwas entgegensetzen, wenn man das Gesagte kaum verstehen und ideengeschichtlich einordnen kann? Selbstverständlich ist es zu viel verlangt, von allen Journalist*innen eine umfangreiches Kenntnis rechter Ideologien zu erwarten. Man darf aber erwarten, dass etablierte Medien mit entsprechender Vernetzung und Budget über Kontakte verfügen, die sich wirklich mit dem Thema auskennen. Warum hat das ZDF kein zentrales Rechercheteam zur radikalen Rechten? Mit nur fünf Personen hätte man ein ausreichend großes Team, um eine Datenbank zu erstellen und aktuelle Entwicklungen im Auge zu behalten, so dass sämtliche Sendungen darauf zurückgreifen könnten. Bei der gesellschaftlichen Relevanz des Themas sind fünf Festanstellungen bei einem Jahresbudget von zwei Milliarden sicherlich drin.

Neben dem Fokus auf das Formale fällt zudem eine oftmals schlechte Kenntnis von Äußerungen jenseits prominenter Reden oder Aussagen auf. Gaulands Vogelschiss und seine Boatengäußerungen sind bekannt, seine Rede in Schnellroda dagegen findet keine Beachtung. Dabei stellt er dort in der Keynote Winterakademie 2019 des IfS ganz klar sein antisemitisches Weltbild unter Beweis und aktualisiert die antisemitische Chiffre des wurzellosen Kosmopoliten in die Jetztzeit. Auch Meuthen und Weidel haben dort geredet und rechtsradikaler als in dieser sich als Kaderschmiede des Rechtsradikalismus verstehenden Institution geht es in Deutschland kaum.

Süßer die Schellen nie klingen

 

Was den Artikel in der Zeit von ganz vielen anderen Artikeln abhebt, ist die Detailkenntnis des rechtsradikalen Spektrums. Hier ist eine Person, namentlich Verena Weidenbach, die sich mit den Originalquellen beschäftigt hat und somit nicht auf die üblichen Diskursmanöver der Rechten hereinfällt. Wie so etwas aussehen kann, hat der bereits erwähnte Volker Weiß vorgemacht. Bei einer Fachtagung in Halle ist auch der Faschist Tillschneider von der AfD anwesend und versucht nach Ende von Weiß‘ Eröffnungsvortrag, diesem ans Bein zu pinkeln. Tillschneider stellt sich in eine angeblich demokratische Tradition der „Konservativen Revolution“ aus Weimarer Zeiten bis heute. Weiß ist Historiker und kennt daher vermutlich die Publikationen der 20er besser als Tillschneider selber und zerlegt diesen dementsprechend mit seiner Replik:

„Die Autoren, auf die man sich in Schnellroda [dort sitzt das Institut für Staatspolitik, Anm. d. V] beruft, haben die Demokratie, die Weimarer Demokratie, verachtet. Und das haben sie immer wieder gesagt, geschrieben und betont. Die können Sie jetzt nicht plötzlich demokratisch vereinnahmen. Dafür hätte Sie Ernst Jünger ausgelacht, Oswald Spengler hätte Sie ausgelacht, Moeller van den Bruck hätte Sie ausgelacht.“

Tillschneider, Faschist und einflussreicher Politiker in der Landes-AfD, kann dem nichts entgegensetzen. Er weiß ja selber, was diese Leute geschrieben haben. Und er weiß auch, dass Volker Weiß ihm das jederzeit nachweisen kann. Dieses mag Störmanöver bei Anne Will oder Frank Plasberg funktionieren, die vermutlich noch nie den Namen Moeller van den Bruck gehört haben und auch inhaltlich wenig zum Thema sagen können. So wie Weiß hier Tillschneider zerlegt hat, so kann man dann auch tatsächlich mit Rechten reden. Man darf ihnen nur nicht die Initiative überlassen und muss sich fachlich gut auskennen. Und vor allem kommt es auf das Setting an.

Mit Rechten kann man nicht reden – Frankfurter Buchmesse 2017

 

Negativbeispiele dafür, wie man es nicht tun sollte, lieferte die Frankfurter Buchmesse. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, 2017 den Antaios Verlag von Kubitschek direkt neben die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Bildungsstätte Anne Frank zu platzieren, muss ordentlich am Klebstoff geschnüffelt haben. Der Gedanke war vermutlich, dass man die Rechtsradikalen durch das Fachpersonal direkt nebenan entschärfen könne. Wer sich auch nur ein wenig mit dem Konglomorat von Götz Kubitschek auskennt (Antaios, Sezession, IfS, Ein Prozent) und seinem Umfeld auskennt, weiß, dass das keine gute Idee ist. Dem geistigen Ziehvater der Identitären geht es ja nach eigenem Bekunden nicht um Dialog und Diskurs, sondern um deren Zerstörung. Worauf Weidenbach in ihrem Zeit-Artikel auch verweist. Folgerichtig machten verurteilte rechtsradikale Gewalttäter Stress und es kam zu Tumulten, bei denen sich die Rechten fast nach Belieben selber in Szene setzen konnten. All das wäre vermeidbar gewesen. Man hätte nur mal die Leute fragen müssen, die sich mit Kubitschek auskennen.

Auf ganz grandiose Art und Weise ist dann auch Daniel-Pascal Zorn gescheitert. Dieser ist Autor des programmatischen Buches „Mit Rechten reden“. Genau das hatte er vor und begab sich auf der Buchmesse in eine Diskussion mit Martin „Lichtmesz“ Semlitsch, Autor bei der Sezession und ebenfalls ideologischer Vordenker der Identitären. Man weiß nicht genau, um was es in dem Gespräch ging. Was man aber weiß, ist die publikumswirksame Inszenierung dieses Gesprächs von Seiten Semlitschs. Dieser veröffentlichte schlicht ein Bild in den sozialen Netzwerken, welches ihn im Gespräch mit einem Autor zeigt, der gerade in allen Feuilletons besprochen wird. Was hat dieses Reden mit einem Rechten also gebracht? Eine willkommene Möglichkeit der Selbstinszenierung als akzeptabler Gesprächspartner. Was hat es nicht gebracht? Irgendwas im Kampf gegen rechts. Da kann man schon mal klatschen für das selbsternannte Fachpersonal für reden mit rechts.

Unkenntnis und Professuren schließen sich nicht aus

 

Aktuell macht ein Buch von Cornelia Koppetsch die Runde, populärwissenschaftlich aufbereitete Soziologie liegt im Trend. In ihrem Buch versucht sie zu erklären, warum die AfD gewählt wird. Den großen Aufschrei gibt es jetzt darüber, dass sie fachlich unsauber gearbeitet hat und Quellenangaben nicht oder nur lückenhaft liefert. Eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Buch findet kaum statt, obwohl oder gerade weil es durch die Feuilletons gejagt wird. Man muss sich nämlich schon mit rechter Theorie und Ideengeschichte auskennen, um so ein Buch inhaltlich bewerten zu können. Eine Fachkenntnis über rechte Akteur*innen und Orgas wäre auch nicht schlecht, ebenso wie eine gewisse Vorbildung in den Sozialwissenschaften. Anderweitig gerät man in die Gefahr, das Buch einfach nur zu paraphrasieren und keiner kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wie soll das auch gehen, ohne Fachkenntnis? Nur weil eine Person einen akademischen Titel hat, muss sie noch lange nicht richtig liegen. So ist das auch bei Koppetsch der Fall. Ihr Anspruch einer „theoriegeleiteten Empathie“ kippt vom sozialwissenschaftlichen Erklären und Verstehen ins Verständnis ab. Koppetsch übernimmt die Feindbilder der Rechten und macht die dann für den Aufstieg der Rechten verantwortlich. Dass es sich dabei um eine kaum kaschierte antisemitische Chiffre (kulturkosmopolitische Elite) handelt, merkt sie wohl selbst überhaupt nicht mehr. Koppetsch hat null Ahnung von Rechtsextremismusforschung. Sie rezipiert zwar zum Beispiel Weiß und Julian Bruhns, das war es dann aber auch schon. Keine Rechercheseiten, keine Betroffenen kommen zu Wort, es ist eine bloße Wiedergabe des AfD-Sprechs mit gelegentlich halbherzigen Distanzierungen.

Exemplarisch für völlige Inkompetenz mit großem Titel steht auch Ulrike Guérot, Professorin für europäische Politik und Demokratieforschung. Die behauptete in Bezug auf den AfD-Hardliner Kalbitz, dass nur demokratische Parteien und Personen zu Wahlen in Deutschland zugelassen würden. Diese Professorin! für Demokratieforschung kennt offenbar ihr eigenes Fachgebiet nicht und hat vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag bezüglich der NPD noch nichts gehört. Das höchste Gericht hat der NPD attestiert, im Wesenszug nationalsozialistisch zu sein. Verboten wird sie nicht, weil sie so marginal ist, dass sie keine ernsthafte Gefahr für die demokratische Grundordnung darstellt.

Gern genommene Entschuldungsmodelle

 

Wenn man den öffentlichen Diskurs verfolgt, dann hat man oft den Eindruck, man ist eher darum bedacht die Probleme und Ursachen woanders zu verorten, als sich und das eigene (auch weltanschauliche) Umfeld kritisch zu betrachten. Vielleicht haben gerade deshalb populär-soziologische Bücher aktuell Konjunktur. Sie liefern Erklärungsmodelle, die oftmals sogenannte Theorien mittlerer Reichweite sind. Dabei wird nicht das gesamte Gesellschaftsmodell untersucht und erklärt, stattdessen nimmt man sich bestimmte Teilaspekte vor. Koppetsch zum Beispiel arbeitet genau in diesem Feld. Sie will nicht die gesamte Gesellschaft und politische Landschaft (v)erklären, sie will den Erfolg der AfD erläutern. Praktischerweise ist eine Theorie mittlerer Reichweite aber immer noch so abstrakt, dass sich Individuen nicht unmittelbar davon angesprochen fühlen müssen. Was kann man als einzelner Mensch denn schon gegen gesellschaftliche Prozesse tun? Und so drängt sich der Eindruck auf, dass solche Theorien vorrangig deshalb prominent aufgegriffen werden, weil sie eine Entschuldungsmöglichkeit liefern.

Außerdem bieten diese Theorien den Vorteil, dass man sich nicht im Bereich der konkreten Bekämpfung von Rechtsradikalen die Hände schmutzig machen muss. Ja, diese Schicht der Kosmopoliten (hallo antisemitische Trope) ist bei Koppetsch halt in seiner Gesamtheit Schuld. Da muss man nicht in Güstrow oder Halle nachfragen, was denn die konkreten Probleme mit Rechtsradikalen vor Ort sind, und welche konkreten Maßnahmen denn helfen, welche nicht und was für Hilfe man leisten sollte. Man kann die Problematiken fein säuberlich von sich wegschieben und in die abstrakte Ebende der gesellschaftllichen Prozesse auslagern. Denn auch das zeichnet den öffentlichen Diskurs sehr oft aus: Diejenigen, die aktiv gegen Faschos, Nazis, Hools und Rechtsradikale aktiv sind, bekommen kaum Gehör. Sie könnten das betrügerische Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft zerstören, dass man ja mit Rassismus, Antisemitismus und dergleichen nichts zu tun hat. Antisemit*innen sind immer die anderen, aber nie ein Augstein, ein Blüm, ein Todenhöfer, ein Dehm oder ein Gauland. Es ist nie das eigene Umfeld, welches die Probleme bereitet. Und vor allem sind es nie die eigenen Positionen und das eigene Verhalten, welche mitunter ursächlich für bestimmte Probleme sind. Ein Plasberg oder eine Maischberger werden von sich ganz sicher behaupten, entschieden gegen rechts agiert zu haben und mit dem Aufstieg und der Normalisierung Rechtsradikaler nichts zu tun zu haben.

#dankeantifa und militant – so geht guter Widerstand

Würde man Antifaschist*innen und Initiativen gegen rechts denn mal zuhören, müsste man auch das hohe Ross des Pazifismus verlassen und seine eigene moralische Überlegenheit der Frage der Effektivität unterordnen. (Mehr zur Gewaltfrage hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/01/17/die-gewaltfrage/) Es urteilen sehr oft Leute über Antifaschismus, die sich mit dem Feld inhaltlich gar nicht auskennen. Konkrete Vorschläge werden nie unterbreitet, Sitzblockaden dagegen sind dann fast schon der neue Faschismus von links. Wer sich in der Antinaziarbeit auskennt weiß, dass man mit Rechten nicht redet. Dabei ist ja auch nicht gemeint, dass man sich nie mit Einzelpersonen unterhält oder Bildungsarbeit mit gefährdeten Person betriebt, man kann durchaus Individuen durch einen längeren Diskussionsprozess in ihren Ansichten entschärfen oder auch ganz aus der rechten Szene rausholen. Nur passiert so was nicht in der Öffentlichkeit und nicht bei Personen und Gruppen, die ein gefestigtes rechtes Weltbild aufweisen. Mit einem Semlitsch braucht man nicht reden, der ist durch und durch Faschist, lebt ganz gut davon und wird sich auch nicht in seinen Ansichten ändern. Sobald es sich um Situationen handelt, in denen Rechte im Diskurs normalisiert werden – egal ob öffentlich, politisch oder privat – wird nicht mit ihnen geredet. Sie sind raumgreifend und wenn man ihnen die Möglichkeit zur Raumnahme bietet, dann werden sie diese ergreifen. Also muss man ihnen so konsequent es geht alle Räume versagen. Und zwar mit allen erforderlichen Mitteln.

Wer sich die Geschichte faschistischer Gruppen und Bewegungen anschaut, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass es zwangsläufig zu einer Form der potentiell gewalttätigen Konfrontation kommen muss. Nur massiver Gegendruck und aktive Gegenraumnahme schaffen es, faschistische Bewegungen kleinzubekommen. Und zwar auf allen Ebenen. Wenn man sich das Viersäulenkozept der NPD anschaut, dann findet man dort den Kampf um die Parlamente, die Köpfe, die Straße und den organisierten Willen. Und in allen Bereichen muss der Faschismus bekämpft werden: Als Partei, im Weltanschaulichen und im Diskurs, auf der Straße und organisatorisch. Wenn Staat und das, was man als Zivilgesellschaft bezeichnet, dies nicht oder nur unzureichend leisten, muss der Antifaschismus notwendigerweise eigenständig so gut es geht diese Schwachstellen ausfüllen. Auf den Staat ist dabei nie Verlass, im Zweifelsfall muss man gegen ihn arbeiten. Und insbesondere das konservative Bürgertum hat sich in den letzten 100 Jahren regelmäßig zum Steigbügelhalter rechtsradikaler Bewegungen und Diktaturen gemacht. Die Diskussion in Thüringen zeigt aktuell wieder deutlich, dass diese Gefahr nicht historisiert werden kann, sie ist aktuell wie eh und je.

Was den Artikel von Verena Weidenbach auszeichnet ist, dass sie das weiß. Sie spricht zwar nicht dafür aus, Nazis so lange zu Kantholzen, bis sie keine Lust mehr aufs Nazisein haben. Aber sie weiß, dass man Rechtsradikale politisch und gesellschaftlich niemals in einen Dialog oder in einen Diskurs einbinden darf. Würden Staat und Zivilgesellschaft dies konsequent schaffen, es wäre viel weniger militanter Antifaschismus notwendig.

25.11. – Heute ist der Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Gewalt gegen Frauen ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und trotzdem ist sie weltweit verbreitet und seit Jahrtausenden Normalität in fast allen Gesellschaften. In der Wahrnehmung der meisten Menschen entspricht es ihrer Normalität, Frauen zu belästigen, zu schlagen, sie zu konsumieren und ihnen Gewalt anzutun. Warum? Weil sie als Gegenstände wahrgenommen und so behandelt werden: Als Gebärmaschinen für die Nation, als Sexobjekte für männliche Lust und als Besitz ihrer Partner. Ausgebeutet wird, was ausgebeutet werden kann, nämlich sowohl die Sexualität wie auch die Reproduktivität, mit der in Leihmutterschaftskonstellationen Geschäfte gemacht werden. 
Deshalb: Frauenrechte sind Menschenrechte!
 
 
Seit 1981 organisieren Organisationen wie Terre des Femmes Aktionen und Veranstaltungen an diesem Tag. Im Dezember 1999 erklärte die UN-Generalversammlung dann in einer Resolution den 25. November zum festen Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen, denn sie zeigte sich „beunruhigt darüber, dass Frauen nicht in den vollen Genuss ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten kommen, und besorgt darüber, dass es nach wie vor nicht gelungen ist, diese Rechte und Freiheiten im Falle von Gewalt gegen Frauen zu schützen und zu fördern. (1) Die Initiierung dieses Aktionstages ist auf die Entführung, Vergewaltigung und Ermordung der Mirabel-Schwestern von 1960 zurückzuführen, Regimegegnerinnen des damaligen Diktators der Dominikanischen Republik Diktators Rafael Trujillo. Seither wird an diesem Tag aufgezeigt, was bereits erreicht worden ist, aber ebenso der Blickt auf die Handlungsdefizite bei der Intervention gegen Gewalt an Frauen gerichtet werden. Nicht vergessen werden sollte aber, dass die UNO selbst es nicht ganz so genau mit konsequentem Einsatz für Frauenrechte und gegen Gewalt an Frauen nimmt. So wurde 2017 Saudi Arabien in die UN-Kommission für Frauenrechte gewählt, obwohl dieses Land Gewalt gegen Frauen institutionalisiert hat.
 
Die Dimensionen, Formen und Ausprägungen von Gewalt gegen Frauen manifestieren sich auf vielfältigste Weise, beginnend bei der strukturellen Gewalt u. a. von sozialer Armut, die sich v. a. auf das Leben im Alter auswirkt, über die der Objektifizierung und Verwertung des weiblichen Körpers für den kapitalistischen Markt in Werbung, Pornografie und Prostitution bis hin zu Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und schließlich Femiziden, die noch immer nicht als solche benannt werden, geschweige denn dass es sie als juristische Kategorie überhaupt gäbe.
Mehr noch: Den bürgerlichen Staat interessieren Frauenrechte kaum, sodass Frauen eben für das Grundlegendste ihrer Menschenrechte demonstrieren müssen: Ihre körperliche Unversehrtheit.
 
Es gibt keine Schutzmechanismen, keine Rückzugsorte, Hilfe vom Staat schon gar nicht. Besonders anschaulich und grausam zeigt das der Fall von Julie Douib, die obwohl sie sich Hilfe suchte, sogar zur Polizei ging, schließlich durch die Hand ihres Partners ermordet wurde. Wo noch nichts passiert ist, kann man schließlich nichts machen.
            Julie avait interpellé les gendarmes notamment au sujet de l’arme que gardait son exconjoint: „J’ai peur, il va me tuer“, leur avait-elle confié à l’époque, comme le rappelle une de ses amies sur Facebook. „Madame, tant qu’il ne s’en sert pas, nous ne pouvons rien faire!“, lui aurait répondu un gendarme. „Alors vous allez faire quelque chose une fois que je serais morte?“, avait rétorqué Julie. (2)
 
            [Julie verständigte unter Anderem wegen der Waffe, die ihr Ex-Partner besaß die Gendarmerie. „Ich habe Angst, er wird mich umbringen.“ warnte sie damals die Gendarmerie, wie eine Freundin auf Facebook angibt. „Gute Frau, solange er davon keinen Gebrauch macht, können wir nichts machen!“ sei darauf die Antwort eines Gendarmen gewesen. „Also werden sie erst etwas tun wenn ich tot bin?“ war Julie’s Entgegnung.] 
 
