No Border, No Nation

Auf den Demos hört man immer wieder den Ruf „No Border, No Nation – Stop Deportation“. Für viele mag das nur eine Parole sein, dahinter verbirgt sich aber mehr.  Es enthält Kernaussagen anarchistischer Denkweise. Natürlich ist diese Parole nicht der Weisheit letzter Schluss, aber schauen wir uns doch mal an, was genau damit gemeint ist.

 

Wir beginnen mit dem letzten Teil der Parole: „Stop Deportation“ Eigentlich recht simpel: hier wird die Abschaffung aller Abschiebungen gefordert. Dies ist der wohl praktischste Teil des Slogans. Immer noch werden „illegale“ Menschen abgeschoben. Immer noch werden Länder willkürlich zu „sicheren“ Staaten erklärt. Immer noch sterben Menschen. Nur weil ein Innenminister Afghanistan für sicher befindet, werden in dieses kriegsgebeutelte Land Menschen abgeschoben. Aus einer privilegierten Lage heraus wird entschieden wer es verdient hat in diesem Land zu bleiben und wer nicht. Die praktische Umsetzung solcher Forderungen sind immer öfter zu beobachten: Leute aus dem Umfeld, die sich für von Abschiebung bedrohte Menschen einsetzen; Blockierung von Abschiebeflügen; öffentlichkeitswirksame Initiativen vom Flüchtlingsrat oder ähnlichen Institutionen. Solche Aktionen sind notwendig in diesen heutigen Zeiten, in einer Welt in der „No Border, No Nations“ gilt, wären sie aber überflüssig.

 

Alle Grenzen weg! Sofort! Es wäre zu schön, wenn  diese Forderung sofort umgesetzt werden könnte. Aus Sicht des Staatsapparats sind Grenzen aber zur eigenen Machtsicherung unerlässlich. Dabei muss man auch im Hinterkopf behalten, dass blutige Kriege geführt wurden, um Grenzen zu sichern und zu erhalten. Grenzen waren schon immer ein wichtiger Faktor bei der Selbstbestimmung selbsternannter Patriot*innen. Der Stolz auf sein Heimatland ist eine zutiefst irrationale Angelegenheit, vor allem vor dem Hintergrund der kulturellen und sprachlichen Unterschiede. Schwaben und Rheinländer*innen sind zwar per definitionem beides Deutsche, könnten aber nicht unterschiedlich sein. Als zwangskollektivierender Faktor muss deshalb die Nationalität herhalten. Es wird sich auf vermeintlich positive Dinge bezogen, die kulturellen Errungenschaften hervorgehoben (Das Land der Dichter und Denker) und negative Dinge einfach ausgeblendet (Das Land der Richter und Henker).

Künstlich geschaffene Grenzen in einer globalisierten Welt sind jedoch ein Paradigma. Während es für reiche Menschen kein Problem ist Grenzen zu überwinden, trifft es vor allem arme und marginalisierte Menschen. Während Deutsche in der Türkei Urlaub machen, ist es Flüchtlingen untersagt die Türkei zu verlassen. Jede Person, die ihnen hilft, wird mit strenger Strafe bedroht. Deshalb müssen Flüchtlinge auf gefährliche und oftmals tödliche Routen zurückgreifen. Schlepper*innen verdienen sich eine goldene Nase daran und nehmen den Tod von Menschen lächelnd in Kauf. Sie sind das Produkt einer Abschottungspolitik, die auf kapitalistischer Verwertungslogik basiert. Hast du Geld, darfst du rein; bist du arm, bleibst du draußen. Die Grenzen dienen heute also vor allem als Sicherung des eigenen Wohlstands und nicht mehr zur Sicherung von äußeren Feinden.

Es gibt bekanntlich Ausnahmen. Das prominenteste Beispiel dürfte wohl Israel sein. Denn dort sind tatsächlich noch äußere Feinden vorhanden, die seine Bewohner am liebsten heute statt gestern tot sehen wollen würden. Aus der anarchistischen Perspektive ist auch diese Grenze eine künstlich geschaffene und trennende Einheit, sie ist jedoch in der heutigen Zeit, in der (Vernichtungs)antisemitismus immer noch existiert, leider (noch) eine reine Notwendigkeit als Schutzmaßnahme. Wir hoffen, dass diese irrige Weltanschauung irgendwann verschwindet und auch diese Grenzen nicht mehr existieren muss. Die Solidarität gilt hier also den Menschen als marginalisierte Gruppe, die ohne den Schutzraum Verfolgung ausgesetzt wäre. Dies ist eine direkte Konsequenz aus der Shoa.

Natürlich können wir nicht darauf hoffen, dass morgen alle Grenzen verschwinden. Aber für unsere Träume lohnt es sich zu kämpfen. Auf dass das Morden an den Außengrenzen aufhört, jede*r seinen Wohnort selbst wählen kann und Herr*in über sein eigenes Schicksal wird.

