Aktuell macht der Q-Anon-Wahn auch in Deutschland ziemlich Welle. Unter anderem durch Xavier Naidoo vertreten erfreut sich dieser Mythos einer immer größeren Beliebtheit, der zumindest anekdotischen Erfahrungsberichten nach mehr Leute erreicht als man annehmen könnte. Auch vorher unauffällige Personen teilen Q-Inhalte im Familien- oder Arbeitschat. Eine gute Gelegenheit also, um sich ein wenig mit Verschwörungswahn als Welterklärung zu beschäftigen.
Was ist Q-Anon eigentlich?
Dazu muss ein wenig in die Welt der US-amerikanischen Wahnvorstellungen eintauchen, genauer gesagt in die Welt des sogenannten „Pizzagate“. Pizzagate behauptet, es gäbe einen Pizzaladen in Washington DC, der als Ladenfront für einen Pädophilenring für die Reichen und Mächtigen in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten dienen soll. Mit den Pizzabestellungen würden in Wahrheit nur Codes durchgegeben, die dann entsprechend Kinderblut oder Babys sein sollen. Es hängen natürlich alle mit drin, die man so aufzählen kann: Soros, die Obamas, Bill Gates, die Clintons und so weiter und so fort. Dieses Märchen erlangte einige Popularität und wurde aufgrund der völligen Absurdität vergleichsweise bekannt. Q-Anon hat Pizzagate jetzt abgelöst. Wobei abgelöst ist das falsche Wort, da Pizzagate ein Teil von Q-Anon ist.
Im Zentrum von Q-Anon steht eine unbekannte Person namens Q, die „die Wahrheit“ über die Verschwörung verbreiten würde. In den USA richtet sich diese wie bei Pizzagate vor allem gegen das liberale und demokratische Establishment mit all den üblichen antisemitischen Ausläufern, die solche Wahnideen dann gerne annehmen. Der eh in seinen Ausprägungen bizarre Personenkult um Donald Trump hat dann dazugeführt, diese Verschwörung als gegen Trump als Person gerichtet zu sehen, teilweise soll Trump sogar Q selber sein. Ab 2018 gab es deshalb immer wieder Schilder mit dem Buchstaben „Q“ auf öffentlichen Veranstaltungen von Trump zu sehen. Sein bonarpartistischer, volkstribunenartiger Stil, bei dem er ständig gegen die Eliten wettert, zu denen er selbst ganz besonders zählt, bietet sich an, um Trump als Heiland zu identifizieren.
In Deutschland nimmt dieser Wahn nun noch einmal eine ganz besondere Form an. Zuletzt wurde Q-Anon insbesondere im Zuge des finalen Outings von Xavier Naidoo stark in die Öffentlichkeit gerückt. Was man seit über zehn Jahren wissen konnte, wenn man denn nur wollte, hat Naidoo jetzt in Gänze selber bestätigt. Mehr oder weniger munter (wenn er nicht gerade vor der Kamera in Tränen ausbricht) berichtet er die neuesten Neuigkeiten aus Schwurbelhausen. Ob durch sein öffentliches Einstehen jetzt einfach mehr Leute den gleichen Schritt vollziehen und mit ihrem verschwörungsmythologischen Denken an die Öffentlichkeit treten, oder ob gerade tatsächlich mehr Leute diesem absurden Wahn verfallen, lässt sich schwer sagen und müsste in Einzelgesprächen mit den Betroffenen ermittelt werden.
Die Meta-Wahnidee
Da man den regionalen Bezug zu den USA nicht hat, baut man Q-Anon zur weltweiten Verschwörung aller Eliten gegen die Schlafschafe aus. Dies geschieht auch in den USA selber, man tauscht sich ja eh weltweit aus. Dennoch gibt es regionale Besonderheiten durch unterschiedliche Sozialisation und Differenzen im kollektiven (Schwurbel-)Gedächtnis. Einen Axel Stoll, Gottvater des Wahns, wird außerhalb des deutschsprachigen Raums kaum bekannt sein. Ebenso sind Reichsbürger*innen ein recht spezifisches Phänomen hierzulande. Welche Verzweigungen Q-Anon in Zukunft nehmen wird, ist noch unklar. Sicher ist aber, dass Q-Anon auch eine Form des Eskapismus darstellt. Man kann sich in Echtzeit in einer Form globalen Live-Krimis die Zeit vertreiben und sich die Geschichte selbst erarbeiten. Es ist spannend, mitreißend, emotional und beschäftigt gut. Ein nicht zu verachtender Nebeneffekt davon, dass man sich die Welt erklärt.