 
Die Wahrnehmung von Frauen als Gegenständen wird befeuert, indem sie als solche dargestellt werden in Pornografie und Prostitution. Die Bandbreite des Angebots lässt nur den Schluss auf eine enorm hohe Zahl Konsumenten schließen. Darstellungen, in denen Haushaltsgegenstände zu Waffen werden, Frauen beleidigt, gewürgt, geschlagen bespuckt werden und Schlimmeres sind frei für alle zugänglich, sogar für Kinder, die sich sicher nicht von einem Verweis auf einen roten Button mit der Aufschrift „Ich bin keine 18“ den Zugang zu derlei Bildmaterial verwehren lassen. Die Sexualität von Frauen wird zugerichtet, zerstört von Kindesbeinen an ihre Selbstwahrnehmung und ein gesundes Bewusstsein ihrer selbst. Es wird ihnen als Normalität eingeimpft. Und das Fatale daran ist, dass sich der Kampf um Frauenrechte in Punkten wie diesem so uneinig ist. Das Fatale ist, dass vermeintliche KämpferInnen für Frauenrechte, sich zu TrägerInnen eben dieses Systems machen lassen und eine Freiwilligkeit sehen, wo keine sein kann.
 
 
Schon 1995 in Peking bei der 4. Weltfrauenkonferenz wurde erläutert, dass in erster Linie „Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden Mechanismen ist, durch den Frauen in eine im Vergleich zu Männern untergeordnete Stellung gezwungen werden.“ (3) Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Pekinger Aktionsplattform gilt gemeinsam mit der Frauenrechtskonvention als eines der zentralen internationalen Bezugsdokumente. Sie ist die Grundlage für diverse Initiativen der Gleichstellungspolitik und beinhaltet konkrete Maßnahmen zur Förderung der geschlechtsspezifischen Gleichstellung ausgedehnt auf zwölf Schwerpunkte. 189 Staaten, Deutschland inklusive, haben diese in der sogenannten Pekinger Erklärung einstimmig beschlossen und sich damit zur Umsetzung verpflichtet. Nichtsdestotrotz liegt Deutschland mit 66,9 von 100 möglichen Punkten im EU-Gleichstellungsranking auf Platz 12. Das zeigt der im Oktober veröffentlichte Gleichstellungsindex des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen. (4)
 
Es werden jährlich etwa 12 Millionen Mädchen und 18 Jahren verheiratet. Es folgen i. d. R.  zeitnah Schwangerschaften und eine abgebrochene Berufsausbildung, sofern denn überhaupt eine begonnen wurde. 
Es werden jährlich um die 200 Millionen Frauen und Mädchen mit Genitalverstümmelung gequält, die es nach wie vor in über 30 Ländern noch gibt und das einzig allein, damit sie ihre Sexualität nicht ausleben können.
Es werden hauptsächlich Frauen zu Opfern des Menschenhandels, die laut Eurostat insgesamt 80%  ausmachen. (5)
 
Bleiben wir weiterhin entschlossen und widerständig! Entschlossen, der Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein Ende zu setzen und widerständig gegen ein System, das diese Gewalt beabsichtigt, hervorbringt, reproduziert und vermarktet.
 
 
 
Sofie Rot

Buchrezension „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“

Im Verbrecher Verlag ist vor ein paar Wochen ein Sammelband zum Thema Extremismustheorie erschienen. Dieser ist die zweite Veröffentlichung der „Edition Bildungsstätte Anne Frank“, welche von der namensgleichen Bildungseinrichtung aus Hessen verantwortet wird. Der Rahmen des Sammelbandes ist mit einigen Stichworten ganz gut umrissen: Extremismus-, Totalitarismus-, Hufeisentheorie und Zentrismus/Ideologie der Mitte. Die einzelnen Beiträge im Band behandeln einzelne Aspekte aus diesem Spektrum, vorsortiert in fünf Kategorien: 
 
    (1) Eine Theorie, die keine ist
    (2) Im Dickicht der Institutionen
    (3) Das Recht des Stärkeren 
    (4) Mythos Mitte und 
    (5) Nachtritt. 
 
Die Beiträge stammen unter anderem von Politikwissenschaftler*nnen wie Wolfgang Wippermann und Dana Ionescu. Es gibt ein Interview mit den Leitern der Bildungsstätte Anne Frank, Artikel von Mitarbeiter*nnen der Bildungsstätte wie Eva Berendsen und Tom Uhlig, politsch-satirisch Aktiven wie Paula Irmschler und Leo Fischer und ein Interview mit der Facebook-Seite Das goldene Hufeisen.
 
 
Vorweg gibt es gleich das Fazit, unter dessen Berücksichtigung die Detailkritik zu lesen ist: Es ist ein empfehlenswerter Sammelband mit teilweise hervorragenden Beiträgen. Man merkt dem Band an, dass er von einer demokratischen Bildungsstätte herausgegeben wurde – einige Beiträge beziehen sich explizit auf den Bereich der politischen Bildung und der dort aktiven Vereine und Träger*nnen. Wer mit diesem Bereich nicht viel zu hat und sich politisch auch nicht in der „Mitte“, in der Mehrheitsgesellschaft oder im bürgerlichen Bereich verortet, wird nicht alle Artikel hochgradig spannend finden oder sich in ihrer Intention wiederfinden. In der Summe bündelt das Buch aber Artikel mit größtenteils politikwissenschaftlichem Anspruch zum Themenbereich Extremismus und richtet sich klar gegen staatliche, behördliche und rechte Diskursbestimmung durch damit verbundene Konzepte und eine inhaltlichen Entkernung der politischen Debatte. Wer wissen will, was damit nicht stimmt, wird hier mit teils exzellentem Material versorgt. Und auch wer mit dem Thema vertraut ist, wird genügend interessante Details und Denkanstöße bekommen.
 
 
Empfehlenswerte Artikel, chronologisch:
 
Rechts von uns ist das Land – Eva Berendsen, Katharina Rhein, Tom Uhlig
– Politik(wissenschaft) als Mythos; Die Extremismustheorie und das Hufeisen – Daniel Keil
– Eine Totalitarismustheorie, die eigentlich keine ist; Die deutschsprachige Rezeption von Hannah Arendts Theorie der totalen Herrschaft – Dana Ionescu
– Politische Bildung als Verfassungsschutz? Über ein deprimierendes Demokratieverständnis – Katharina Rhein
– Extremismus – Ein Konzept zur Lähmung des Kampfes gegen rechts – Ingolf Seidel
– Im Recht; Der Extremismusbegriff schützt vor allem eins: Die Verfasstheit der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung gegen emanzipatorische Politik – Maximilian Pichl
– „Wehrhafte Demokratie“ oder wie ein Inlandsgeheimdienst zum Demokratieschützer wird – Sarah Schulz
– Deutschlands Platz an der Arktis; Wie sich die Volksgemeinschaft an Kälte wärmt– Tom Uhlig
– Antisemitsm – Connecting People – Katharina Rhein, David Uhlig
– Interview mit Das goldene Hufeisen – David Uhlig
 

Rein ins Extreme

 
Die drei Herausgeber*innen lassen sich nicht lumpen und eröffnen den Band mit einer standesgemäßen Einleitung, die den politischen Zeitgeist in den Jahren der Chemnitzer Ausschreitungen, des Mordes an Lübcke, des Endes der juristischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes und der Etablierung der rechtsradikalen AfD in allen Landes- und Bundesparlamenten themenspezifisch seziert und den Finger auf die offenen Widersprüche und Fehlentwicklungen der letzten Jahre legt. Die größte Enttäuschung folgt direkt auf dem Fuße, liefert Wolfgang Wippermann doch einen sehr schwachen Beitrag ab. Es wird viel angeschnitten, wenig untermauert und noch weniger zum Abschluss gebracht.
 
 
Doch davon sollte man sich nicht entmutigen lassen. Denn die drei folgenden Beträge enthalten Schellen für Verfassungsschutz, Extremismustheorie und die jeweiligen Vertreter*innen, die es in sich haben.  Wer weiß schon, dass die Bundeszentrale für politische Bildung in den ersten Jahren Bundeszentrale für Heimatdienst (ja, Heimatdienst) hieß und maßgeblich von antikommunistischen Altnazis aufgebaut wurde, die stellenweise das seit Jahrzehnten als ungerechtfertigt angesehene KPD-Verbot angestrengt haben? Wer weiß schon, dass die Hufeisentheorie eine Selbstverortung rechtsradikaler Kräfte zu Beginn der 30er war, mit der man sich als wahre Vertreter des Volkes im Sinne der Volksgemeinschaft zu positionieren suchte, während die Linken mit ihrem Klassenkampf dies nicht seien und zu viel Klassenkampf dem Volk nicht gut täte, was von Backes in seiner Übernahme des Modells aber geflissentlich unter den Tisch fallen gelassen wird? Wer weiß schon, dass führende Extremismustheoretiker wie Jesse, Backes, Patzelt, Pfahl-Traughber und andere teils offiziell, teils inoffiziell für den Verfassungsschutz gearbeitet haben und heute trotzdem als unabhängige wissenschaftliche Experten für die Medien gelten und bei der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen? Wer weiß, dass Hannah Arendt mit ihren Arbeiten zur totalen Herrschaft explizit nicht die DDR gemeint hat und auch die Sowjetunion nur unter Stalin als totale Herrschaft ansah, heute aber entgegen ihrer Aussagen als Säulenheilige der Totalitarismustheorien und als Namensgeberin eines solchen Instituts herhalten muss, dessen außerordentlicher Professor Lothar Fritze sogar in Schnellroda beim rechtsradikalen Institut für Staatspolitik referiert hat? 
 

Mehr davon

 
Die große Stärke des Sammelbands liegt genau in solchen Details und Ausführungen, die die politische Ideengeschichte des Extremismusbegriffs nachzeichnen, seine Entstehung erläutern und einordnen und den sehr begrenzten Rahmen dieses Modells anschaulich darlegen. Und so bekommt die Selbstdarstellung der BRD und ihrer Sicherheitsorgane sehr viel Kritik ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Nazis ihren Antikommunismus in den Behörden, die sie oft selber aufgebaut haben, weiter ausleben und Opfer des Nationalsozialismus in der BRD ein zweites Mal staatlich verfolgen, während sie selber unbehelligt von ihren Verbrechen der Nazizeit blieben. Interessant sind auch die Passagen, in denen der Extremismusbegriff staats- und verfassungstheoretisch eingeordnet wird. So ist es ein Zynismus, dass politische Bildung in Form der Bundeszentrale für politische Bildung genauso wie der Verfassungsschutz dem Innenministerium unterstellt ist und somit als staatliche Behörde einen Extremismusbegriff verbreitet, der den staatlichen Bereich explizit ausklammert und keiner Kritik unterzieht. Demokratieförderung dient hier also nicht dem Fördern eines kritischen Denkens auch gegenüber staatlichen Institutionen, sondern allein der Verbreitung der Mär, die „Ränder“ der Gesellschaft seien problematisch. Das man Menschen- und Bürgerrechte in der Regel GEGEN staatliche Institutionen erkämpfen musste, spielt keine Rolle. Der Staat und die Behörden gelten nicht als Instrumente zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen, die sich zudem ändern können. 
 
 
Ebenfalls hervorzuheben ist der Verweis auf die Verengung des Rahmens, den man von behördlicher Seite als nicht-extremistisch ansieht. So wird entgegen der Konzeption des Grundgesetzes, in dem mit voller Absicht keine Wirtschaftsordnung festgelegt ist, der antikapitalistische Kampf sehr oft als extremistisch und somit verfassungsfeindlich eingestuft. Staatliche Behörden sorgen damit aktiv für eine Auslegung des Grundgesetzes, welche die aktuelle Verfasstheit von Staat und Wirtschaft schützt – und nicht was verfassungsrechtlich im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichköglichkeiten läge. Das Grundgesetz schützt eben nicht zwangsläufig den Kapitalismus und auch nicht die Behördenstruktur der BRD, ebensowenig ist Demokratie an die aktuelle Verfasstheit der BRD geknüpft. Gerade in Anbetracht der aktuell laufenden Militarisierung der Polizei und der Befugniserweiterungen Richtung Autoritarismus steht man schnell als potentiell extremistisch dar, obwohl man sich eigentlich im Rahmen der Grundgesetzintention befindet und die eigenen Rechte gegen den Staat verteidigen will.
 
 
Weniger spannend sind Teile der Artikel bezüglich der Bildungspolitik und wie man mit dem Extremismusbegriff versucht, Linke oder den Kampf gegen rechts zu be- und verhindern. Dies liegt nicht daran, dass dies nicht wichtig wäre. Man kennt die Leier und die Taktik nur eben seit Jahren und eine Aufarbeitung dieser Mechanismen ist nicht sonderlich anregend, dafür aber bitter nötig, wenn man die aktuellen Debatten um das Programm „Demokratie fördern“ anschaut und die Diskreditierungsversuche von Seiten der AfD und anderen rechtsradikalen Akteuren im Kopf hat. Die Diskursanalyse zum NSU-Komplex und der Beitrag zum Thema Islam und Extremismuskonzeption lesen sich ebenfalls wie Füllwerk und liefern leider keine spannenden Erkenntnisse oder neue Blickwinkel auf diese Bereiche. Etwas deplatziert wirkt der Beitrag über Feminismus, was vor allem daran liegt, dass die Autorinnen es nicht wirklich schaffen, die Verbindung zum Thema des Buches deutlich zu machen. Man fragt sich oft, was das denn jetzt hier soll und wie das mit der Extremismustheorie zu tun hat. 
 

Probleme mit der Mitte

 
Allein wegen der Form fällt der Beitrag „Deutschlands Platz an der Antarktis“ aus dem Rahmen. Kontrastiert durch die Erzählung einer deutschen Antarktisexpidition kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs wird hier mit deutlichem Einschlag der kritischen Sozialpsychologie versucht, dem Mythos der guten Mitte die notwendige Kälte der bürgerlichen Vergesellschaftung in der Moderne gegenüberzustellen, welche sich exemplarisch am Holocaust zeigt. Hier fragt man sich auch die ganze Zeit, wie das alles in den Rahmen des Buches passen soll, wird dann aber kurz vor Schluss vollumfänglich abgeholt und man versteht, was das mit dem Mythos der Mitte zu tun haben soll. Die Entzauberung dieses Mythos fällt leider etwas ungenügend aus. Vollkommen richtig wird auf Antisemitismus als ein alle politischen Spektren durchdringendes Welterklärungskonstrukt verwiesen, allerdings hätten hier konkrete Namensnennungen nicht geschadet. Dabei liefert auch die „Mitte“ genügend Personen, um die Behauptung, Antisemitismus gäbe es nur an den „Rändern“, Lügen zu strafen. Personen wie Möllemann, Blüm oder Kohl gelten nicht als extremistisch, die Außenpolitik der Bundesregierung mit antisemitischen Regimen hat ebenfalls nichts mit einem linksradikalen Antizionismus zu tun und ist in der Mehrheitsgesellschaft zu verorten. 
 
 
Vielleicht krankt die Entzauberung der Mitte auch ein wenig daran, dass wichtige Aspekte schon in den vorangehenden Beiträgen aufgegriffen wurden. Hier hätte ein frischer Blick oder eine ungewohnte Perspektive sicher gut getan. Im Interview mit dem goldenen Hufeisen findet man dazu passende Ansätze: Insbesondere im amerikanischen Raum hat Zentrismus bzw. centrism eine relativ prominente Rolle innerhalb politischer Diskussionen, da hier seit 200 Jahren zwei Parteien das Land regieren. Der internationale Blick kann zudem die „Mitte“ in Perspektive rücken, da jedes Land eine andere politische Mitte hat und konkrete Gesetze und Konzepte anders verortet werden. Auch ist Mitte immer relativ, wenn man sich nur einmal vor Augen führt, was 1950 so als Mitte angesehen wurde und was heute im Kontrast dazu als selbstverständlich gilt. Mit Ansätzen dieser Art hätte man dem Mythos Mitte in ausgearbeiteten Beiträge sicher noch mehr Schaden zufügen können. So bleibt dieser Abschnitt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
 
 
Wie bereits zu Beginn deutlich gemacht, ist der Sammelband klar zu empfehlen, die Kritik findet hier auf einem hohen Niveau statt und man bekommt kompakt eine gute Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex und ausreichend Gründe genannt, warum man auf den Extremismusbegriff am Besten vollkommen verzichten sollte.

Die Novemberpogrome 1938 und notwendige Konsequenzen für den Aktivismus

Heute jährt sich die Reichspogromnacht, auch bekannt als Reichskristallnacht. Vor 81 Jahren gipfelte der Judenhass im Deutschen Reich in dem vorläufigen Höhepunkt der Novemberpogrome, welche sich vom 7. bis zum 13. November ereigneten. Hunderte Tote, 30.000 ins KZ Deportierte, tausende zerstörte Synagogen, jüdische Einrichtungen und Geschäfte – der Tod war ein Meister in Deutschland. Über die Details will ich mich an dieser Stelle aber gar nicht groß auslassen, dazu kann man sich mit wenigen Klicks genügend Informationen zusammensuchen. In den letzten Jahren sind hier auch eigene Beiträge zum 9. November erschienen und es braucht wirklich nicht noch einen weiteren Text, der sich ähnlich liest wie dutzende andere da draußen. Vor allem sollte so ein Text keine Pflicht sein, die man abarbeiten muss. Auch wenn man leider immer wieder in der Pflicht steht, sich gegen Antisemitismus zu positionieren.

In den letzten Jahren ist ein Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. Dieser liegt zum einen an einer verbesserten Meldestruktur. Organisationen wie RIAS, JFDA und das Register Berlin sind hier Beispiele für gute Arbeit, bei der Vorfälle dokumentiert und aufgeklärt werden. Von unserer Seite aus ein aufrichtiger Dank dafür. Durch eine verbesserte Meldestruktur werden mehr der Vorfälle erfasst, die es gibt, das Abbild wird realistischer. Zusätzlich nimmt aber auch die tatsächliche Quantität des Antisemitismus zu. Mit der AfD ist der klassische deutsche Antisemitismus wieder in die Parlamente eingezogen, sei es in Form von Geschichtsrevisionismus, Gedeon, jüdisch-bolschewistischer Weltverschwörung und antisemitischen Verschwörungstheorien. Auf den Straßen werden immer mehr als jüdisch angesehene Personen angegriffen. Der Jugendwiderstand will Neukölln davidsternfrei prügeln, die Angriffe im Prenzlauer Berg, in Chemnitz und auf das Restaurant Feinbergs machten international Schlagzeilen.

Als bekanntgegeben wurde, dass die USA ihre Botschaft nach Jerusalem verlegen, gab es Demonstrationen mit teilweise tausenden Antisemit*innen, einige radikale Linke wie Revo und der Jugendwiderstand marschierten Seite an Seite mit Islamist*innen auf. Auf Nazidemos wird wieder lautstark „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ gebrüllt. In der Linken sieht es zwar besser aus als vor 25 Jahren, vor allem der als Antizionismus gekleidete Antisemitismus ist immer noch stark vertreten. Auch international gibt es wenig Gutes zu berichten. Mit Jeremy Corbyn ist ein Antisemit Chef der britischen Labourpartei, in Frankreich verlassen immer mehr jüdische Personen das Land und in den USA gab es erst ein Massaker und dann eine Anschlagsserie.

Es ist notwendig, zu erkennen, dass Antisemitismus nicht der Vergangenheit angehört. Es ist kein Problem des 19. Jahrhunderts, wie es Gauland in einer Rede sagte. Im Gegenteil, der Antisemitismus ist virulent und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen quicklebendig. Die Gefahr für jüdische Personen ist immer vorhanden und man hat das Gefühl, es braucht nur den richtigen Anlass und der Judenhass bricht sich in einigen Bevölkerungsschichten wieder offen und unverhohlen Bahn. Es ist gut und richtig, an den schlimmsten Judenhass zu erinnern, an das unbeschreibliche Verbrechen, welches von breiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde. Aber der Antisemitismus ist 1945 nicht verschwunden. „Kauft nicht bei Juden!“ heißt heute BDS, man ist jetzt antizionistisch und Araber sind ja auch Semiten, also könne man gar kein Antisemit sein. Globalisten sind eine Gefahr und George Soros will ganze Nationen zersetzen, da ist man sich inzwischen weit über den rechten Verschwörungssumpf einig.