 

Der letzte Teil der Demoparole fordert, dass es keine Staaten mehr gibt? Wie soll das gehen? Wir leben doch in Deutschland und können doch nicht behaupten, dass es  keinen Unterschied zu bspw. Saudi-Arabien gibt? Natürlich will niemand Saudi-Arabien und Deutschland heute noch verschmelzen lassen (Islamisierung!). Bestimmte kulturelle und sprachliche Unterschiede lassen sich nicht von heute auf morgen auflösen. Ob es gewollt ist ALLE Unterschiede aufzulösen, ist auch noch eine andere Frage. Als allererstes geht es darum Staatskonstrukte aufzulösen. Diese sind, ebenso wie Grenzen, zur Machterhaltung und -erweiterung gedacht. Wir erleben es gerade in Katalonien. Fühlt sich der Staat bedroht, schickt er seine Prügelcops vor, um nicht seine Herrschaftsansprüche zu verlieren. Die Staaten an sich sind nicht faschistisch, doch ein Rückfall in die dunkelsten Zeiten kann immer wieder vorkommen, wenn der Staat sich bedroht sieht.

Viele werden hier einwerfen, dass man ohne Exekutive, Judikative und Legislative nicht überleben kann.  Dass es ohne bestimmte Regeln nicht geht, versteht sich von selbst. Auch dass es eine bestimmte Art von Verwaltung geben muss, ist klar. Wir sind aber dann doch so daran gewöhnt, dass es einen Staatsapparat gibt, der all das vorgibt. Zwar sind wir in der parlamentarischen Demokratie an der Willensbildung beteiligt, dies beschränkt sich jedoch auf das Wählen bestimmter Parteien. Zwar kann jeder in einer Demokratie sich miteinbringen, der Erfolg hängt jedoch von wesentlich mehr ab als dem eigenen Programm. Radikale linke Politik wird sich kaum durch die parlamentarische Demokratie durchsetzen.

Wie sieht also die Alternative aus? Anarchosyndikalistische Gruppen wie in Katalonien unter der CNT oder in Deutschland nach der Novemberrevolution beantworten dies mit einem revolutionären Konzept. Selbstverwaltung, direkte Einflussnahme in Entscheidungen, Basisdemokratie,  Reformen zum Wohle aller stellen dabei die Hauptpfeiler dar. Leider waren diese Konzepte nicht von allzulanger Dauer, wurden sie doch von außen zerschlagen. Zumindest zeigt uns dies aber, dass es eine probate Alternative gibt.

Ein Staatsapparat ist nicht zwangsläufig nötig. Vielleicht hängen wir auch nur zu sehr an dem Konzept der parlamentarischen Demokratie fest, da uns dies von klein auf beigebracht wurde. Es stellt ja auch eine gewisse Erleichterung dar, wenn man weiß, dass sich Papa Staat um alles kümmert. Nur wenn man sich aktiv mit dem auseinandersetzt, was den Staat ausmacht und was für ein Gesicht er zeigt wenn er herausgefordert wird, kann man schon auf den Gedanken kommen, dass die Ansprüche des Staats nicht der Realität hinterherkommen.

 

Es bleibt erstmal eine Utopie, ein Wunschtraum: „No Border, No Nation.“ Aber alles war erstmal ein Traum, bis es Realität wurde. Wir träumen und kämpfen weiter. Das Ziel ist eine Welt, in der Staatsgrenzen und Staaten in ihrer heutigen Form und Definition nicht mehr notwendig sind. Man darf nicht so blauäuigig sein und denken, wenn wir sofort alle Staaten und Grenzen auflösen, wäre das Ziel erreicht. Im Gegenteil, „no border, no nation“ meint etwas viel Größeres. Es meint eine Welt und künstliche und trennende Kollektivzuschreibungen, eine Welt ohne Diskriminierungen, seien sie nun direkt oder strukturell. Es ist der Traum von der befreiten Gesellschaft, in der wir alle gleichgestellt sind und Staaten und Grenzen schlichtweg nicht mehr brauchen. Diese Parole soll nicht nur auf Demos erklingen, sondern praktisch werden. Wir zeigen uns solidarisch mit allen, die Geflüchteten helfen Grenzen zu überwinden; jede*m, der/die Alternativen zu diesem System entwickelt; jeder Person, die nicht nur die Parole brüllt, sondern dies im Bewusstsein tut mehr erreichen zu wollen. In einer Welt, in der Menschen immer noch dank Frontex sterben oder dank staatlich-kapitalistischer Interessen marginalisiert werden, gilt es praktische Alternativen zu entwickeln und umzusetzen. Es gilt sämtliche diskriminierenden Strukturen anzugreifen – auch bei sich selbst. Der Kampf für die befreite Gesellschaft ist kein einfacher, im Gegenteil. Aber was sollen wir tun, wenn nicht die Utopie aufzeigen, wie es sein könnte? Und uns dafür einsetzen, dass sie ein Stück näher kommt