Aber es bietet sich an, in einer Zeit wie der aktuellen mit der Corona-Krise die perfekte Erklärung für alles zu liefern. Q-Anon fungiert momentan als Meta-Wahnidee, welche in der Lage ist, so gut wie alle anderen einzubauen. Damit liefert Q-Anon die Blaupause schlechthin für ein geschlossenes Weltbild, mit dem alles erklären kann. Aber wie funktioniert eigentlich so ein geschlossenes Weltbild? Zusammenfassen kann man es mit Pippi Langstrumpf:
Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt
Wir alle sehen unsere Umgebung durch unsere subjektive Perspektive. Wie wir Ereignisse, Gegenstände und Beobachtungen einordnen, bestimmt auch welche Schlüsse wir aus ihnen ziehen und wie wir handeln. Um uns das Leben zu vereinfachen und nicht jede einzelne Beobachtung jedes Mal aufs Neue analysieren zu müssen, bilden wir ein Weltanschauung heraus. Mit ihr ordnen wir in bestimmte Kategorien ein und können mögliche größere Sinnzusammenhänge erkennen und verstehen.
Unterschiedliche politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Theorien sind zumindest in Teilen solche Weltanschauungen. Alle haben sie ihre spezifischen Herangehensweisen, interpretieren und verstehen Zusammenhänge anders. Manchmal nur in Nuancen, manchmal mit einem Unterschied ums Ganze. Oftmals stoßen Weltanschauungen aber an ihre Grenzen. Es ist unmöglich, alle Ereignisse und alle Handlungen vollständig mit einem einzigen theoretischen Ansatz zu erklären, oftmals liefert die Realität Widersprüche in sich selbst und zu den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Theorien.
Das Begreiflichmachen des nicht vollständig Begreifbaren
An solchen Stellen entscheidet sich dann, ob man in die Richtung eines notwendig falschen Bewusstseins, einer ideologischen Zurichtung geht, oder ob man das eigene Weltbild modifiziert und der Realität anpasst. Was ist ein notwendig falsches Bewusstsein? Die Formulierung geht auf Marx zurück, der von einem „falschen Bewusstsein“ sprach, und wurde von Georg Lukács weiterentwickelte. Um sich selber Dinge in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verstehen und sich die Welt zu erklären, bildet man eine eigene Weltanschauung aus. Diese beinhaltet auch eine Erklärung von Widersprüchen, welche man sich selber verständlich macht. Beeinflusst wird man dadurch maßgeblich durch das private und das gesellschaftliche Umfeld. Man ist sich bestimmter Widersprüche möglicherweise theoretisch bewusst, übergeht sie aber einfach oder liest sie anders. Ziel ist dabei, die Grundprämissen des eigenen Weltbildes nicht korrigieren zu müssen. Diesen Vorgang nennt man auch Rationalisieren, weil man sich unlogische Dinge selber rational verklärt.
Zu einem gewissen Grad machen wir das alle, insbesondere im Kleinen. Niemand ist frei davon, sich das Dasein in dieser Gesellschaft dadurch ein wenig zu einfacher zu gestalten und sich nicht den ganzen Tag an allen Widersprüchen den Kopf zu zerbrechen. Ab einem gewissen Grad fängt es aber an problematisch zu werden. Irgendwann wird der Widerspruch zu groß. Von einem geschlossenen Weltbild spricht man dann, wenn man die Realität immer weiter der Erklärung anpasst und die Ereignisse dieser Welt immer verzerrter wahrnimmt.
Das offensichtliche Beispiel sind hier Personen, die Verschwörungsmythen anhängen. Wenn die Juden die Welt im geheimen kontrollieren, kann das mit dem Holocaust ja gar nicht stimmen und der wurde nur als perfider Trick erfunden, um die Menschen noch weiter zu knechten und im Griff zu haben! Alle Beweise des Gegenteils werden dann als Teil des Verschwörungsmythos in diesen integriert und somit für die betreffende Person rationalisiert. Man macht sich die Welt dann so, dass sie zur eigenen Weltanschauung passt. Ab einem gewissen Punkt ist dieser Rationalisierungsprozess so weit fortgeschritten, dass die Person nicht mehr für rationale Argumente und logische Herleitungen erreichbar ist. Das Weltbild ist dann in sich geschlossen und erklärt alles aus sich selbst heraus – auch wenn die Realität eine ganz andere ist. Q-Anon ist dafür aktuell das prominenteste Beispiel.