Es ist heute vergleichsweise einfach, am 9. November der Opfer zu gedenken und die Erinnerung ist ein wichtiger Bestandteil antifaschistischer Praxis. Nach dem Krieg war das anders, vor allem die westdeutsche Bevölkerung übte sich in Verdrängung und Selbstmitleid. Hitler war ja schlimm und man mochte die Nazis trotz Perteibuch ja nie so wirklich, aber wenigstens war man selbst anständig geblieben. Als die Jüdiinen und Juden zum Deportationsbahnhof getrieben wurden, hat man immer die Fenster geschlossen, man wollte ja schließlich nicht gaffen. Heute ist die Erinnerungskultur zum Glück fest verankert, auch wenn Rechte immer wieder provozieren und die AfD sie staatlich abschwächen will. Nur das Erinnern fällt einfach, den Kampf gegen den Antisemitismus selber zu führen, umso schwerer. Vor allem wenn man konsequent ist und sich eingestehen muss, dass sowohl Familie, Bekannte als bedeutende Teile der radikalen Linken antisemitische Positionen vertreten.

Aber die Zeiten sind andere als 1938. Mit der Mahnung von Auschwitz im Hinterkopf gibt es inzwischen viel mehr Leute, die bereit sind, sich mit ihrem eigenen Leben gegen Antisemitismus zu stellen und das Leben von Jüdinnen und Juden mit ihrem eigenen zu verteidigen. Da das Schlimmstmögliche bereits geschehen ist, hat sich die Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen kann, erübrigt. Und eine Sache habe ich im Laufe der Jahre gelernt: Die Jüdinnen und Juden haben inzwischen ihren Selbstschutz organisiert. Freund*innen, die von der Linken in Berlin und ihrer Unfähigkeit, sich dem Antisemitismus in den eigenen Reihen entgegenzustellen, völlig desillusioniert sind, haben immer noch einen Notfallplan in Hinterhand: Israel. Konnte man früher einer Bedrohung nichts entgegensetzen und war auf andere Staaten angewiesen (wie das funktioniert wissen wir alle), ist man inzwischen in der Lage, jüdische Personen zu schützen. Die beste Absicherung gegen einen zweiten Holocaust ist und bleibt dieser Schutzraum. Denn eines hat man im Laufe der Jahrhunderte gelernt: Auf Andere kann man sich nicht verlassen. So unangenehm dieses Eingeständnis ist, der Schutzraum Israel ist die letzte Verteidigungslinie gegen Vernichtungsantisemitismus. Und nicht die radikale Linke. Genau dieser Umstand sollte uns allen Mahnung und Antrieb sein.

Der Satz, der mir am meisten zu denken gegeben hat, ist folgender: „Für dich würde ich eine Woche vor der Gesa stehen, aber auf die Linke kann ich mich nicht verlassen wenn es alles den Bach runtergeht.“ Lasst uns alle daran arbeiten, dass dieser Satz seine Gültigkeit verliert.

Laura Stern

Extinction Rebellion – Kritik Teil 2

Der folgende Text soll an den ersten von Erich zu Extinction Rebellion anschließen (https://www.facebook.com/antifakampfausbildung/photos/a.937275142984982/2498384816873999/?type=3&theater) und ist als Antwort auf diese beiden zu verstehen:

 

1. Extinction Rebellion – eine Massenbewegung?

 

ExtinctionRebellion ist eine Massenbewegung und als solche offen für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft bis weit nach links. Ja, wir sind eine bürgerliche Klimabewegung. Das bestimmt unsere strategischen Entscheidungen, wie z.B. die strikte Gewaltfreiheit.“

Eine Massenbewegung gilt als eine besondere Form der sozialen Bewegung. Ein kollektiver Akteur, in dem sich konstitutive Organisationsstrukturen, Aktionsformen und –strategien subsumieren. Ziel einer solchen ist es, tief greifend die öffentliche Meinung einer Gesellschaft zu prägen, politisch richtungsweisend zu sein und so einen gesellschaftlichen Wandel zu initiieren.

Von Extinction Rebellion gibt es zwar weltweit Ableger und diese erlangen auch mediale Aufmerksamkeit, doch war es nicht XR, die einen oben genannten gesellschaftlichen Wandel im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz angestoßen hat.

Linksradikalen Projekten wie z. B. den Protesten um den Hambacher Wald oder den Aktionen von Ende Gelände kommt diesbezüglich in Deutschland eine zentrale Bedeutung zu. Über 50000 Menschen, zu weiten Teilen aus dem bürgerlichen Spektrum, aus dem XR nach eigener Aussage AnhängerInnen rekrutieren möchte, fanden sich im Oktober 2018 im Hambacher Forst ein. Schon zuvor gab es große Demos im Hambi bzw. Räumungsversuche und entsprechende Gegenwehr, die große mediale Aufmerksamkeit erzielt haben. Die Waldspaziergänge waren regelmäßig von vierstelligen, z. T. fünfstelligen TeilnehmerInnenzahlen besucht. Begegnungen zwischen den BesetzerInnen innerhalb und außerhalb der radikalen Linken wurden geschaffen. Begegnungen mit AkteurInnen, die mittels unterschiedlicher Aktionsformen für ihre Interessen eintraten. Und auch Aktionsformen, die man für sich selbst nicht wählte, wurden zumindest bei anderen toleriert anstatt deren Beteiligung abzulehnen und die Solidarität zu verweigern. Der Hambacher Wald ist zwar immer noch gefährdet, doch ein Rodungsstopp wurde erwirkt und mediale Aufmerksamkeit generiert – angestoßen durch ein paar Einzelpersonen, die in den Bäumen wohnen und dies geschafft haben, ohne sich bei den Staatsbütteln anzubiedern. Die AktivistInnen positionieren sich zudem klar antikapitalistisch und antifaschistisch.

Die radikalen Aktionen des Bündnisses Ende Gelände, die regelmäßig an verschiedenen Orten stattfinden, in den letzten Jahren einmal jährlich im rheinischen Braunkohlerevier, haben auch eine mediale Wirkmacht entfaltet, indem diese letztlich dazu beigetragen haben, dass sich eine Kohlekommission endlich mal konkret mit dem Kohleausstieg in Deutschland befasst. Zwar ist das Ergebnis noch ausbaufähig, aber es wurden erste Schritte gegangen – auch ohne Copkuschelei. Das Thema Klimawandel in Verbindung mit dem Kohleausstieg wurde in sämtliche Medien gebracht. Bei der diesjährigen Aktion im Juni hatte die am gleichen Tag wie die Massenaktion stattfindende Fridays For Future – Demo den Vorstoß in die Grube für die AktivistInnen von Ende Gelände unterstützt, indem sie eine Demoroute wählte, die partiell nahe der Abbruchkante lag. Fridays For Future – sicher (noch) nicht in weiten Teilen als linksradikal zu bezeichnen – solidarisierte sich ebenfalls und zeigte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten kooperativ mit einem linksradikalen Bündnis.

Im März 2019 verfassten diverse linksradikale Gruppierungen, Bündnisse und Initiativen aus Großbritannien und Deutschland einen offenen Brief an Extinction Rebellion, in dem sie eine weitreichendere Positionierung einforderten. (1) XR sollte insbesondere antikapitalistische und soziale Lösungen wie beispielsweise kostenlosen ÖPNV und kostenloses Wohnen einfordern, die wirtschaftliche Instanzen verstärkt für ihre Handlungen haftbar machen, z. B. einen Schuldenerlass für wirtschaftlich schwächere Länder, deren prekäre wirtschaftliche Situation auf die Ausnutzung von Großbritannien zurückzuführen sei. Am 10. Oktober bekräftigen die Gruppen in einem weiteren offenen Brief ihre Forderungen, weil eine Antwort von XR ausblieb. (5)

Extinction Rebellion ist auf maximales Wachstum ausgerichtet (wodurch genau das Wachstum erreicht werden soll, dazu mehr unter Punkt 3 und 4), eben darauf, Massen zu mobilisieren. Die Klimaproblematik ist zum einen jedoch längst in der Gesellschaft angekommen, zum anderen ist XR ziellos und mobilisiert AnhängerInnen für nichts Konkretes. Ist XR also eine Massenbewegung? XR könnte darin erfolgreich sein, Massen zu mobilisieren, doch sie initiiert keinen gesellschaftlichen und politischen Wandel, da dies bereits passiert ist (mag er aus linksradikaler Sicht bisher auch noch nicht konsequent genug vollzogen sein) und kann dies ohne Forderungen und Analyse auch gar nicht leisten. Aus diesem Grund ist XR erst einmal redundant. Selbst die geforderten und zum Teil auch durchgeführten BürgerInnenversammlungen führen nicht dazu, dass von XR-Gruppen weitergehende Forderungen gestellt werden. So sehr sich XR in Teilen auch als Initialzündung verkaufen will, so sehr ist diese Bewegung doch nur ein Symptom der Zeit.

 
 

2. Rechts? Links? Uns doch egal.

 

Wir sind offen für alle. Das Risiko des Einflusses rechter Ideologeme dabei ist gleichzeitig auch die Chance für einen stabilen linken Konsens. Es hängt eben daran, wer mitmacht.  …  Wer nicht da ist, fehlt.“

XR will für alle zugänglich sein „bis weit nach links“ – offensichtlich auch bis weit nach rechts. Perfiderweise wird in der obigen Aussage auch gleich noch Linken die Schuld gegeben, sollten Rechte bei XR das Ruder übernehmen. Ganz so, als könnte man von sich aus gar nichts dagegen machen. Aber XR selber äußert sich im XR-Handbuch ganz offen zum Thema Querfront:

„We need everyone to unite – from the left, the right, and every shade in between, and especially young people, many of whom are too disillusioned to vote or are excluded because they are only 16.“ (3)

„But we can’t get there if we work in silos and factions. We need a ‘movement of movements’ to model the unity and urgency we need right now.“ (3)

„Fourth, as we contemplate endings, our thoughts turn towards reconciliation: with our mistakes, with death and, some would add, with God. We can also seek to be part of reconciliations between peoples with different political persuasions, religions, nations, genders, classes and generations. Without this inner deep adaptation to climate collapse, we risk tearing societies apart.“ (4)

Damit hat man im zentralen Textdokument der Bewegung klargemacht, dass man hier eine spektrenübergreifende Einheitsfront schaffen will, unabhängig der politischen Ausrichtung. Auch an anderen Stellen im Handbuch lassen sich dahingehende Aussagen finden. Man will ganz unmissverständlich keine strikte Abgrenzung gegen Rechte vollziehen und gleichzeitig alle Personen in einen Diskurs über die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft einbinden. Richtlinien gegen bestimmte Ansichten gibt es nicht und somit auch keine wirkliche Handhabe gegen Personen, die menschenverachtende Ideologien vertreten. Dies variiert allerdings von Gruppe zu Gruppe, dazu später mehr. Ein Blick in die Tierrechts- und Veganismusszene zeigt, wohin so etwas führen kann. Rassismus, Antisemitismus, Querfront und Menschenverachtung werden dort in weiten Teilen geduldet, geteilt und gefördert. Auch in Berlin zeigten sich während der Protestwoche im Oktober erste Resultate dieser angekündigten Querfront. Am Potsdamer Platz gab es „Heimatschutz“-Rufe aus der Blockade raus, was spätestens seit dem NPD-Slogan „Umweltschutz = Heimatschutz“ rechtsradikal besetzt ist. Auch ein Ex-NPDler und Bärgida-Demonstrant wurde gesichtet, ohne das er entschieden herausgedrängt wurde. (5) Der Teilnahme einer einzigen Person sollte man nicht übermäßige Bedeutung beimessen, allerdings gehören solche Vorfälle dokumentiert und den Verantwortlichen zur Kenntnis gebracht. Reaktionen darauf und mögliche weitere Vorfälle dieser Art liefern dann nach einer gewissen Zeit ein Gesamtbild ab, ob es sich um eine reale Querfront handelt und wie rechtsoffen XR dann tatsächlich ist.

XR hat auch nicht das geringste Interesse daran, sich gegen Nazis zu positionieren, nicht mal dann, wenn unmittelbar neben dem Camp eine rechte Veranstaltung von „Merkel-muss-weg“ stattfindet, die XR-Orga explizit darauf hingewiesen wird und darauf entgegnet, man sie würde zu „keinen anderen Aktionen aufrufen“. Da lässt man die Faschos lieber in Ruhe. Nicht, dass man sich aus Versehen noch zu weit links positioniert und dann nicht mehr „offen für alle“ sein könnte. (6)

 

3. Ideologische Schnittmengen mit rechtsradikalen Ideologien 

 

Die Abgrenzung zu allerlei Kackscheiße ist im Prinzip 6 formuliert. D.h. ganz klar: Rassisten u.ä. sind bei uns nicht willkommen, weil sie andere ausgrenzen und angreifen.“

Für eine gelungene Imagekonstruktion ein paar Sätze als Prinzip zusammenzufassen, reicht nicht, um sich von Rechten abzugrenzen. Eine Distanzierung darf sich nicht nur auf die Ablehnung rechter TeilnehmerInnen bei Veranstaltungen beschränken, sondern sollte das gesamte Selbstverständnis durchdringen. XR ist jedoch eine Struktur, die es geradezu anbietet, sie zu unterwandern, weil sie nur subtil und halbherzig das betreibt, was sie Abgrenzung nennt und stattdessen von namhaften Personen der Organisation, wie z. B. dem Co – Gründer Roger Hallam, in Bezug auf den Aktivismus seiner AnhängerInnen Äußerungen getätigt werden, die offen zur Querfront aufrufen. Wie bereits nachgewiesen, passiert dies auch im Handbuch von XR. Aber nicht nur personell, auch ideologisch gibt es bei XR programmatisch festgelegte Punkte, die die Bewegung für Rechte, insbesondere solche mit faschistischer Ideologie, attraktiv machen. Wichtig ist hierbei, dass es sich bei XR nicht um eine von sich aus rechtsradikale Bewegung handelt. Es geht hierbei um einige ideologische Schnittstellen, die die Bewegung für eine bestimmte Klientel interessant machen und dann mittel- bis langfristig durch die mangelnden Abgrenzungsmechanismen einen spürbaren Rechtsrutsch in einigen Gruppen und letztendlich der ganzen Bewegung verursachen können.

XR ist von Beginn auf einen maximalen Bewegungsfokus hin konzipiert worden. Vor dem Hintergrund, möglichst schnell wachsen zu wollen, wird betont, dass eine umfassende Analyse nicht notwendig sei. Ziel ist die Bewegung um der Bewegung willen. Dies wird mitunter als das Wichtigste bezeichnet. Eine mit wenigen bis gar keinen konkreten Inhalten versehene Bewegung um der Bewegung willen ist nicht neu. Im Gegenteil, dieser auf maximale Massenbewegung ausgelegte Charakter eines politischen Aktivismus, der das Alte hinwegfegen sollte, stellt eines der ideologischen Grundelemente des Faschismus dar. Genauer ausgeführt wird das unter anderem in Zveev Sternhells „Faschistische Ideologie“ (7), die Attraktivität des Faschismus lag aber unter anderem in seinem unbedingten Willen zum Handeln begründet. Aktion und Handeln werden der Analyse vorgezogen. Verdeutlicht wird dies gut durch die Worte Roger Hallems:

„To act and then come back and act again.
Again and again and again
Every day
Nothing is more important now than this
Nothing will be more important from now on“ (8)

Ebenfalls zentral in der von XR vertretenen Ideologie ist der Fatalismus, die apokalyptische Sicht auf die Welt und die Zukunft. XR propagiert Szenarien für die nahe Zukunft, die nicht wissenschaftlich fundiert sind und zum Beispiel den Zusammenbruch vieler Gesellschaften innerhalb der nächsten zehn Jahre vorhersagt. Dazu ein paar Zitate aus dem Handbuch:

„It’s only recently that voices such as that of British broadcaster Sir David Attenborough have talked of the collapse of civilizations and societies, or what food insecurity will mean for us, and for generations to come. In February 2019, Extinction Rebellion’s Roger Hallam put it bluntly: ‘War, mass mental breakdown, mass torture, mass rape.’“ (9)

„It is time to prepare, both emotionally and practically, for a disaster.“ (10)

„We should be preparing for a social collapse. By that I mean an uneven ending of our normal modes of sustenance, security, pleasure, identity, meaning and hope.“ (11)

„My guess is that, within ten years from now, a social collapse of some form will have occurred in the majority of countries around the world.“ (11)

Mehrfach spricht XR zudem davon, dass Milliarden Menschen sterben werden. Weder wird dafür ein konkreter Zeitraum genannt, noch stützen sich diese Zahlen auf seriöse Studien und Prognosen. XR selber argumentiert jedoch selten über das Jahr 2100 hinaus, in der Regel wird das Zeitfenster bis 2050 in den Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen genannt. Wie genau man auf Milliarden Tote durch den Klimawandel innerhalb dieses Zeitfensters kommen will, wird nirgends ausgeführt und nachprüfbar aufgeschlüsselt. Stattdessen werden Szenarien aufgemacht, dass wir nur wenige Jahre haben, um den Untergang und die größtmögliche Katastrophe abzuwenden. Hier muss ganz klar unterschieden werden: Durch den Klimawandel gibt es die Möglichkeit, dass in 200 Jahren keine oder nur sehr wenige Menschen leben werden und sehr viele Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind. Darauf wird seit Jahrzehnten hingewiesen und XR liegt richtig damit, dass es bisher effektiv keine allumfassende Anstrengung gegeben hat, diese Möglichkeit zu bekämpfen. In der Art und Weise, wie XR dies allerdings propagiert, entbiert es zum einen bei aller gegebener Dringlichkeit der wissenschaftlichen Basis, zum anderen wird der Fatalismus der schrecklichen Zukunft als Gewissheit ins Zentrum des Denkens gestellt. Insebsondere Letzteres ist wissenschaftlich kein Konsens. Die fehlende Grundlage für diese Aussagen und Annahmen wird exemplarisch in einem Interview der BBC deutlich. Andrew Neil konfrontiert die XR-Aktivistin Zion Lights mit der Diskrepanz von XRs Angaben und der wissenschaftlichen Basis der Grundlagen, worauf Lights keine wirklichen Antworten liefern kann. Nachzusehen ist das Interview hier: https://www.youtube.com/watch?v=H3kJwQBZOkM. Auch im Podcast Aufhebunga Bunga wird der Alarmismus XRs dem wissenschaftlichen Diskurs kritisch gegenüber gestellt, Interessierte können sich den Podcast hier anhören: https://aufhebungabunga.podbean.com/e/91-exhaustion-revealing-ft-leigh-phillips/

Der Fatalismus, der drohende Untergang und der Zerfall des guten Alten sind ebenso wie der Fokus auf den Bewegungscharakter um der Bewegung willen zentral im faschistischen Denken. Hier geht freilich nicht die Erde unter. Es sind Volk, Nation, Kultur, Familie und weitere anachronistische Modelle und Konzepte, die kurz vor dem Untergang stehen. Das deutsche Volk ist schon seit 200 Jahren ganz unmittelbar kurz vor seiner endgültigen Auslöschung und jedes Jahr taucht irgendwo irgendein Rechtsradikaler auf und verkündet den Untergang innerhalb der nächsten Jahre, wenn man nicht jetzt sofort mit radikalsten Mitteln das Ruder rumreiße und das fast schon sichere Ende durch eine nationale Wiedergeburt abwende. Man kennt die Leier, man sollte aber auch die Parallelen zu der Art und Weise erkennen, wie XR die planetare Apokalypse propagiert. Das Abwenden des drohenden Untergangs ist in beiden Ideologien vorhanden und ein zentrales Moment. Hier besteht die Gefahr eines Andockens Rechtsradikaler an XR durch inhaltliche Gemeinsamkeiten, insbesondere wenn Rechte ihre klassischen Thematiken einer Art Greenwashing unterziehen und sprachlich modifizieren.

Hinzu kommt hier ein heutzutage nicht weithin bekannter Umstand, und zwar der der rechtsradikalen Ursprünge ökologischer und ökoesoterischer Bewegungen. Im Zuge der 100 Jahre Waldorfschule kam auch ein wenig das Schlaglicht auf dessen rassistische Lehre. Aber auch die Lebensreformbewegung, FKK und der Naturschutz haben Vorläufer und Anfänge im rechtsradikalen Denken, welche Teilweise bis in die Gegenaufklärung Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. (12) Die ideengeschichtliche Traditionslinie ist nicht sehr stark und die einflussreichsten ökologischen Organisationen in Europa sind nicht dem rechten Spektrum zuzuordnen. Wie aber bereits angedeutet, gibt es über die Tierrechts-, Veganismus- und Antispeziesismusszene eine breit aufgestellte Querfront mit teils stark esoterischen Einflüssen, in der sich auch Rechtsradikale relativ kritikfrei tummeln. (13) Sollte die radikale Rechte das Thema Klimawandel für sich entdecken und nicht wie die prominenten Beispiele AfD und Donald Trump ignorieren, ist eine Orga wie XR schlecht aufgestellt, diesem ideologischen Input etwas entgegenzusetzen bzw. sich effektiv abzugrenzen.

In Großbritannien wurde XR bereits Rassismus vorgeworfen, weil die AktivistInnen bei einer ihrer Protestveranstaltungen im April in London die Polizei aufgefordert haben, sich anstatt um sie als friedliche Protestierende, lieber um die „Messerkriminalität“, ein klar rassistisches Narrativ, zu kümmern. (14) Auch „Farhana Yamin von XR in England sagt zum Beispiel, auch Rechte seien bei XR willkommen. Hallam redet davon, dass auch rassistische und sexistische Menschen mitarbeiten können.“ (15)

 

4. Emotionalisierung und Opferpflicht

 

Starten wir diesen Absatz mit einem Zitat von Roger Hallam: „I think there is some generality in the idea that going to prison is a deeply emotional and spiritual experience because it exposes you to a different side of life and what it means to sacrifice yourself to a greater cause, and that is a powerful experience.“ (16) Knast als tiefe spirituelle Erfahrung? Opfer für eine größere Sache? Wer zuvor noch der Ansicht war, XR in die Nähe einer Sekte zu rücken, sei unverhältnismäßig, falsch oder gar bewusst diskreditierend, sollte jetzt eines Besseren belehrt worden sein. Dass AktivistInnen in den Knast gehen, wird nicht nur billigend in Kauf genommen. Es ist gewollt. Roger Hallam möchte so viele von ihnen wie möglich als MärtyrerInnen dort sehen, denn das ist die Taktik, die XR nutzt, um zu wachsen. Das ist auch der Grund, warum angsteinflößende Inhalte und Hoffnungslosigkeit vermittelt werden, denn die Menschen sollen aus Verzweiflung heraus agieren. So sagt es Hallam: „People go out and act because they’re desperate or outraged, and through the sacrifice of their transgressive action—the visual optics and the emotionality of it—other people are inspired to join in. For instance, after our action in April, and the 1,200 arrests, some 50,000 people joined Extinction Rebellion in the U.K. in three weeks. There’s no mobilization strategy that enables you to double in size in three weeks other than mass sacrificial action though breaking the law and getting dragged off. Social change is basically an emotional process. It’s not a cognitive process.“ (17) Auch das zeigt sich im Handbuch von XR immer wieder, wenn von „Widerstand durch Angst“ oder „Die Hoffnung stirbt“ die Rede ist. So sollen bei einem XR-Protest in GB junge DemonstrantInnen geweint haben, weil sie dachte, die gesamte Menschheit stirbt in den nächsten zehn Jahren. (18)

Auch in der Broschüre nimmt das Erspüren und Erfahren des Untergangs und der hilflosen Verzweiflung großen Raum ein:

Wir brauchen eine neue Sensibilität. Verlangt ist nämlich, dass wir die Katastrophe fühlen. Nur wer die Katastrophe fühlt, vermag sie zu erkennen. Das Problem ist jedoch, dass unser Fühlen mit der tödlichen Bedrohung nicht Schritt halten kann.“ (19)

Diese Sätze entstammen keinem Esoterik-Seminar, sondern der bereits erwähnten Broschüre von XR. Gefühle scheinen eine übergeordnete Funktion einzunehmen. Aus obiger Aussage, im Umkehrschluss betrachtet, ergibt sich die Logik, dass jemand, der nicht „die Katastrophe fühlt“, als TeilnehmerIn der öffentlichen Meinungsbildung exkludiert wird. Angesichts dessen, dass so oft von Gefühlen die Rede ist, diese in öffentlichen Massenmeditationen ausgedrückt und sogar als notwendige Bedingung für den Aktivismus vorausgesetzt werden, wird der Eindruck suggeriert, dass ausschließlich sie die Debatte und den Aktivismus bei XR bestimmen und dies auch so gewollt ist. Der Eindruck wird v. a. dadurch verstärkt, dass Argumente und Analysen wenig vorhanden sind. Gefühl ersetzt Argumentation. Emotionalität ersetzt Rationalität – und das im sogenannten postfaktischen Zeitalter in einer Welt voller gefühlter Wahrheiten. Insgesamt liest sich das Buch eher wie ein esoterischer Ratgeber. So wird auf der Hälfte von S. 30 über das Sterben sinniert, auf S. 36ff gibt es einen kleinen Exkurs zu Gandhi und Identität, in dem „Opferpflicht“ eine zentrale Bedingung ist, um den Kampf gegen den Klimawandel, wie er XR vorschwebt, anzuschließen. Auf S. 40f wird dies konkretisiert: „Gandhi vertrat die Ansicht, es sei immer der Drang nach Leben als Grundform des Eigeninteresses, der zu Gewalt und zum Tod anderer führe. Opferpflicht hingegen schütze Leben, eben weil sie es ignoriert.“ Gandhi  als Vorbild zeigt auch von einem mangelnden Verständnis dieser Person. Einen Rassisten, Antisemiten, Sexisten und jemand, der Hitler einen Freund nannte, als Leitfigur auszuwählen, ist für XR kein Problem. So scheint das sinnvolles Handeln von XR nur „möglich, wenn sie außerhalb der staatlichen Rhetorik von Rechten und Interessen die Rolle der Pflicht und des Opfers im gesellschaftlichen Leben ausweitet.“ (20) Auf Gandhi beruft XR nicht nur in Sachen Opferbereitschaft, er wird auch als Vorbild in Sachen gewaltfreier Widerstand immer wieder genannt. Warum man gerade auf Gandhi bei diesen Themen nicht hören sollte, verdeutlichen folgende Zitate:

„Hitler hat fünf Millionen Juden umgebracht. Er ist der größte Kriminelle unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich der Gefahr ausliefern müssen. Sie hätten sich von allein ins Meer stürzen sollen, von einem Felsen runter… Das hätte die ganze Welt gegen das deutsche Volk aufgebracht… So sind – in jedem Fall – Millionen von ihnen zu Tode gekommen.“ (21)

„Ich halte Euch an, den Nazismus ohne Waffen zu bekämpfen. Oder um mich auf die Militärsprache zu beziehen: mit gewaltfreien Waffen. Legt die Waffen, die ihr tragt, nieder und laßt Euch davon überzeugen, daß Ihr selbst auf diese Art und Weise die Menschheit nicht retten könnt. Ladet Hitler und Mussolini ein, alles von Eurer schönen Insel zu nehmen, alles was immer sie wollen, alles Schöne und Großartige, was Eure Insel hergibt. Gebt ihnen das alles. Aber gebt Ihnen nie Eure Herzen und Eure Sinne. Wenn sie Eure Häuser besetzen wollen, verlaßt ihr die Häuser von alleine. Wenn sie Euch nicht rauslassen wollen, laßt Euch lieber zusammen mit Euren Freunden und Kindern umbringen, als Euch ihnen zu unterwerfen.“ (22)

Was will XR jetzt von Gandhi lernen? Sich per Massensuizid ins Meer stürzen, um so den Klimawandel zu stoppen und die ganze Welt aufzurütteln? Sich selbst gegen den schlimmsten Menschenfeind nicht zur Wehr setzen? Im Angesicht der härtesten Verbrechen keinen Finger zu krümmen, um auch ja friedlich zu bleiben? Machen wir es kurz: Wer Gandhi unkritisch als Vorbild in Sachen Protest nimmt, ist schlichtweg verantwortungslos und potentiell gefährlich für AktivistInnen. Auch das offizielle Handbuch liefert aussagekräftiges Material zum Thema Erfühlen des Untergangs:

„To come into knowing is to come into sorrow. A sorrow that arrives as a thud, deadening and fearful.

Sorrow is hard to bear. With sorrow comes grief and loss. Not easy feelings. Nor is guilt, nor fury, nor despair.

Climate sorrow, if I can call it that, opens up into wretched states of mind and heart. We can find it unbearable. Without even meaning to repress or split off our feelings, we do so. I am doing so now as I write. Staying with such feelings can be bruising and can make us feel helpless and despairing. It is hard, very hard, to stay with, and yet there is value in this if we can create contexts for doing so.

The feminist movement taught us that speaking with one another allows truths to enter in and be held together. In creating spaces to talk, we transformed our isolation and, although we have not focused our energy on issues of extinction, we need to do so now. We need to take that practice, to create spaces in which we can share how difficult this hurt is and how to deal with our despair and rage.“ (23)

Opferbereitschaft, gar Opferpflicht nehmen bei XR eine große Bedeutung ein. Der Begriff des Opfers, gar einer bedingungslosen Opferpflicht weckt keine Assoziationen an Klimaaktivimus, sondern eher mit der Selbstaufopferung für einen Gott oder ein Gesellschafts- und Politikkonstrukt, bei dem jenes in seiner Bedeutung priorisiert und dessen Interesse denen des Individuums rücksichtslos übergeordnet ist.

Neben dem offiziellen Handbuch „This is not a drill“, aus dem die meisten hier angeführten englischen Zitate stammen, gibt es ein von Extinction Rebellion Hannover herausgegebenes Buch namens „Hope Dies – Action Begins“. Diese Broschüre beginnt mit den Worten: „Dieses Buch ist ein XR-Buch! – Dieses Buch ist kein XR-Buch! In diesem Buch kommen vorwiegend XR-Aktivist*innen zu Wort, die XR-Forderungen, XR-Prinzipien & Werte und XR-Aktionen aus ihrer je eigenen Sichtweise deuten. Es ist also kein XR-Buch!“ (24) Natürlich ist es ein XR-Buch. Die Prinzipien von XR werden genannt und erläutert. Herausgegeben wurde das Buch von der Aktionsgruppe Hannover und natürlich hat diese als Herausgeberin Einfluss auf die Inhalte. Entsprechend muss sie sich die AutorInnenwahl und Zusammenstellung der Zitate zuschreiben lassen. Es können nicht einerseits Prinzipien und Ziele unter dem Gruppennamen publiziert werden und dann will die Gruppe damit nichts zu tun haben. Die Inhalte dieses Buches muss XR sich entsprechend zuschreiben lassen.

XR sieht sich und die Welt in einem Kriegszustand, „in einem Krieg gegen das Klima“, deshalb bleibe „schlicht keine Zeit mehr, demokratische Prozesse abzuwarten“ so Christina Marchand, XR-Aktivistin aus der Schweiz. (25) Extinction Rebellion propagiert zwar permanent Gewaltfreiheit, dafür werden jedoch in der Broschüre der Gruppe mit dem Titel „Wann wenn nicht wir*“ die Kernprinzipien der Gruppe in einer sehr martialischen Rhetorik ausgedrückt. Die „Ökonomie als Krieg gegen den Planeten“ ist es, die drastische Handlungsmaßnahmen erforderlich macht und der Opferpflicht zu einer der am höchsten priorisierten Handlungsmaximen macht. So soll man nicht vor „der heiligen Pflicht“ zurückschrecken, sich „körperlich in die Schusslinie zu begeben“ (26) Diese Rhetorik suggeriert, sogar den Tod, mindestens aber körperliche Verletzungen in Kauf zu nehmen.

Im XR-Handbuch steht zum Thema Opferbereitschaft: „Standing up for something infinitely bigger and more important than you. This is the self-sacrificial idea of arrest at the core of Extinction Rebellion’s strategy, and it gives you strength from within. Ancient values are overtly resurrected in this Easter rebellion in London: the values of chivalry and honour, faith in life and being in service to Our Lady, Notre Dame, Mother Earth, the mother on whom everything else depends. Everything. As both Notre Dames were burning.“ (27)

Der Pariser Ableger von XR nahm diese Handlungsanweisungen sehr ernst und zeigte sich bereit, diese wörtlich zu nehmen. Bei einer Demo am 12.10.2019 wurde ein Teil der DemonstrantInnen von der Polizei eingekesselt. Um den Kessel aufzulösen, drohten sie mit einem Sprung von der Brücke Pont de la Concorde in die Seine. Vielleicht wäre ein Sprung von der Brücke tödlich, vielleicht auch nicht. Sicher würde er Verletzungen nach sich ziehen, die u. U. irreparabel wären. (28) Ebenso  erklomm am 13.10.2019 ein XR-Aktivist die Spitze vom Louvre, als er ungesichert die Glaspyramide hochkletterte. (29)

Das Heroentum macht XR attraktiv in der postheroischen, pluralistischen Spaßgesellschaft, in der es vielen Menschen schwer fällt, ihrer Existenz einen Sinn zu geben. Man setzt seine Existenz für eine gemeinsame Sache ein, ist Teil einer großen Ganzen, hat ein gemeinsames Ziel, das verbindet. Heroentum und Opferbereitschaft sind reziprok zueinander, denn nur, wer bereit ist, Opfer zu bringen, kann zum/zur HeldIn werden, kann Bilder generieren, Bilder von Massenprotesten, Massenverhaftungen, vielleicht einem Massensuizid beim Sprung in den Fluss oder das ungesicherte Klettern in großen Höhen.

Bei XR und der Polizei als Gegenspieler, der sie zweifellos ist, wenn sie in der direkten Konfrontation bei Veranstaltungen auf der Straße das staatliche Gewaltmonopol durchsetzt, mag XR auch noch so oft beteuern, die Staatsmacht als Verbündeten zu sehen, verfügt eben über Befugnisse, denen den DemonstrantInnen gesetzlich nicht zustehen. Die vorliegende Asymmetrie an Befugnissen und Kompetenzen wird mittels Opferbereitschaft kompensiert. Diese ermöglicht XR „Maßnahmen“, wenn man so will, die die Polizei nicht hat. Die Bindekraft ethischer Normen und rechtlicher Regeln ist an symmetrische Konstellationen gebunden. Schwinden diese, löst sich die Bereitschaft zu Regel- und Normkonformität auf.

Einschub: Europäische Länder des Nordens, besonders Deutschland, haben nach zwei Weltkriegen postheroische Gesellschaften herausgebildet. Terrorismus stellt heute eine der größten Herausforderungen postheroischer Gesellschaften dar. Ein Mittel, mit dem AnhängerInnen terroristischer Gruppierungen arbeiten, ist die Selbstopferung, das Maximum, das jemand in einer heroischen Gemeinschaft von sich geben kann. (30)

Natürlich könnte man jetzt sagen, XR ist noch eine sehr junge Organisation. Welche Entwicklungen sie konkret durchläuft, sei noch nicht vollständig abzusehen. Die genannten Punkte sind jedoch so stark ausgeprägt und bilden die Grundsätze von XR, dass darauf zwangsläufig eine breite Querfront folgen muss.

 

 

5. Tiefenökologie und Ökoesoterik

 

„Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische.“

Der Fokus auf Fatalismus und Emotionalität kommt nicht von ungefähr. Von Beginn an durchziehen Veröffentlichungen von Extinction Rebellion esoterische Formulierungen und im Laufe der Recherche drängte sich immer weiter der Verdacht auf, dass XR auf tiefenökologischen Prinzipien fußt. Mehrfach wurden Workshops für Tiefenökologie angeboten (31) und es existieren in mehr oder weniger allen lokalen Ablegern Chatgruppen mit ökoesoterischem Fokus. Zur Verdeutlichung hier die Kurzbeschreibung der Seite www.tiefenoekologie.de:

„Den Herausforderungen dieser Zeit, wie Klimaveränderung, Artensterben, weltweite Ungerechtigkeit, Kriege, Hunger etc. fühlen sich zunehmend viele Menschen nicht gewachsen und reagieren mit Ohnmacht oder sich überfordernden Aktivismus. Tiefenökologie bietet einen Raum, diese Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu benennen, zu spüren und die Erfahrung zu machen, dass Du daran nicht zerbrichst, sondern Kraft gewinnst. Das Wichtigste an dieser Arbeit ist, dass unser Wissen erfahrbar wird, Herz und Verstand in Verbindung sind und wir so zum Handeln kommen, aus uns selbst heraus, mit einem neuen Bewusstsein, dem Bewusstsein für das Ganze! Das lässt uns die Verantwortung übernehmen, für uns selbst und für das, was in der Welt geschieht. Tiefenökologie kann von der Ohnmacht zum Handeln führen. Durch Übungen und ebenso durch kognitive Inhalte der Zusammenhänge wird dieser Prozess erfahrbar.“

Bei Tiefenökologie handelt es sich entgegen der Namensimplikation nicht um eine wissenschaftlich fundierte Methodik. Tiefenökologie ist dem Bereich der Esoterik zuzordnen, also dem Bereich der spirituellen Religionsideologien. So sehr man sich nach außen hin immer wieder auf die Wissenschaft beruft und auf sie verweist, so wenig hat Tiefenökologie mit Wissenschaftlichkeit zu tun – so wie sämtliche esoterischen Strömungen von Astrologie bis hin zu Anthroposophie. (32) Esoterik ist auch ein sehr querfrontanfälliges Feld, was von Holocaustleugnung über rechtsgerichteten Neopaganismus (prominentes Beispiel wäre hier der Terrordruide Burghard Bangert) bis hin zu Anarchoprimitivismus alles beinhalten kann. XR ist durchsetzt mit Ökoesoterik, also der Anbetung der Natur, des Natürlichen und der Mutter Erde.

Tiefenökologie ist zudem von sich aus schon eine Querfrontideologie, die streckenweise offen fremdenfeindlich und reaktionär daherkommt. Der Begründer Naess bezeichnete Migration als „ökologischen Stress“ und fokussierte sich stark auf Bevölkerungsreduktion als Mittel zur Rettung der Erde. Dabei handelt es sich um einen klassischen rechten Zugang zu Umweltfragen. So findet sich auch im Manifest des Christchurchattentäters ein Verweis auf die notwendige Reduktion der Bevölkerung zur Lösung der Klimafrage. Tiefenökologie wird auch detaillierter in Peter Bierls „Grüne Braune“ beschrieben. in diesem Buch wird auch auf Earth First verwiesen, eine mitunter offen menschenfeindliche Gruppierung im Bereich des Antispeziesismus. (33) Laut Aussage von XR entstammen einige der Gründungsmitglieder dem Earth First-Umfeld und Earth First hat in den 80ern tiefenökologisches Denken übernommen. (32) (34) Auch wird in der Tiefenökologie immer wieder ein Fokus auf angebliche Überbevölkerung und Bevölkerungsreduktion gelegt, wobei es sich um einen vor allem im rechten Spektrum populären Ansatz handelt, möglichen ökologischen Problemen zu begegnen. (35)

 
 

6. XR – eine Firmenstruktur

 

Unsere dezentrale Orgastruktur ist das Gegenteil davon. [..]Sowohl XR UK als auch International haben Maßnahmen ergriffen, um die Herausbildung von Führungspersonen zu hemmen. Wir sind und bleiben dezentral.“

XR war nie dezentral. Auch die Entwicklung als Graswurzelbewegung ist ein Märchen. XR ist vielmehr ähnlich einer Firma aufgebaut und wurde entsprechend einer PR-Kampagne aufgezogen. Auf älteren Webseiten wurde in ähnlichem Wortlaut schon vor Jahren der Versuch gemacht, XR ins Leben zu rufen. Logo und Designs sind mit einem Copyright belegt. (36) „In England wurde im Frühjahr „XR Business“ gegründet, eine enge offizielle Kooperation mit rund zwei Dutzend Firmen und Konzernen wie Unilever oder The Body Shop. Die Kooperation bekam das XR-Logo und hatte eine Website. Nach Protesten wurden Website und Logo zurückgezogen. Aber die führenden Leute betonten im gleichen Atemzug, dass sie mit diesen und weiteren Konzernen auch in Zukunft eng zusammenarbeiten wollen. Da geht es auch um die Modernisierung des Kapitalismus: wie macht man die Klimakatastrophe zur Geschäftsgrundlage? „Extinction Rebellion“ soll die dazu passende manipulierbare Bewegung werden, die die öffentliche Meinung gefühlig beeinflusst.“, so formulierte es Jutta Dittfurth. (37)

Alle Ortsgruppen arbeiten unter Rückkopplung auf die „Mutterorganisation“. Ein Starterkit soll neuen Gruppen helfen, sich so zu strukturieren, damit sie sich in das Gesamtkonstrukt der Organisation eingliedern können. Inzwischen gibt es jedoch merkliche Differenzen um die allgemeine Ausrichtung von XR allgemein und zu bestimmten Aktionen.

 

7. Aufbau und Kritikabwehr

 

XR verweist immer wieder darauf, dass die einzelnen Ortsgruppen relativ autonom voneinander sind und unabhängig voneinander arbeiten. Dies ist unseren Recherchen nach tatsächlich so. Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit verdeutlichen dies. Zum einen hat XR Scotland sich in einem längeren Statement gegen die Copkuschelei gestellt und offen Kritik an bestimmten Praktiken und Verlautbarungen anderer XR-Gruppen geäußert.(38) Zum anderen hat in London eine kleine Gruppe von Aktivist*innen den Berufsverkehr gestört und den U-Bahnverkehr blockiert Dies geschah entgegen des Ergebnisses einer Abstimmung innerhalb von XR und ohne Unterstützung anderer Gruppen. Die Aktion wurde später dann aber halb verteidigt und weitere Aktionen dieser Art als möglich dargestellt. Verantwortung übernehmen wollte aber niemand, man verwies auf die autonome Struktur. (39) Und dieses Muster ist eines, welches sich durch sämtliche Debatten über XR zieht. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass man ja selber nicht dafür verantwortlich sei, es eine Gruppe war und man das bloß nicht auf XR verallgemeinern solle.

Dabei handelt es sich unserer Ansicht nach um eine bewusste Diskurstaktik. Es gibt Videos, in denen Roger Hallam darüber referiert, wie man eine soziale Bewegung vor zu viel Kritik von links bewahrt und das Momentum nicht verlangsamt. (40) Dadurch, dass man die Verantwortlichkeit für XR Einzelpersonen und lokalen Gruppen zuschiebt, ohne als Gesamtheit Verantwortung zu übernehmen, versucht man Kritik ins Leere laufen zu lassen. Die Autonomie der einzelnen Gruppen ist aber nur teilweise gegeben. Mit den drei Forderungen und den zehn Regeln hat XR eine Form der abstrakten Herrschaft installiert. Man beruft sich auf diese Regeln, um unerwünschte Meinungen und Personen auf Linie zu bringen oder auszuschließen. Dabei ist das Kernteam von XR strategisch ziemlich klug vorgegangen, da man mit dem Corporate Design und den Regeln einen Blueprint geschaffen hat, der ziemlich inhaltsgleiche Gruppen an unterschiedlichsten Orten entstehen lässt. Insbesondere der Verweis auf absolute Gewaltfreiheit und gewaltfreie Kommunikation ermöglicht es, innerhalb von Gruppen Diskussionen zu unterbinden. Wie uns berichtet wurde, kann auch das Hinterfragen der Regeln zum Ausschluss führen. Bei der Blockadeaktion in Berlin ist das Orgateam herumgelaufen und hat Personen darauf hingewiesen, dass antikapitalistische Parolen nicht erwünscht wären und gegen den Konsens verstießen. Ebenso soll bei der Räumung einer Blockade ein „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ unterbunden worden sein, da man dies als Aggression gegen die Polizei werte und es nicht dem Konsens entspricht. Die Verantwortung dafür übernimmt dann wieder niemand persönlich, da man – große Überraschung – die Regeln verschiebt. So schafft man ein sich selbst aufrechterhaltendes und reproduzierendes System der Kritikabwehr, welches XR als Ganzes nicht in Frage stellt und XR seinerseits als Gesamtes kaum Verantwortung für Einzelgruppen und Personen übernimmt, die im Namen von XR agieren.

 

8. Eine politische Wende, die keine ist

 

Wir müssen und wollen keine Rezepte vorlegen. Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische. […] D.h. wir setzen in der Tat auf eine Wende innerhalb des bestehenden parlamentarischen Systems. Wir fordern eine Ergänzung dieses Systems und auch, die nötigen Änderungen gemeinwohlorientiert umzusetzen. Das Wie bestimmen aber nicht wir, darüber sollen mehr Menschen entscheiden.“

Weder Rezepte vorzulegen, noch etwas zu fordern, unterstreicht einmal mehr die in Punkt 3 genannte Inhaltsleere, die als faschistisches Merkmal klassifiziert, dem blinden Aktivismus zugrunde liegt.

Anstelle von Forderungen sind bei den Veranstaltungen von XR Schilder zu lesen mit Aufschriften wie „Love the Planet“, „Jetzt handeln“, „This is an Emergency“ oder „Sagt die Wahrheit“. (41) (42) Letzterer Slogan ist auch in der XR-Broschüre wiederzufinden. Wahrheit ist ein normativer Begriff, der auch hier erst einmal mit Inhalt gefüllt werden muss. Hinzu kommt, dass eine Portion Skepsis mehr als angebracht wäre, wenn eine Gruppe nur sich selbst einen absoluten Wahrheitsanspruch zugesteht, was automatisch ein Schwarz-Weiß-Denken impliziert.

Die Forderung, falls man dies so nennen möchte, „eine von ExpertInnen beratene BürgerInnenversammlung, die von der Regierung legitimiert ist“, zu installieren, klingt zunächst ganz nett, klingt nach einer weiteren Partizipationsmöglichkeit in der repräsentativen Demokratie, ist aber bei näherer Betrachtung mit einem schalen Beigeschmack zu genießen:

Diese BürgerInnenversammlung wird nämlich eine Art Parallelparlament. Im parlamentarischen System stehen die Institutionen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, kontrollieren und legitimieren sich wechselseitig. Das Parlament, hätte es die BürgerInnenversammlung einmal legitimiert, wäre zwangsläufig an deren Entscheidungen gebunden. Die Mitglieder dieser Instanz sollen repräsentativ sein anhand der Parameter Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und sozio-kultureller Zugehörigkeit (wäre auch interessant, zu wissen, nach welchen Kriterien diese „sozio-kulturelle Zugehörigkeit erfasst wird und von wem. Vielleicht könnte man dazu noch was schreiben?) nach einem Zufallsprinzip, einem sogenannten „minipopulus“ festgelegt werden. (43)  Wie genau der Entscheidungsprozess für eine Mitgliedschaft in dieser BürgerInnenversammlung aussieht, bleibt offen. Für wie lange diese neuen politischen EntscheidungsträgerInnen bestimmt werden, bleibt ungewiss. Wenn XR mit ihrer Inhaltsleere konfrontiert wird, findet i. d. R. ein Verweis  darauf statt, dass es ja bereits genug Forschungsergebnisse zum Thema gäbe, woraus sich Handlungsoptionen ableiten ließen, nichtsdestotrotz sollten ihrer Auffassung nach keine WissenschaftlerInnen die Grundlage für politische Entscheidungen zum Klima bieten, sondern Laien. Die Kompetenzen und v. a. damit einhergehende Grenzen einer solchen Instanz sind nicht – wie könnte es auch anders sein – von XR nicht näher definiert. Zudem soll die BürgerInnenversammlung ausdrücklich von Laien gebildet werden. Aber wie sollen Menschen ohne die klima-fachlichen Hintergründe zu sinnvollen Entscheidungen über das Wohl des Planeten kommen?

Auf S. 33ff in der Broschüre von Extinction Rebellion unterstellt die Gruppe politischen EntscheidungsträgerInnen potenziell, einen ausgerufenen Klimanotstand per se zu unterlaufen, was neben den BürgerInnenversammlungen auf nationaler Ebene auch EinwohnerInnenversammlungen auf kommunaler Ebene erfordern würde. Auf diese Weise wird der von der Bevölkerung legitimierten Regierung per se ein Handeln wider den Bevölkerungsinteressen unterstellt. 

Nichtsdestotrotz fordern sie die Ausrufung des Klimanotstands, auch wenn dies ohnehin keine rechtsbindende Wirkung entfaltet.

Des Weiteren steht da: „Politiker*innen sind zudem dem Einfluss von Lobbyist*innen ausgesetzt. Dagegen sind Bürger*innenversammlungen ein kritisches Korrektiv. Sie erinnern die Regierungspolitik daran, dass Ordnungen erstarren und das Gemeinwohl aus dem Blick verlieren können, wenn sie nicht immer wieder verflüssigt werden, und zwar durch Veränderungen, die von Bürger*innen eingefordert werden.“ (44) Hier sollen politischen Institutionen und parlamentarische Strukturen ausgehöhlt werden und sich einer BürgerInnenversammlung unterordnen, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Ihre einzige Leitlinie ist, dass sämtliche ihrer Entscheidungen und ihr Handeln mit den Leitlinien von XR konform gehen müssen. Demokratische Prinzipien wie z. B. die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Regierung würden damit außer Kraft gesetzt. 

Auf S. 34  bestätigt XR dies dann mit den Worten: „XR steht für die Erkenntnis, dass eine neue Klimapolitik nicht ohne neue politische Beteiligungsstrukturen möglich sein wird.“ Dass die Systemfrage nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch gestellt werden kann, steht aus linksradikaler Sicht außer Frage, doch bestimmt nicht durch die Ergänzung einer zusätzlichen Instanz, die nur XR untersteht, in ihrer Struktur und Wirkmacht nicht richtig durchdacht ist und sich jeglicher Wahl und Kontrolle entziehen kann.

 
 

9. Zusanmenfassung

 

XR hat das Potenzial, eine Massenbewegung zu werden, aber sie bleibt in ihren Zielen unkonkret und damit redundant gegenüber anderen Organisationen.
XR hat rechte Tendenzen bzw. ist zumindest rechtsoffen.
XR positioniert sich nicht ausreichend gegen Sexismus und Rassismus in konkreten Situationen.
XR schürt Ängste, emotionalisiert und verweigert bewusst einen rationalen Diskurs.
XR ist eine esoterische Organisation und wird das bleiben.
XR wurde von Beginn einer PR-Kampagne mit firmenähnlicher Struktur konzipiert und ist keine Graswurzelbewegung.
XR ist von Beginn an auf Kritikabwehr hin ausgelegt worden.
XR stellt unzureichende Forderungen und will keine Verantwortung übernehmen

Weitere Punkte wie z. B. der fahrlässige Umgang mit den Daten der AktivistInnen, die Anbiederung an die Polizei, die Entsolidarisierung von anderen KlimaaktivistInnen, die im ersten Text schon thematisiert wurden, kommen hinzu.

XR kann die Klimabewegung spalten, denn anstatt den Kapitalismus abzuschaffen, wird die Gruppe in ihn eingebettet.

 

 
[Sophie Rot; Laura Stern]
 
 
Quellen:
    
Hinweis: In der uns vorliegenden PDF des XR-Handbuchs sind die Seitenzahlen nicht immer korrekt formatiert, weshalb auch das Kapitel mitangegeben ist.
 
    (3)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 1 S. 23 
    (4)  ebd. Kapitel 11 S. 81
    (7)  Sternhell, Zeev (2019): Faschistische Ideologie. Eine Einführung; Verbrecher Verlag
    (9)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 10 S. 72
    (10)  ebd. Kapitel 11 S. 75
    (11) ebd. Kapitel 11 S. 77
    (12) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag
    (13) Mira Landwehr: Vier Beine gut, zwei Beine schlecht Zum Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass in der veganen Tierrechtsbewegung, konkret texte 77 (2019)
    (17) ebd.
    (20) ebd. S 45
    (21) Fischer, Louis (1950): The life of Mahatma Gandhi; Harper Collins Paperbacks; S. 348 (übersetzt) 
    (22) Wolpert, Stanley (2002): Gandhi’s Passion: The Life and Legacy of Mahatma Gandhi; Oxford University Press, S. 197 (übersetzt)
    (23) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 9 S. 68
    (26) ebd.
    (27) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 13 S.98
    (30) Münkler, Herfried: Kriegssplitter, Kapitel 1, Abschnitt 7: Heroische und postheroische Gesellschaften
    (32) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 67ff
    (35) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 30ff
    (44) ebd.

Extinction Rebellion – mehr Show als Rebellion?

Seit Neuestem ist die Bewegung Extinction Rebellion („Rebellion gegen das Aussterben“) in aller Munde. Ursprünglich in Großbritannien gegründet, gibt es inzwischen auf der ganzen Welt dezentrale Ortsgruppen, über 50 allein in Deutschland. Sie führen friedliche Massenaktionen durch, bei denen sie ihre Identität nicht verschleiern.
Beliebte Methode ist dabei das massenhafte Besetzen von Verkehrsknotenpunkten. Auch andere Aktionen wie Die-Ins werden durchgeführt. Die Aktionen sind dabei überwiegend symbolisch zu verstehen. Das Ziel ist es nicht auf Dauer den Verkehr lahmzulegen, sondern durch ihre Blockaden o.ä. soll vor allem mediale Aufmerksamkeit geschaffen werden. Erklärtes Ziel es, damit die EntscheidungsträgerInnen aus Politik und Wirtschaft auf das Problem der Klimakrise aufmerksam zu machen.

Die Gruppe hat 3 Kernforderungen:
1. Ausrufen des Klimanotstands durch die Regierung,
2. Auffordern der Regierung zum Handeln und dem Erreichen eines Treibhausgas-Nettonulls im Jahr 2025
3. Einberufen einer BürgerInnenversammlung durch die Regierung.

Was will XR erreichen?

Tiefer in ihren Forderungen geht XR dabei jedoch aus Prinzip nicht, da „es […] seit Jahrzehnten genügend Lösungen und Ansätze [gibt], wie den allgegenwärtigen Krisen begegnet werden kann“. *1 Auf der deutschen Webseite stehen magere fünf Zeilen zu jedem der drei o.g. Punkte. Auffällig ist dabei, dass alle drei Forderungen einen Appell an die Regierungen darstellen. Eigene Lösungen präsentieren sie dabei nicht, sondern vertrauen darauf, dass der Klimawandel durch staatliche Maßnahmen innerhalb des bestehenden Systems schon noch aufgefangen, kontrolliert und vermindert werden könnte. Aber im bestehenden System wird es keine grundlegenden und v. a. spürbaren Veränderungen geben. Daran hat die Politik nur sehr wenig Interesse, seit Jahrzehnten hat keine parlamentarische Partei radikale Maßnahmen durchgeführt. Wie dieser Betrieb bis 2025 dann eine Nettonullemission hinbekommen soll, steht in den Sternen.

Auch die Forderungen selbst sind inhaltsleer. Das Ausrufen eines Klimanotstands ist rein symbolisch. Rechtsbindende Pflichten erwachsen daraus nicht. Was genau getan werden soll, um die Treibhausgas-Emissionen auf null zu setzen, wird nicht erläutert. *2 Reichen staatliche Maßnahmen wie eine CO²-Steuer aus dem sogenannten Klimapaket aus? Wie genau soll eine „Bürger:innenversammlung“, die aus „zufällig ausgewählten Personen“*1 besteht, dabei helfen? Wie sollen Laien über notwendige Maßnahmen entscheiden, um zur Rettung des Planeten beizutragen, wenn nicht einmal XR selber ein tiefergehendes Verständnis für wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Mechanismen erkennen lässt?
Mit solchen unausgegorenen Ideen wird man keinen radikalen Politikwechsel erzwingen können – der zweifelsfrei notwendig ist. Man wüsste ja auch selbst nicht, was genau man machen müsste, würden die Regierungen auf XR hören. Schuldzuweisungen sind bei ihnen verpönt. *3 Stattdessen wird dem „toxischen System“ als Strohmann die Verantwortung für die Klimakrise gegeben. Analyse sieht anders aus.

Die Inhaltsleere ist gewollt

XR bleibt schwammig. Von (linksradikaler) Theorie hört man bei XR-Veranstaltungen gar nichts. Dass der Staat vor allem ein Interesse am Aufrechterhalten des Status Quo hat, wird geflissentlich übersehen. Die Schwammigkeit der eigenen Forderungen wird zum Dogma erhoben. Denn durch diese schwammigen Forderungen will man die größtmögliche Anschlussfähigkeit erreichen.
Doch diese Anschlussfähigkeit birgt auch Gefahren. Durch diese Offenheit können beispielsweise Querfront-Spinnereien die Tür geöffnet werden. Die Ocuppy-Bewegungen, die auch bewusst keine konkrete Forderungen aufgestellt hat, wurde in Amerika z.B. von einer Nazi-Party unterwandert, die antikapitalistische Forderungen antisemitisch umdeutete. *4 Ein fehlender, konkret formulierter Abgrenzungskonsens ist grundsätzlich anfällig und die Erfahrung zeigt, dass dieses Fehlen in konkreten Situationen den Ausschluss von rechten Gruppen und Personen be- und verhindert hat.
Dies droht auch XR. Man lädt Interessierte ein bzw. nimmt den Anschluss dieser billigend in Kauf, die mit linken Lösungsansätzen nichts anfangen können. Auch Rechte sind im Umweltschutz aktiv, deuten es aber entsprechend ihrer Agenda um. Roger Hallam, einer der Köpfe XR‘s in Großbritannien, möchte „niemanden ausschließen, der nur ein bisschen rassistisch oder sexistisch denkt“. *5 Dies öffnet natürlich die Türen nur weiter für eine Querfront.
Bislang hat sich eine solche zwar noch nicht herausgebildet, für die Zukunft kann es jedoch auch nicht ausgeschlossen werden, gerade weil Extinction Rebellion bewusst nicht als linksradikal eingeordnet werden will, in die der Umweltaktivismus an sich erst einmal automatisch gestellt wird. Sie wollen paradoxerweise ideologiefrei sein. *6 Dies bietet Rechtsradikalen die Möglichkeit, auch diese Bewegung zu unterwandern.

Die DogmatikerInnen wollen undogmatisch sein

Eines der Grundprinzipien von XR ist absolute Gewaltfreiheit. Damit sollen möglichst viele Menschen angesprochen werden. *7 Gewalt wird kategorisch ausgeschlossen. Auf den ersten Blick geht diese Taktik sogar auf. So sagte Laurence Taylor, stellvertretender Chef der Londoner Polizei, dass es ihm fast lieber wäre, die Aktivistis seien gewalttätig, dann könne man auch entsprechend „angemessen“ ihnen gegenüber reagieren. *8
Im Härtefalle ist dies der Polizei aber gleichgültig, wenn sie gewalttätig werden soll/muss. Wird die Bewegung als Gefahr wahrgenommen, hat der Staat im Zweifel keine Skrupel, z.B. Blockaden brutal räumen zu lassen. Statements von XR zeigen erstaunliche Naivität und nur eingeschränkte Solidarität mit jenen, die von solcher staatlichen Gewalt betroffen sind.
Als bei der Räumung einer Blockade in Hamburg die Polizei brutal mit Schmerzgriffen gegen AktivistInnen von #sitzenbleiben vorging, *9 hatte XR Hamburg nichts Besseres zu tun, als von diesen die sich selbst auferlegte Gewaltfreiheit einzufordern und sie für ihre Gewalt (in Form von Beleidigungen gegen die Polizei) zu kritisieren. *10 Aber für die wohlstandsverwahrlosten Elendsgestalten von Extinction Rebellion ist die Polizistin ja auch nur ein Mensch. Auch andere große XR-Gruppen wie Berlin oder Lübeck sind dogmatisch in ihrer Ablehnung der Gewalt. Damit allein sind sie schon unsolidarisch gegenüber Menschen, die für ihren Aktivismus Repressionen ausgesetzt sind.

So naiv, dass es weh tut

Diese Naivität zieht sich durch sämtlichen Aktivismus von XR. Gerade Empfehlungen im Umgang mit der Polizei scheinen dabei jeder Realitätsgrundlage zu entbehren. Selbst bei gewalttätigen Übergriffen durch Polizei solle man sich „nicht provozieren lassen“. *11 Auch solle man andere Teilnehmende, selbst bei Polizeiübergriffen, an den Anti-Gewalt Konsens erinnern. *12
Diese Haltung führt auch die Aussage der XR-Ortsgruppe Berlin (im Nachgang zu dem Polizeiübergriff gegenüber #sitzenbleiben in Hamburg), die von vielen XR-Ortsgruppen geteilt wurde, dass jegliche Taktik im Kampf gegen die Klimakrise willkommen sei *13, ad absurdum. Solidarität muss praktisch sein. Andernfalls ist sie nur ein Lippenbekenntnis.

Wie soll eine Gruppe wie XR, die Gewalt kategorisch ablehnt, das nächste Mal solidarisch sein können, wenn andere AktivistInnen mittels Schmerzgriffe abgeführt werden? Sie sitzen da und wollen mit den Cops nett plaudern. Dabei ist nicht gesagt, dass nicht sie beim nächsten Mal selbst bei völliger Passivität und propagierter Gewaltfreiheit der Schlagstock der Bullen trifft. Was für eine Vorstellung XR von der Arbeitsweise der Polizei hat, zeigen solche Statements: „Während der Vernehmung kannst du zum Beispiel immer mit Fakten über die Klimakrise antworten, ein Lied singen oder Gegenfragen stellen“. *14 Oder auch: „Es ist kein Problem, mit Polizist*innen über die Klimakrise zu sprechen, oder sie auf ihre Verantwortung anzusprechen“. *12 PolizeibeamtInnen haben in der Regel aber gar kein Interesse daran, groß zu diskutieren oder zu hinterfragen. (Eine ausführliche Kritik zur Polizei im Allgemeinen findet sich hier: https://rambazamba.blackblogs.org/…/acab-oder-etwa-doch-ni…/.)

Auch die Maßnahme, sich nicht zu vermummen, passt zu der staatsgläubigen Taktik. Während militante AktivistInnen dadurch einer Strafverfolgung entgehen, vertraut XR darauf, dass der Staat schon kein Interesse daran haben wird die Identität bei ihren Aktionen beteiligten Personen zu ermitteln. Dabei zeigt die Vergangenheit das Gegenteil. Leuten, die aufgrund ihrer Gesinnung dem Staat ein Dorn im Auge sind, brummt der Staat gerne ein Verfahren auf. Ein Grund dafür lässt sich, selbst bei völliger Gewaltlosigkeit, schon finden. Dabei warnt XR selbst vor genau solchen Fällen, in denen die Polizei nicht rechtskonform handelt. *12 Dies zeigt nur noch eindringlicher die Naivität und Widersprüchlichkeit, die gerade junge Menschen mit geringer aktivistischer Erfahrung in unvorhergesehene Schwierigkeiten bringen könnte.

Verhaftungen als Taktik der Rebellion

In der Vergangenheit haben sich Aktivistis in Großbritannien bewusst verhaften lassen, um das System zu überlasten. *8 Eine ähnliche Taktik fährt zum Beispiel auch Ende Gelände. Zwar bemüht sich XR in seiner Rechtshilfebroschüre einige Fragen für Neulinge zu beantworten, bleibt aber auch dort schwammig und naiv. So wird davon ausgegangen, dass grundsätzlich nur niedrigschwellige Strafen mittels Strafbefehl verhängt werden. *15 Man solle sich auch gut überlegen, ob man einen Strafbefehl anfechte, da ein Gerichtsverfahren grundsätzlich teuer sei.

Zudem würde ein solcher Verzicht aufs Gerichtsverfahren einer der grundlegenden Taktiken von XR widersprechen. Sie wollen ja eine möglichst breite Öffentlichkeit über die Gerichtssäle und die entsprechende Medienaufmerksamkeit erreichen und so ihr Anliegen vortragen. Wenn man aber nicht gegen den Strafbefehl vorgehe, kommt die Botschaft erst gar nicht vor Gericht.

Ihr seid nicht radikal

XR vertraut darauf, dass durch ihre Aktionen automatisch ein Umdenken bei Politik und Co einsetzt. Dabei sind sie nicht die ersten, die auf diese Problematiken hinweisen. In Deutschland nehmen beispielsweise „Ende Gelände“ und die Bewegung rund um den Hambacher Wald eine besondere Rolle bei den neueren Klimabewegungen ein. Aber auch die Vorläufer wie die Anti-Atom-Bewegung (Gorleben, Wackersorf, Kalkar) haben dazu geführt, dass das Thema Umweltschutz in Deutschland überhaupt so stark wahrgenommen wird. Diese haben dank jahrelanger Mühe tatsächliche Veränderungen bewirkt, auch wegen ihres radikalen Eigenanspruchs.

„Hambi bleibt“ und Ende Gelände unterscheiden sich vor allem durch ihren antikapitalistischen Anspruch von XR. XR hingegen stellt die Systemfrage nicht. Antikapitalistische Parolen wurden so beispielsweise in Stuttgart vom XR-Orga-Team entfernt, da „nicht alle kapitalismuskritisch seien“. *16 Dies ist kein Einzelfall. Solidarität mit anderen wie den Personen aus dem Hambi wird verweigert, da man sich nicht der gleichen Methoden bedient. *17

Dazu passt auch, dass XR sich selbst von kapitalistischen Großspendern Geld geben lässt. *18 In ihren Augen ist es kein Widerspruch, wenn Geld, das aus Ölgeschäften stammt, jetzt dazu verwendet werden soll, den Planeten zu retten. Da ist es auch keine Lösung, den einzelnen Ortsgruppen zu überlassen, ob sie Gelder annehmen. Die gesamte Organisation macht sich unglaubwürdig, wenn Ortsgruppen wie die in Berlin 75.000 € für ein Protestcamp aus diesem Spendentopf annehmen.

Alles Hallam

Die Rhetorik der Gruppe erinnert oft an apokalyptische Prophezeiungen. *6 Klar ist: Der Klimawandel ist eines der drängendsten Probleme unserer Zeit. Nichtsdestotrotz ist es sinnlos, Panik zu verbreiten. Andere Gruppen kommen auch ohne solche düsteren Visionen aus. Für die Agitation macht es ja sogar eventuell noch Sinn, solch eine Rhetorik zu verwenden, um möglichst viele Personen anzusprechen. Wenn man jedoch damit esoterische SpinnerInnen anzieht, verwässert es den Grundgedanken der Bewegung.

Auch der Personenkult rund um Roger Hallam ist sehr ausgeprägt. Er ist Bio-Landwirt und Doktorand der Soziologie. *7 Seine Worte gelten in der Bewegung. Er verfasste, zusammen mit einigen anderen, die „Bibel“ der Gruppe. *6 Er taucht regelmäßig in den Medien auf und veröffentlicht öfter Videos im Youtube-Channel von XR. Ironisch ist dabei, dass er zwar viel in seinen Videos erzählt, verbindliche Aussagen, wie die Klimaziele erreicht werden sollen, findet man aber auch dort nicht.

Für Gruppen, die den (menschengemachten) Klimawandel leugnen, ist die vordergründige – und sei es nur behauptete – Ähnlichkeit zu Sekten natürlich ein gefundenes Fressen. Dabei ist Extinction Rebellion mitnichten eine Sekte. Dieses Image ist Gift für die Klimabewegung. Zwar ist es verständlich, mit drastischen Worten auf diese Problematik aufmerksam zu wollen, letztlich erweist man sich selbst aber nur einen Bärendienst. Immerhin wollen sie möglichst alle Menschen erreichen, *7 schrecken durch dieses Image aber potenzielle Mitglieder ab.

Bloß keine Verantwortung übernehmen

XR will massenhaft Personen mobilisieren und Druck ausüben, um politische Veränderungen zu erreichen. Mit anderen Worten: XR will ein politischer Einflussfaktor werden. Im Idealfall schafft es diese Bewegung auch. Nur was dann? XR will keine Verantwortung für das eigene Wirkungspotential übernehmen. Das einzige Mittel, welches XR hat, sind ihre Aktionen. Aber ab welchem Punkt sieht man einen Wandel als ausreichend an, wie werden Maßnahmen bewertet und eigeordnet? Und vor allem: Was will XR tun, wenn die Politik nicht das tut, was man will?

Bis 2025 wird es keine Nettonullemissionen geben, so viel steht fest. Einen Beitrag hin zu diesem Ziel könnte XR selber liefern, indem sie konkrete Forderungen aufstellt und als Verhandlungspartnerin auftritt. So nutzt man nämlich politische Macht aus. Man organisiert ein möglichst wirkmächtiges Personenpotential und zwingt dadurch EntscheidungsträgerInnen zu Zugeständnissen. Je größer das Potential, umso größer die Zugeständnisse.

Wie dies mit nicht-staatlichen Organisationen funktioniert, kann man sich in der Geschichte der Gewerkschaften anschauen. Diese haben in den letzten 150 Jahren mit konkreten Forderungen und organisierter Mobilisierung Zugeständnisse erkämpft. Gegen den Willen von Wirtschaft und Politik. Wenn auch mal besser und schlechter, haben die Gewerkschaften insgesamt ihre politische Verantwortung wahrgenommen und sich aktiv um die Durchsetzung ihrer Interessen bemüht und dabei eben nicht darauf vertraut, dass andere diese Interessen für sie umsetzen.

XR – Nein Danke!

Extinction Rebellion hat ein riesiges Mobilisierungspotenzial. Aber dies alleine wird keine Veränderung herbeiführen. Dahinter muss ein entsprechendes Konzept stehen. Dies ist jedoch nicht erkennbar. Konkrete Lösungsansätze gibt es nicht. Staat und Wirtschaft haben den Karren in den Dreck gesetzt. Dennoch wird in grenzenloser Naivität darauf vertraut, dass der Staat den Karren auch wieder raus dem Dreck zieht. Ein bürgerliches Verständnis von Aktivismus wird hier deutlich.

Man kann natürlich einwenden, dass ein Großteil der Gruppe jung und unerfahren ist. Dies ist durchaus richtig. Die Köpfe dahinter sind dies aber nicht. Sie bringen junge Menschen bewusst in Gefahr, mit einer unzureichenden Vorstellung davon, was ihnen passieren kann. Bislang mag alles noch gut gegangen sein. Der Staat ist aber im Zweifelsfall auch nicht zimperlich darin, Blockaden von hauptsächlich jungen Menschen brutal zusammenknüppeln zu lassen.

Aktuell ist dies für uns keine Bewegung, mit der man zusammenarbeiten könnte. Zu wenig Theorie, zu viel Abgrenzung von den bösen Linksradikalen (gerade in Bezug auf die Militanzfrage), die Schwammigkeit ihrer eigenen Forderungen, die Offenheit für rassistische und sexistische Personen, die Anbiederung an kapitalistische Großspenden, etc. All dies stellt unter Beweis, dass es XR monothematisch bedingt einen Tunnelblick fährt und mit dem Klimawandel unweigerlich verbundene Fragen wie die der Wirtschaftsweise oder der Nationalstaaten ignoriert, während man sich von reaktionären Positionen jenseits der Klimafrage nicht entschieden abgrenzt.

Aber die Klimaproblematik lässt sich nicht ohne die Systemfrage stellen. Extinction Rebellion verharrt im gemachten Nest. Anstatt radikal alles zu hinterfragen, was uns erst so tief in die Krise gestürzt hat, wird es bewusst vermieden, konkrete Analysen anzustellen und Probleme klar zu benennen. So richtet man sich in einem Wohlfühlaktivismus ein, der vor allem darauf beruht, spektakuläre Bilder zu erzielen, aber keinen nachhaltigen Effekt hat.

Man darf sich dann auch keine Illusionen darüber machen, was man damit erreichen wird. Im besten Fall liefert man den Medien eine Weile spektakuläre Bilder, bevor das Interesse mangels Inhalte verflacht. Im schlimmsten Fall geht die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen Jugendliche vor, die nicht wissen, was mit ihnen geschieht. In beiden Fällen hat man nichts gewonnen. Die Klimakrise nimmt weiter ihren Lauf. Nur radikale Maßnahmen können da noch entgegensteuern. Diese lehnt Extinction Rebellion aber ab. Wir unterstützen lieber radikale Lösungen, um noch einer Katastrophe zu entgehen.

*1 https://extinctionrebellion.de/wer-wir-…/unsere-forderungen/
*2 https://www.landtag.nrw.de/…/MMD17-6763.pdf;jsessionid=29C6…
*3 https://extinctionrebellion.de/wer-wi…/prinzipien-und-werte/
*4 https://www.derstandard.at/…/occupy-wall-street-die-antisem…
*5 https://www.belltower.news/kommentar-zu-extinction-rebelli…/
*6 https://www.spiegel.de/…/extinction-rebellion-was-die-neuen…
*7 https://www.jetzt.de/…/extinction-rebellion-massenprotest-g…
*8 https://www.klimareporter.de/…/prozesswelle-gegen-extinctio…
*9 https://www.fr.de/…/klimastreik-demo-hamburg-voellig-unnoet…
*10 https://www.facebook.com/story.php?story_fbid=2485155611530253&id=933332503379246
*11 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 27
*12 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 7-8
*13 https://twitter.com/XRBerlin/status/1175808508874375168?s=19
*14 * XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 31
*15 XR Deutschland: Rechtshilfebroschüre, S. 36
*16 https://twitter.com/t2a_crew/status/1175523480810528770?s=19
*17 https://hambacherforst.org/…/an-open-answer-to-extinction-…/
*18 https://taz.de/Geld-fuer-Klima-AktivistInnen/!5616000/

Was bürgerlicher Feminismus ist und wo er scheitert

Die Bezeichnung „bürgerlicher Feminismus“ ist aktuell nicht sehr gebräuchlich, was vor allem daran liegt, dass die Alternativen aus dem linksradikalen Bereich, der sozialistische und der anarchistische Feminismus, nicht gerade Hochkonjunktur haben. Es gibt unterschiedliche Einteilungsmöglichkeiten feministischer Ausrichtungen. Die akademisch am häufigsten vertretene ist die in Liberalfeminismus und Radikalfeminismus. Historisch gibt es aber auch andere feministische Ansätze, die sich teilweise in einzelnen Aspekten diametral gegenüber standen. So wollten Frauen aus dem Proletariat nicht auch noch in Fabriken arbeiten müssen, die Frauen des wohlhabenden Bürgertums dagegen waren bestrebt, einer Arbeit nachgehen zu können. Als grobe Unterscheidung kann man sagen, dass der bürgerliche Feminismus nicht antikapitalistisch ist und sich nicht gegen die bürgerliche Gesellschaft richtet. Stattdessen geht es um das Erreichen bestimmter Ziele innerhalb dieser Gesellschaftsform und Wirtschaftsordnung. Bürgerliche Gesellschaften bezeichnen die Gesellschaftsform, die sich mit den Unabhängigkeitskriegen der USA und der französischen Revolution beginnend in Europa und Nordamerika durchgesetzt haben. An Stelle der Herrschaft des Adels trat die Herrschaft des Bürgertums, die Stände- wurde durch eine Klassengesellschaft abgelöst. Herrschte bis zum Beginn der Moderne der Feudalismus als Gesellschaftsmodell, wurde dieser mit der Moderne abgelöst und zuerst mit der Durchsetzung des Kapitalismus wirtschaftlich, ab dem Ende Zweiten Weltkrieg zumindest im Westen endgültig durch die bürgerlich Gesellschaften ersetzt. Auch heute noch stehen die europäischen Staaten in direkter Traditionslinie der Leitsätze der französischen Revolution – mit all ihren Fehlern und Unzulänglichkeiten.
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Die Inkonsequenz des bürgerlichen Feminismus
 
Der sozialistische und anarchistische Feminismus streben daher nicht nur nach einer Emanzipation innerhalb der bestehenden Gesellschaft, als integraler Teil der feministischen Theorie wird die Überwindung der selbigen als Ziel ausgerufen. Die Frau soll von allen Ausbeutungsverhältnissen befreit werden. Dabei wurde von Beginn an ein viel stärkerer Fokus auf die Arbeit und damit verbundene Aspekte gelegt. Hierzu ein Zitat August Bebels von 1879 zur Veranschaulichung:
 
„Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann ist eins der Ziele unserer Kulturentwicklung, dessen Verwirklichung keine Macht der Erde zu verhindern vermag. Aber sie ist nur möglich auf Grund einer Umgestaltung, welche die Herrschaft des Menschen über den Menschen – also auch des Kapitalisten über den Arbeiter – aufhebt.“ (aus: „Die Frau und der Sozialismus“ – 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 515-522)
 
Bei sozialistischem und anarchistischem Feminismus spielt der Antikapitalismus eine wichtige Rolle und es wird auf Problematiken rund um die Verteilung von Arbeit und auf die Lebensverhältnisse von Frauen geschaut. Damit wird dann auch die bürgerliche Gesellschaft zur Zielscheibe, da es diese Gesellschaftsform bisher nirgends ohne Kapitalismus gab und gibt. Ziel ist die Überwindung von Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft. Zentral ist hier die Lohnarbeit, welche in dieser Ausprägung ein spezifisches Phänomen des Kapitalismus ist. In diesem Konzept ist angelegt, dass Menschen selbst zur Ware werden und sich für die Lohnausbeutung zurichten (lassen). Je besser man sich an den Arbeitsmarkt anpasst, desto besser sind die Chancen für den Erfolg bzw. den beruflichen Aufstieg. Besonders deutlich kommen die spezifischen Ausbeutungsformen von Kapitalismus und patriarchaler Prägung in den Bereichen Leihmutterschaft und Prostitution/Pornografie zum Vorschein. An diesen Beispielen lässt sich der Unterschied zwischen bürgerlichem und sozialistischem/anarchistischem Feminismus sehr gut darlegen.
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Leihmutterschaft als Ergebnis von Patriarchat, Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft
 
Als Veranschaulichung sei zum Thema Leihmutterschaft auf einen Text der Störenfriedas verwiesen (Mira Siegel: „Leihmutterschaft: Kolonialisierte Frauenkörper), https://diestoerenfriedas.de/leihmutterschaft-kolonialisierte-frauenkoerper/ ), die sich radikalfeministisch verorten. In diesem Text wird man viele richtige Beobachtungen wiederfinden und sich immer wieder an die marxsche Kritik des Kapitals erinnert fühlen. Einige Beispiele:
 
– „Leihmutterschaft, legalisierte Prostitution und Pornographie stehen in einem engen Zusammenhang: Sie bedeuten die fortschreitende, maximale Kolonialisierung von Frauenkörpern für Profit.“
– „Frauen werden in der Leihmutterschaft auf ihre bloßen Reproduktionsfähigkeiten reduziert, die sie gegen Bezahlung zur Verfügung stellen. Einzelne Aspekte und Funktionen ihres Körpers werden als warenförmig erklärt und somit frei verfügbar. Und nicht nur die Frauen werden zur Ware: Das gilt auch für die Kinder, an die wie bei einem Produkt “Qualitätsansprüche” gestellt werden.“
– „Ähnlich wie Sex wird die Schwangerschaft so zu einem Job, mit dem keine emotionalen Gefühle verknüpft werden sollen – der marxistische Begriff der Entfremdung wird so auf die Spitze getrieben.“
– „Frauen sollen selbst über ihren Körper verfügen können, fordern einige Feministinnen – und ignorieren dabei, dass Sexualität und Reproduktion seit jeher die Unterdrückungsinstrumente des Patriarchats sind, die nun unter kapitalistischen Vorzeichen bis zum Maximum ausgebeutet werden.“
 
Das Problem hier ist, dass die Autorin schlichtweg inkonsequent ist und anscheinend nicht ganz begriffsfest ist. So finden sich ebenfalls immer wieder Formulierungen wie diese:
 
– „Die Globalisierung und die neoliberale Wirtschaftsordnung erleichtern es nur, diese Ausbeutung hinter Begriffen wie “Vertragsfreiheit” und “Selbstbestimmung” zu verschleiern.“
– „Neoliberale Verwertung von Frauenkörpern“
– „Das Machtgefälle, die Aspekte von Ausbeutung und menschlicher Kälte dieses Handelns werden verschleiert, in dem man es einen “Vertrag” nennt – der neoliberale Freibrief zur Unmenschlichkeit und maximaler Ausbeutung.“
– „Mit Leihmutterschaft lässt sich inzwischen mehr verdienen als mit Prostitution – beides Formen zahlenmäßig überwältigender Fälle von Ausbeutung, die jenseits von Legalität und Menschenrechten laufen, neoliberal jedoch als Befreiung einer winzigen, kaufkräftigen Elite gefeiert werden.“
– „Sexualität und Reproduktion sind Bereiche, die aus der neoliberalen Verwertungsideologie herausgenommen werden müssen, weil wir sonst uns selbst und unser Menschsein zerstören.“
 
Der Begriff „neoliberal“ taucht sehr oft auf und wird synonym mit „kapitalistisch“ verwendet, ohne dass die Tragweite des Geschriebenen verstanden worden zu sein scheint – wie man am Zitat erkennen kann, dass Sexualität und Reproduktion „aus der neoliberalen Verwertungsideologie herausgenommen werden müssen.“ Der Kardinalsfehler ist hier, die Verwertungsideologie als spezifisch neoliberal zu bezeichnen. Diese Art von Verwertungsideologie ist grundlegend für die kapitalistische Verwertung und elementar für die bürgerliche Gesellschaft als Gesamtkomplex. Vertragsfreiheit ist auch nichts spezifisch Neoliberales, sie ist eine der Grundfesten des Kapitalismus. Leihmutterschaft und Prostitution sind in diesem Sinne logische Konsequenzen des Kapitalismus, in dem jegliche menschliche Körperfunktion und Tätigkeit zur Ware am Markt wird. Hier ist dann die Besonderheit, dass sie zusammen mit patriarchaler Ausbeutung auftritt und die warenförmige Zurichtung sich sehr anschaulich aufzeigen lässt. Der Feind ist hier nicht der Neoliberalismus. Dieser ist nur eine Strömung innerhalb der kapitalistischen Ordnung. Es ist diese Ordnung selber, welche das Ziel zu sein hat, wenn man gegen Leihmutterschaft ist. Und es ist auch nur ein einziger Schritt, um von der Lohnarbeit Leihmutterschaft hin zu sämtlicher Lohnarbeit zu kommen. Diese wird dann nicht mehr zwangsläufig mit patriarchaler Ausbeutung zusammenfallen, aber trifft als Ausbeutungsverhältnis dennoch die allermeisten Frauen, sofern sie nicht zur ausbeutenden Klasse zählen.
 
Der Artikel suggeriert, ja impliziert sogar durch seinen unpräzisen Umgang mit Begrifflichkeiten, dass es einen „gerechten“ oder „guten“ Kapitalismus geben könne, wenn man nur den Neoliberalismus zurückdrängen würde.
 
Und damit scheitert der Artikel, da er eben nicht auch konsequenterweise die Überwindung des Kapitalismus als sowohl ausreichende wie hinreichende Bedingung aufgreift. Nun mag man sagen, der Artikel könnte auch die Überwindung des Kapitalismus implizieren. Richtig, könnte man. Wir halten uns hier aber an die Schlussforderung, welche eben das Herausnehmen von Sexualität und Reproduktion aus der neoliberalen Verwertungslogik fordert. Weder wird das Ende dieser Verwertungslogik insgesamt gefordert noch die eigentlich zwingende Konsequenz gezogen, gleich den Kapitalismus als Wirtschaftssystem zu überwinden und die Zwänge seiner Strukturen und Mechanismen abzustreifen. Nicht mal die neoliberale Verwertungslogik soll enden, sie soll nur nicht mehr für Sexualität und Reproduktion gelten. Ist diese Verwertungslogik also nur dann schlecht, wenn sie mit einer patriarchalen Ausbeutung zusammenfällt? Diese Perspektive ist einseitig. Ein Hinweis darauf, dass jede Form von Lohnarbeit Ausbeutung ist, fehlt. Somit bleiben diesem Artikel letztendlich einige richtige Ansätze in seiner Konsequenz im Bürgerlichen verhaftet. Warum? Weil Tragweite und Form der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht verstanden, zumindest nicht in die Ausführungen integriert wurden. Man borgt sich sogar Marx‘ Begriff der Entfremdung, lässt aber den universalistischen Anspruch dessen Kritik für einen Partikularismus unter den Tisch fallen.
 
Was übrigens auch fehlt, ist der Verweis darauf, dass man den Lebensstandard in der betroffenen Frauen anheben kann und somit die materiellen Gründe dieser mit klarem Klassenverhältnis versehenen Ausbeutung den Nährboden zu entziehen. Da die meisten Frauen in Ländern mit allgemein niedrigerem Lebensstandard und Durchschnittseinkommen leben, ist man damit sofort in einer Kritik der wirtschaftsimperialistischen Praxis der Industrienationen gelandet und muss das gesamte weltweite Wirtschaftssystem in Frage stellen. Wenn Frauen nicht mehr arm sind bzw. deren Existenzsicherung nicht an genannte Einnahmequellen gekoppelt ist, brauchen sie sich auch nicht als Fabrik für den Menschenhandel hergeben. Eine allgemeine Ächtung der Leihmutterschaft inklusive Verbot ist der viel schnellere Weg, diese Ausbeutung zumindest größtenteils zu unterbinden. Solange die materiellen Verhältnisse aber nicht geändert werden, wird dieses Ausbeutungsverhältnis immer im Kapitalismus angelegt sein. Auch diese Erkenntnis fehlt im Artikel – und das, obwohl sehr oft auf die Wohlstandsasymmetrie der Ausbeutung hingewiesen wird, sprich reiches oder zumindest wohlhabendes, wirtschaftlich gut situiertes Paar kauft sich die Gebärfunktion der Frau, die sich während den Zeitraum der Schwangerschaft verpflichtet, bestimmte Vorgaben einzuhalten, die ihre körperliche Selbstbestimmung einschränken. Dafür bezahlt das Paar eine Firma, die den Hauptteil des Betrages einstreicht und der Leihmutter kommt nur ein geringer Prozentsatz zugute. Um das möglichst viel Profit zu machen, wird die Ausbeutung bis zu einem Maximum getrieben und so wählen diese Firmen meist Frauen aus Entwicklungsländern zur Umsetzung dieser sexistischen und rassistischen Praxis.
 
Damit ist dieser Artikel aber nicht allein. Generell zeichnet es den bürgerlichen Feminismus aus, dass eine allgemeine Verbesserung der materiellen Lebensverhältnisse der Frauen eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Ein praktisches Beispiel dafür ist ein Artikel der Emma, welcher 1990 erschien und 2003 zum Tode von Margret Thatcher noch einmal veröffentlicht wurde. Die bürgerliche Ideologie springt einem förmlich entgegen bei dem Lobgesang:
 
„Und im Inneren krempelte sie die verkrustete britische Klassengesellschaft um.“ Revolution von oben“ nannte Thatcher die Vision, aus Großbritannien eine Nation der Leistungswilligen und Ehrgeizigen zu machen. Daß Klasse, Rasse oder Geschlecht niemanden auf dem Weg nach oben behindern müssen, davon war die Krämerstochter aus der tiefsten Provinz zutiefst überzeugt.“
 
„Thatcher wußte genau, daß sie auch wegen ihres Geschlechts im Rampenlicht stand. Also hütete sie sich, Müdigkeit oder Unkenntnis zu offenbaren. Also lernte sie, mit vier Stunden Schlaf auszukommen und auch nach Mitternacht Aktenberge zu bewältigen. Eine Super-Frau eben.“
 
Revolution von oben und maximale Selbstausbeutung werden hier als positiv dargestellt, die Verarmung weiter Teile der britischen Working Class unter ihrer Herrschaft wird lediglich in der Einleitung der Wiederveröffentlichung angeschnitten: „Sie verordnete den Briten in der Wirtschaftskrise mit eiserner Faust eine Radikalkur, die auf Kosten der Schwächeren ging […]“ Dies wird dann aber umgehend relativiert, mit einem Satz, der den Unterschied ums Ganze aufzeigt: „Frauenpolitisch aber war Thatcher der Knaller!“ Für die Emma ist der Lebensstandard von Frauen wohl nicht frauenpolitisch. Anders ist nicht zu erklären, warum man sie für die Verschlechterung der materiellen Lebensumstände tausender Frauen nicht kritisiert. Ein linksradikaler Feminismus sorgt sich dagegen auch immer um den Lebensstandard von Frauen und hat als Ziel, diesen zu verbessern. Ebenso ist eine auf Leistungswilligkeit und Ehrgeiz, also der offensiven Bejahung der kapitalistischen Ideologie in Form der protestantischen Arbeitsethik ausgelegte Wirtschafts- und Sozialpolitik, das exakte Gegenteil eines linken Feminismus. Hier steht ein möglichst angenehmes Arbeiten mit möglichst niedrigem Zeitaufwand bei gleichzeitiger kollektiver Absicherung der Grundbedürfnisse im Vordergrund. Thatcher will die maximale kapitalistische Vergesellschaftung mit ihren Ausbeutungsverhältnissen, ein linker Feminismus will eben diese Vergesellschaftung mit ihren Ausbeutungsverhältnissen überwinden. Statt einer Revolution der besitzenden Klasse ist die Revolution der ausgebeuteten Klasse das Ziel. Denn in einer patriarchal geprägten Gesellschaft leiden dann auch wieder verstärkt Frauen unter der Ausbeutung, da sie im Schnitt sozioökonomisch schlechter gestellt sind als Männer.
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Prostitution als Ergebnis von Patriarchat, Kapitalismus und bürgerlicher Gesellschaft
 
Auch beim Thema Prostitution (welches argumentativ sehr eng mit dem Bereich der professionellen Pornografie verbunden ist bzw. es viele Überschneidungspunkte gibt), lässt sich dieser Unterschied herausarbeiten. Hier sei dann auch einmal besonders auf den Liberalfeminismus verwiesen. Während im Radikalfeminismus immerhin eine Kritik an Leihmutterschaft und Prostitution/Pornografie stattfindet, wenn auch nicht konsequent in Sachen Reichweite der Kritik und in der Ursachenbekämpfung, so werden diese Ausbeutungsverhältnisse vom Liberalfeminismus in der Regel befürwortet und gefördert und mit dem Argument der vermeintlichen Freiwilligkeit legitimiert und beschönigt. Dort hat man mit der warenförmigen Zurichtung des Menschen, hier der Frauen, gar kein Problem und feiert das ganz im Sinne der bürgerlichen und patriarchalen Ideologie als Wahlfreiheit. Strukturelle Benachteiligungen und das Erkennen von Ausbeutungsverhältnissen mit klarem patriarchalen Charakter werden mit einem „Aber wenn sie es so will“ verteidigt. Hier wird die Freiheit zur Ausbeutung propagiert, nicht die Freiheit von selbiger. Anstatt die Zwänge des Systems aufzuzeigen und die jeweiligen Ausbeutungen offen zu legen, bestärkt man hier die möglichst effektive Unterordnung unter diese Zwänge. Zu lesen gab es das erst vor Kurzem bei uns, als wir uns kritisch mit einer Ausbildung im Pornobereich auseinandersetzten (Hier nochmal zum Nachlesen: https://www.facebook.com/antifakampfausbildung/posts/2378137888898693?__tn__=K-R ).
 
Das Thema Prostitution ist ein Dauerbrenner und einer der größten Streitpunkte zwischen Radikal- und Liberalfeminismus. Auch bei uns gibt dazu immer wieder Kritisches zu lesen. Verfolgt man diese Debatte aber einmal jenseits unbedeutender linker Winzzirkel dreht sie sich vor allem um die Frage Verbot oder Legalisierung und was jeweils in welcher Form und Ausprägung. Es gibt unterschiedliche Formen des Verbots. Immer wieder ist zum Beispiel vom nordischen Modell die Rede, welches nur die Freier bestraft. Ob und wie sinnvoll das ist und ob bzw. welche Konsequenzen daraus für die Prostituierten abzuleiten sind, darüber wird viel gestritten. Aber was im breiten Diskurs fehlt, ist eine umfassende Analyse der materiellen Umstände inklusiver der daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen. Zwar gab es Prostitution schon lange, bevor sich die kapitalistische Wirtschaftsordnung etabliert hat, doch ebenso wie Leihmutterschaft ist Prostitution im Kapitalismus unwiderruflich angelegt. Hätte es sie vorher nicht gegeben, der Kapitalismus hätte sie hervorgebracht. Wenn alles für den Markt warenförmig zugerichtet wird und jede menschliche Handlung und Funktion für den Handel verfügbar gemacht wird, dann trifft das auch auf die Sexualität zu. Hier tritt dann wieder ein spezifisch patriarchales Ausbeutungsverhältnis auf, da mit großer Mehrheit Männer von der sexuellen Ausbeutung profitieren und Frauen die Ausgebeuteten sind. Einen Klassencharakter kann man auch leicht feststellen, da es insbesondere Frauen aus einkommensschwachen Schichten sind, die in die Prostitution gehen oder dazu gedrängt und gezwungen werden. Um es sehr plakativ auszudrücken: Wie viele Millionärstöchter findet man am Straßenstrich?
 
Auch in den Debatten kommt die ökonomische Lage von Frauen immer wieder zur Sprache, auch bei uns wurde dahingehend argumentiert. Prostitution bietet Frauen unter Umständen eine halbwegs gute finanzielle Absicherung bei vergleichsweise wenig zeitlichem Aufwand im Verhältnis zu vielen anderen Tätigkeiten. Diesen Punkt darf man auf gar keinen Fall unterschlagen, denn dies ist eine der entscheidenden Ursachen für Prostitution innerhalb der bürgerlichen Gesellschaften. Und das ist auch der Grund, warum man Prostitution und professionelle Pornografie im Kapitalismus nicht vollständig wird verhindern können. Solange es sich finanziell rechnet, dass Männer sich für Geld den weiblichen Körper als Gebrauchsgegenstand für Sex oder visuelle und auditive Projektionsfläche ihrer Fantasien kaufen können, wird es beides geben. Die Verbotsforderungen werden das Problem nicht nachhaltig lösen können. Ein Verbot wird Prostitution reduzieren, aber auch gleichzeitig in die Illegalität treiben. Beendet werden kann sie damit nicht, außer man installiert einen monströsen Überwachungs- und Repressionsapparat, um möglichst viele sexuelle Interaktionen zwischen Menschen auf mögliche Prostitution überprüfen zu können.
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Fazit
 
Wer also ernsthaft gegen Prostitution, Leihmutterschaft und die Frau als Ware ist, muss einerseits aus den beim Thema Leihmutterschaft angesprochenen Gründen gegen den Kapitalismus sein. Andererseits muss auch erkannt werden, dass ein Ende von Prostitution im Kapitalismus nicht möglich ist. Auch in einer postkapitalistischen Gesellschaft, so wie wir sie uns im Idealfall vorstellen, wird es patriarchale Prägungen geben und das Ende des Kapitalismus bedeutet nicht automatisch das Ende der Prostitution. Aber es gibt dann überhaupt erst die realistische Möglichkeit dazu, da die Versorgungssischerheit kollektiv gelöst wird und Existenzängste nicht mehr individuelle Problemstellungen sind. Prostitution zumindest aus diesen Gründen fällt damit dann aller Wahrscheinlichkeit vollständig weg. Nur hört man davon in den Debatten etwas? Nein. Als Einschub mag jetzt kommen, dass das ja auch ein sehr großer Anspruch ist und das auf absehbare Zeit einfach unrealistisch in der Umsetzung. Das stimmt. Das Ende des Patriarchats und von patriarchaler Ausbeutung zu fordern, ist aber kaum weniger klein im Anspruch. Und selbst wenn man sich auf den Bereich des Möglichen fokussiert, sollte ein konsequenter Feminismus diese Grundkritik an der bürgerlichen Gesellschaft und dem Kapitalismus immer wieder anbringen und darauf bestehen, anstatt dazu zu schweigen. Wenn diese Kritik nicht erbracht wird, handelt es sich um bürgerlichen Feminismus. Dieser will dann das Elend der kapitalistischen Ausbeutung gleichmäßig auf die Geschlechter verteilen.
 
Wirklich radikal und effektiv kann Feminismus nur sein, wenn er 1. die patriarchale Ordnung angreift, 2. den Kapitalismus überwinden will und 3. mit der Fassade der vermeintlichen Gleichstellung und unserer bürgerlichen Gesellschaft bricht.
 
[Laura Stern und Sophie Rot]

Demobericht der Massenaktion von Ende Gelände am Samstag, 22.06.2019

Für den 19.06. – 24.06.2019 rief Ende Gelände erneut zu Massenaktionen des zivilen Ungehorsams im rheinischen Braunkohlerevier auf.
Die gestrige Aktion fand aus dem Rahmen der Bürgi-Demo heraus statt. Zu dem Zeitpunkt hatte der grüne Finger übrigens bereits eine Nacht die Nord-Süd-Bahn blockiert und damit den Kohltransport lahmgelegt.
Die Demo sollte um 11 Uhr in Hochneukirch starten und an der Kante des Tagebaus Garzweiler vorbeiführen, um schließlich nahe des Orts Kayenberg mit der symbolischen Aktion „Wir bleiben alle“, die auf die Vernichtung der Dörfer für den Kohlegewinn hinweisen sollte, abschließen. Daran beteiligt waren diverse Parteien, Organisationen und Bündnisse wie u.a. Fridays for Future, Greenpeace, die grüne Jugend, Extinction Rebellion, Campact, „Wir bleiben alle“, „Hambi bleibt!“ uvm.

Vordergründiges Ziel der Demo war es natürlich, gegen den Kohleabbau laut zu werden. Hauptsächlich sollte jedoch den AktivistInnen von Ende Gelände durch den Verlauf der Demoroute die Gelegenheit gegeben werden, sicher im Schutz der Demo möglichst nahe an die Tagebaukante zu gelangen, um ihre Aktion durchführen zu können.
Um dies von vorne herein zu unterbinden, veranlassten die Cops noch bereits vor Beginn der Demo und noch bevor der goldene Finger von Ende Gelände überhaupt bei dieser ankommen konnte, die Schließung des kompletten Bahnhofs in Viersen, in dessen Nähe das Camp aufgestellt war. Begründung: Um Straftaten zu vermeiden. Bereits am Vortag hatte die Polizei so agiert. Dieses Vorgehen ist klar rechtswidrig, pauschalisiert sie doch von vorneherein einen kompletten Protest.

Der goldene Finger splittete sich schließlich auf, sodass die AktivistInnen in Kleingruppen mit Bussen und Bahnen von Mönchengladbach aus doch noch zur Demo gelangen konnten. Als die Demo sich aufstellte, formierten sich die 1600 Ende Gelände AktivistInnen des goldenen Fingers bereits in einem kompakten Block aus Achterreihen hinter den TeilnehmerInnen der Bürgi-Demo, bereits bekleidet mit ihren weißen Maleranzügen.

Mit etwa einer Dreiviertelstunde Verspätung begann der Demozug, sich in Richtung des Tagebaus Garzweiler zu bewegen. Als wir uns der Kante des Tagebaus näherten, war bereits ein Wasserwerfer zu sehen und die Bullen flanierten nahe der Abbruchkante.
An einer geeigneten Stelle, startete Ende Gelände dann der Durchbruch. Begleitet von lauten Anfeuerungsrufen der DemoteilnehmerInnen lösten sich die AktivistInnen vom Demozug und stürmten auf die Abbruchkante zu. Die Cops, die zuvor bereits als Kette gebildet bereit standen, versuchten ein Durchkommen zu verhindern, waren jedoch angesichts der großen Zahl der AktivistInnen weitgehend machtlos. Die Polizei ging hart gegen die anlaufenden Aktivistis vor. Einem Großteil des Fingers gelang zu diesem Zeitpunkt bereits das Überwinden der Polizeikette und er startete den Abstieg der Kante. Einige wenige, denen es nicht gelang, wurden von den Bullen festgehalten und zu Boden gedrückt. Die übrigen schlossen sich nun erneut dem Schutz des Demozugs an, versuchten jedoch schon wenige Meter weiter, einen neuen Durchbruch. Da es den Cops nicht gelungen war, sich neu zu formieren, gelang auch dieses Mal einem Großteil der Durchbruch. TeilnehmerInnen der Bürgi-Demo näherten sich ebenfalls der Abbruchkante, um das Geschehen weiter verfolgen zu können und so hatte die Polizei auch damit zu tun, diese Menschen wieder zur Rückkehr auf die Demoroute zu verweisen.

Der restliche Teil des goldenen Fingers schloss sich ein drittes Mal dem Demozug an und startete kurze Zeit darauf auch gleich den dritten und letzten Durchbruchsversuch. Nun war der Großteil des goldenen Fingers im Tagebau, schloss sich dort wieder zusammen und startete seinen Weg, um die Bagger zu besetzen. Die bürgerliche Demo, die ihren Zweck nun weitgehend erfüllt hatte, setzte ihre Route fort zu ihrer symbolischen Abschlussblockade für die verwaisten Dörfer.
Insgesamt teilten sich die insgesamt über 4000 Ende Gelände AktivistInnen des Camps im Rahmen ihre Massenaktionen in vier Finger auf. Der grüne Finger mit Unterstützung des pinken Fingers besetzte 48 Stunden erfolgreich die Nord-Süd-Bahn und blockierte damit erfolgreich den Kohletransport. Der silberne Finger konnte die Hambachbahn besetzen. Damit lagen zwei wichtige Verkehrswege für den Kohletransport still. Die Aktion des goldenen Fingers blieb jedoch weitgehend wirkungslos, da die Bagger ohnehin wegen Wartungsarbeiten still standen. Auch der rote Finger war im Tagebau. Die Aktivistis wussten dies jedoch nicht. Insgesamt hat Ende Gelände es mit mehreren Massenaktionen in den letzten Tagen erfolgreich geschafft, Teile des Braunkohleabbaus zum Erliegen zu bringen.

Sophie Rot und Erich Schwarz

Kurzer Demobericht zue 1. internationalen Fridays for Future Demo, 21.06.2019

Heute fand die erste internationale Fridays for Future Demo in Aachen mit TeilnehmerInnen aus 17 Ländern statt. Geplant war ein Sternenmarsch, bei dem sich im Laufe der Strecke die einzelnen Finger zu einer großen Demo vereinigen sollten. Um 12 Uhr startete der Finger, dem wir uns anschlossen am Hauptbahnhof. Dann ging es durch die Innenstadt in Richtung Stadion. Mit dabei waren Fridays for Future Bündnisse aus mehreren Städten deutschlandweit, zudem die linke und grüne Jugend, die Volt-Partei, Organisationen wie Campact, Greenpeace und Tierrechtsorganisationen. Insgesamt war die Demo natürlich geprägt von sehr jungen TeilnehmerInnen. Viele trugen selbst gebastelte, kreative Schilder mit sich und auch Eltern mit kleineren Kindern waren mit von der Partie.
Linksradikales Potenzial war bei der Demo ebenfalls dabei, jedoch nur am Rande. Antikapitalistische Slogans wurden von der Menge nur selten aufgegriffen. BürgerInnen vom Straßenrand solidarisierten sich, reihten sich mit ein, klatschten und als wir am örtlichen AZ vorbeikamen, wurden Fahnen geschwenkt und Banner rausgehangen. In Plakatvitrinen waren an mehreren Stellen der Strecke Adbustings angebracht.

Insgesamt war die Demo deutlich größer als zunächst angenommen. Schätzungen gehen von 50.000 oder sogar bis zu 80.000 Menschen aus. Die Demo war permanent von lauten Sprechchören erfüllt und gab ein kreatives Bild ab. Ein Wermutstropfen aber war, dass die Polizei den Bahnhof in Viersen sperrte, damit die TeilnehmerInnen von Ende Gelände nicht zu der FFF-Demo anreisen konnten, angeblich „um Straftaten zu verhindern“.

Erich Schwarz und Sophie Rot

Demobericht, Chemnitz, 01.06. Für eine Zukunft ohne Nazis – TddZ verhindern.

Gestern trafen sich Nazis zu ihrem jährlichen „Tag der deutschen Zukunft“ (TddZ). Als Veranstaltungsort wurde dieses Mal Chemnitz ausgesucht, wohl weil sie glaubten, sich dort in ihrer Wohlfühlzone zu befinden. In den letzten Jahren waren zwar die Teilnahme-Zahlen den TddZ deutlich gesunken, die Faschos versprachen sich aber diesmal eine höhere Beteiligung. Spoiler: da lagen sie falsch.

Für uns ging es von Leipzig aus nach Chemnitz. An dieser Stelle nochmal ein dickes Shoutout an die nette Person, die uns kurzfristig und unkompliziert bei sich aufnahm und die Demo mit uns besuchte. Was eine Antifa-Seite so alles möglich macht.

Wir reisten also mit der Leipziger Gruppe an. Eigentlich sollten wir am Chemnitzer Hbf ankommen, jedoch endete die Reise wegen Bauarbeiten bereits an einem früheren Chemnitzer Bahnhof, an dem direkt ein Empfangskomitee der Bullen auf uns wartet und die Leute nicht weiterlassen wollte. Also wurde flugs von der Leipziger Gruppe eine Sponti angemeldet.

Die zog dann auch lautstark in Richtung Versammlungspunkt der Hauptdemo. Da stressten aber bereits die Cops zum zweiten Mal. Wegen angeblicher Vermummung bzw. dem Verdacht, dass es später dazu kommen könnte, wurde die Sponti angehalten. Aber nachdem dies geklärt war, konnte dann weitergezogen werden.

Der Hammer kam dann als wir kurz vor der Hauptdemo standen. Um durchzukommen, sollten Taschenkontrollen bei „verdächtigen“ Personen durchgeführt werden. Wie viele das genau sein sollten, konnte nicht genannt werden. Nachdem bereits ein Gruppenplenum durchgeführt wurde, um die Optionen abzuwägen, gaben die Bullen doch klein bei und wir konnten bis zur Hauptdemo durch. Auch bei weiteren Gruppen, die anreisten, kam es zu vermehrt zu Problemen, da auch diese zunächst gar nicht erst durchgelassen werden sollten.

Als wir dazustießen, war der Versammlungsort bereits gut gefüllt. Ca. 800 Menschen waren dort. Jedoch stießen immer mehr Menschen dazu. Es war sehr bunt gemischt. Von Bürgi-Gruppen bis zu militanten Antifa-Bündnissen war alles dabei. Am Ende waren es ca. 2.000 Leute, auf der Naziseite etwa 250.

Bevor die Gegendemo losging, gab es aber auch schon die erste Begegnung mit der tddz-Demo. Sie wurden dann auch direkt mit Pyro und Böllerwurfen empfangen. Darauf antworteten sie mit antisemitischen „Nie wieder Israel“-Chören. Spätestens da hätte die Polizei die Fascho-Demo auflösen müssen. Passierte aber natürlich nicht. Die ersten drei Blöcke der Demo waren organisiert und die Demo-Orga teilte mit, einen Durchbruchsversuch zu planen und auf die Strecke der Nazis zu kommen, kurz bevor deren Trauermarsch auf unsere Veranstaltung hätte treffen sollen. Dafür haben sich die Blöcke dann formiert. Erste Sitzblockaden auf der Route der Nazis wurden jedoch von den Cops teils brutal geräumt. Außerdem ließ die Polizei teils Presseleute nicht zu den Demos. Zu einem massiven Durchbruchsversuch kam es dann aber nicht.

Die eigentliche Gegendemo lief dann auch erst los, als die Nazi-Demo vorbei war. Es bildete sich ein recht großer schwarzer Block, der sich sehr lautstark und kraftvoll auf der vorgesehenen Route bewegte, um an einer weiteren Stelle einen neuen Blockadeversuch zu starten. Es wurden Ketten gebildet. Leider misslang auch der zweite Durchbruchsversuch. Z.T. bewegten sich Personen unvermummt im schwarzen Block, wodurch einige Ketten aufgerissen wurden und auch die Polizei tat ihr Übriges, indem sie den nächsten Blockadeversuch zerschlug und sicherte die Faschodemo mit massivem Aufgebot ab, für das sie sich Unterstützung aus mehreren anderen Bundesländern geholt hatte. Die Demo setzte sich erneut in Bewegung. Die Cops waren diesmal dabei recht entspannt, auch wenn die Demo immer mal wieder anhalten musste und es auch ein wenig Pyro auf der Strecke zu sehen gab.

Dafür trafen wir noch ein drittes Mal auf die Fascho-Demo. Leider war ein Durchbrechen dank der massiven Polizeiabsicherung nicht möglich. Aber wenigstens konnte man die Trauergestalten noch etwas bepöbeln.

Auf dem Weg zum Hbf, eskortiert von schweren Polizeikräften, wurden die Faschos dann noch besonders mutig und bepöbelten den Gegenprotest, der ihnen zahlenmäßig mehr als deutlich überlegen war. Wäre die Polizei nicht da gewesen, wäre es wohl nicht nur bei ein paar blauen Flecken für die Nazis geblieben.

Alles hat es das Bündnis Bündnis Chemnitz Nazifreigeschafft, eine gelungene Demo mit starker Antifabeteiligung auf die Beine zu stellen. Besonders motivierend war die Sprecherin im Lauti, die es immer wieder geschafft hat, die DemonstrantInnen anzuheizen, zu motivieren und mit ihrer Art, die Demo zu lenken, sicher zu der kämpferischen Atmosphäre beigetragen hat.

Auffällig war, dass die Zahl der DemoteilnehmerInnen zwar noch angestiegen ist, aber bei weitem nicht in dem Maß, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn Nazis eine solche Veranstaltung in einer Stadt planen, weil sich AnwohnerInnen und Tages-Touris nicht in der Nähe der Gegendemo blicken ließen. An der Route direkt oder an den Fenstern anliegender Wohnhäuser waren kaum Menschen zu sehen, die sich der Demo anschlossen. Die Nazis starteten nahe dem Stadtzentrum, in dem sie viele wiederum viele ChemnitzerInnen aufhielten, Eis aßen, mit ihren Kindern im Brunnen spielten usw. Dass nur ein paar Hundert Meter weiter ein Naziaufmarsch stattfand, interessierte sie nicht. Das ist ein Spiegel der Mentalität bzw. Geisteshaltung, der es dem NSU ermöglichte, dort mehrere Jahre unterzutauchen.

Leider konnten die Nazis zwar laufen, aber Chemnitz hat ihnen gezeigt, dass ihnen deutlich widersprochen wurde und sie falsch lagen, in der Annahme, Chemnitz würde für sie ein Heimspiel werden. Sowohl das zivilgesellschaftliche Engagement als auch das der Antifa machte deutlich, dass der Tag der deutschen Zukunft keine Zukunft mehr hat. Gestern wurde bereits Worms für den TDDZ 2020 als Veranstaltungsort bekannt gegeben. Michi–dein Handy hat immer noch die Antifa-Brück (Rechter Kacklappen) zeigte sich sichtlich enttäuscht und geht davon aus, dass auch dort keine größere Nazi-Demo möglich sein wird. Lassen wir seine Alpträume in Erfüllung gehen,

Zum Abschluss des Tages spielten dann Waving The Guns noch ein sehr gelungenes Gratis-Konzert unter dem Karl-Marx-Monument.

Sophie Rot und Erich Schwarz

Demobericht, Frankfurt, 23.03.19, Solidarität gegen den Rechtsruck in Staat und Gesellschaft

Unter dem Motto „Solidarität! Gegen den Rechtsruck in Staat und Gesellschaft“ ging es in Frankfurt heute auf die Straße.

Anlass für die Demo waren v.a. neonazistische Netzwerke in der Frankfurter bzw. hessischen Polizei, insbesondere der selbst ernannte „NSU 2.0“, der der Anwältin Seda Başay-Yıldız (Nebenklage im NSU-Prozess) mehrere Drohbriefe schickte. Außerdem sollte Solidarität mit allen von Rassismus Betroffenen bekundet werden.

Die Zahl der Teilnehmenden wird von den OrganisatorInnen auf 3000 geschätzt, von der Polizei auf 1300, wobei zu sagen ist, dass letztere Zahl deutlich zu niedrig angesetzt ist. Genau können wir die Zahl aber nicht einschätzen, da sich immer wieder Menschen der Demo anschlossen und die Route teils unübersichtlich war.

Ab 14:00 Uhr sammelte sich die Demo am Hauptbahnhof. Sie startete schließlich nach mehreren Redebeiträgen, u.a. von NSU Watch und der Initiative „Keupstraße ist überall“. Weitere Beiträge im Verlauf der Veranstaltung kamen zudem von der Seebrücke Wiesbaden und dem Bündnis „Polizeigesetz stoppen“ aus Dresden (Auch dort findet übrigens im April eine Demonstration anlässlich der Verabschiedung des PolGs statt. Es wurde dafür aufgerufen, dort zahlreich zu erscheinen.)

Der Demozug bewegte sich in Richtung Innenstadt, vorbei am 1. Polizeirevier, aus dem der „NSU 2.0“ wohl die Adresse der Anwältin Başay-Yıldız. Dort ertönte der vollkommen berechtigte Slogan „Nazischweine erstes Revier, euretwegen sind wir hier“ aus tausend Kehlen. Die Cops wurden dann doch etwas nervös und behelmten sich erneut. Auf einer Grünfläche an der Peterskirche zwischen der Konstabler Wache und dem Eschenheimer Tor entzündeten Personen zur Erheiterung der TeilnehmerInnen ein Feuerwerk.

Vor der Abschlusskundgebung wurde ein großes Transpi über dem ersten Block entrollt, aus der Seite wurden dann Rauchtöpfe gehalten. Die Cops fanden das natürlich nicht so lustig und wollten die Demo nicht bis zum Ort der Abschlusskundgebung laufen lassen. Nach einem etwas längeren Disput wurde das Transpi dann doch eingerollt und die Demo konnte zur Abschlusskundgebung weiterziehen.

Die Polizei war mit einem enormen Großaufgebot vor Ort. Anfangs wurde die Demo nicht an der Seite begleitet, im weiteren Verlauf dann aber doch von mehreren Reihen flankiert, teilweise sogar behelmt. Immer wieder waren Wasserwerfer und Räumpanzer an der Seite als Drohkulisse aufgebaut. Eingegriffen in die Demo wurde aber nicht. Ein Disput mit einem Störer wurde kurzerhand von den Demo-TeilnehmerInnen selbst geklärt und dieser der Demo verwiesen (wohl ein Unterstützer des BDS). Auch ein „Free Palestine“ wurde mit einem lautstarken „Schnauze“ kommentiert.

Im Anschluss an die Demo gab es diverse Personalienfeststellungen wegen angeblicher Vermummung.

Insgesamt hat Frankfurt es geschafft, mit einer stabilen Demo ein starkes Zeichen zu setzen.

Nazischweine im ersten Revier – euretwegen waren wir hier!

Erich Schwarz und Sophie Rot

Bild könnte enthalten: eine oder mehrere Personen und im Freien

Demobericht, 16.02., III. Weg in Fulda

Am 16.02. plante der III. Weg einen Fackelmarsch durch Fulda.
Etwa 130 Nazis fanden sich zu ihrem „Gedenken“ der Opfer der Bombardierung von Dresden zusammen. Sie standen der zehnfachen Menge an Menschen des Gegenprotests gegenüber. Bürgerliche Organisationen und Bündnisse riefen dazu auf und es reisten mehrere Einzelpersonen und Antifagruppen aus Hessen an, u.a. aus Frankfurt/M, Marburg und Gießen. Bei der Ankunft am Bahnhof startete eine spontane Demonstration der Antifas Richtung Versammlungsort des III. Wegs. Mehrfach wurde der Zug von den Cops gestoppt, die insgesamt etwa mit einem Aufgebot von 1000 Personen vor Ort waren.
Die Protestierenden sammelten sich hinter den Absperrungen, doch zunächst war der III. Weg noch lange nicht imstande, seinen Fackelmarsch zu beginnen. Dieser war für 15 Uhr angesetzt, doch startete erst gegen 17 Uhr.

Die Stadt Fulda hat klar gezeigt, dass die Neonazis bei ihnen unerwünscht sind. Von mehreren Gebäuden auf ihrer Strecke hingen Banner mit Aufschriften wie „Herz statt Hetze“ oder „Wir sind gegen Rechts“ und aus einem Fenster gab es einen Tomatenwurf auf die Neonazis.
Bei der Bürgi-Kundgebung sprachen u.a. ehemalige Oberbürgermeister der Stadt.
Es gab einige Blockadeversuche, die von den Cops jedoch mit Knüppeln und Pfeffer schnell unterbunden wurden. Es fehlte die Masse an radikal linken DemonstrantInnen, die die Blockaden verstärkte.

Bilanzierend muss man leider feststellen: Der III. Weg konnte seinen Fackelmarsch durchziehen.
So kann man es zwar als Erfolg verbuchen, dass es einen breiten Gegenprotest gab. Militanten Antifaschismus, der den Nazis einen Strich durch die Rechnung hätte machen können, gab es jedoch nicht – obwohl man zahlenmäßig an einigen Stellen den Cops durchaus überlegen war und Durchbruchsversuche möglich gewesen wären.

[Sophie Rot und Erich Schwarz]

https://www.hessenschau.de/gesellschaft/marschierende-neonazis-treffen-in-fulda-auf-massiven-widerstand,demos-fulda-100.html?fbclid=IwAR09gTQW_750Wyc8bG_MeN9XB8QnlGswLWVUtKNmP6PqvNNa5Fw2EecR028