Das Private ist politisch
Männer unter sich
Für was eigentlich kämpfen?
Lasst uns konkret werden
Wer in den letzten Tagen unter dem Hashtag #Gamestonks einen Blick ins Twitterverse warf, der wurde Zeuge eines bizarren Spektakels: Ein (zumindest letzte Woche noch) etwa 12 Mrd Dollar schwerer Hedgefonds namens „Melvin Capital“(MC) liefert sich einen ungleichen Kampf gegen eine ganze Armee aus Kleinanleger*innen, die sich auf dem Subreddit „Wall Street Bets“ zusammengefunden und organisiert hat. Das Ziel: durch organisierten Aktienkauf die angeschlagene Videospiel-Einzelhandelskette „GameStop“ vor dem Ruin zu retten und damit die Leerkaufwette von MC auf die Marktpleite von GameStop zu verhindern.
Der momentane Stand: MC hat wohl bisher um die 5 Mrd Dollar an Marktwert eingebüßt und musste, wie Hedgefonds-Manager Gabe Plotkin zerknirscht einräumte, milliardenschwere Bailouts von der Konkurrenz annehmen, damit MC nicht komplett baden geht. Dazu sahen sich andere Hedgefonds genötigt teils selber zu verkaufen und Verluste einzufahren. Insgesamt 70 Milliarden Dollar betragen die Verluste auf Leerkaufwetten an der Wall Street allein in diesem Jahr – und ein beachtlicher Teil davon ist der Fastpleite von MC zuzuschreiben. Zwei Hedgefonds hat es (Stand Freitag 12:00) wohl erwischt und weitere „Marktbereinigungen“ sind nicht ausgeschlossen. Der freie Markt tut freie Markt-Dinge und auf einmal ist das Geschrei groß.
Was sind Leerkaufwetten? Man verkauft Aktien an einem bestimmten Zeitpunkt zur gerade aufgerufenen Summe und vereinbart, die Aktie nach einem bestimmten Zeitpunkt zurückzukaufen, in der Regel eine Woche später. Man spekuliert darauf, dass die Aktie in der Zeit an Wert verloren hat und man sie zu einem günstigeren Preis zurückkaufen kann. Man steht also im Idealfall am Ende mit gleich viel Aktien und mehr Cash da. Dadurch, dass man zu Beginn der Wette viele Aktien abgestoßen hat, gibt man zudem einen starken Impuls zur Kurssenkung. Klingt nach Marktmanipulation? Damn right. MC hat nun das Pech, dass der Kurs gezielt gestützt wurde und man nun das zigfache des Verkaufspreises vom Montag hinblättern muss. Wette verloren, Fonds pleite.
Man zeigte sich in Folge dessen von Kapital-Seite tief empört, dass da ein paar Gamer-Nerds so einfach den Spieß umgedreht hatten und im Zeitraum weniger Tage Kapitalanlagen im Wert mehrerer Milliarden US-Dollar durch den Reißwolf gejagt hatten. So empörten sich manche Wallstreet-Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten im Live-Fernsehen über die Affäre. Ja wissen diese Zoomer-Kids denn nicht, dass in diesen Wertpapieren, die da gerade den Bach runter gehen, auch Tante Hedwigs kapital-basierte Privatrente dabei ist? So oder so ähnlich der Erregungskorridor. Zusätzlich zeigte man sich doch nicht ganz so einverstanden mit dem freien Markt und hat inzwischen den Handel mit Gamestop-Aktien weltweit beschränkt und teilweise ausgesetzt. Erst in den USA, als dann international aus Solidarität weitere Stützkäufe von Gamern und anderen erfolgten war auch hier Feierabend mit dem freien Handel. Das Kapital hat tatsächlich Angst vor den Resultaten eines freien Marktes, an dem durch neue Apps auf einmal sehr viel mehr Leute teilnehmen. Oh the irony.
Während dessen herrscht erwartungsgemäß großer Jubel und Party-Stimmung bei der Subreddit-Crowd. Man hat in einem Kampf „David gegen Goliath“ die Wallstreet Fat Cats bei ihrem eigenen Spiel geschlagen und diese bis auf die Knochen blamiert. Und dieser Sieg wird im Meme-Game gerade in vollen Zügen ausgekostet – und das durchaus zurecht. Die Aktie von GameStop war Ende letzten Jahres teilweise um die 6 Dollar wert, das Unternehmen ist in Zeiten von Steam und Co ein anachronistisches Auslaufmodell. Ideal also für Verlustwetten. Doch die Aktie wurde innerhalb weniger Tage in dieser Woche von knapp 20 Dollar auf zeitweise über 420 Dollar gepusht. Begonnen hatte die Organisation des Subreddits bereits in den letzten Wochen. Erst durch Mundpropaganda und dann durch einen Tweet von Elon Musk noch einmal gepusht nahm die Aktion mit der Leerkaufwette am Montag richtig Fahrt auf.
Eines muss man der ganzen Sache lassen: der Unterhaltungswert ist absolut ohne Gleichen. Von selbsternannten Wirtschafts-Expertinnen und verzweifelten Ökonomen, die vor laufenden Kameras einen denkwürdigen Meltdown nach dem anderen hinlegen, bis hin zu den Qualitäts-Memes, die nun das Internet fluten – das Ganze ist ein Fest! Fast in Tränen brechen sie aus, das Manager Magazin schreibt in einer Mischung aus Dunning Kruger und blanker Panik von einer „Mischung aus Klassenkampf, Machtrausch und schlichter Gier“. Oh those tears of unfathomable sadness. Yummie.
Bei genauerer Betrachtung wirft diese Affäre aber auch ein Schlaglicht auf das System Kapitalismus als Ganzes und seine Zusammenhänge. Leider dreht sich die Debatte meistens in den gewohnten, reflexhaften Bahnen, bei der immer wieder die analytisch falsche Unterscheidung in raffendes und schaffendes Kapital in mal mehr, mal weniger Untertönen mitschwingt. Weil es sich um die Wallstreet und dubiose Finanzmarkt-Geschäfte dreht, ist das mediale Framing der Debatte vorprogrammiert. Es werden wieder die Floskeln vom „Kasinokapitalismus“ hervorgekramt, und man ist sich über die meisten Lager hinweg einig im Hass und der Häme auf die Wallstreet-Bankster, vergisst aber darüber hinaus, was die Existenz von Hedgefonds mit dem Kapitalvolumen ganzer Volkswirtschaften eigentlich tatsächlich für das System Kapitalismus als Ganzes bedeuten.
Der nächste Part wird sehr theoretisch, weshalb hier vorab eine Art tl:dnr aka Zirkualtionssphäre für Dummys umrissen wird, um den Sachverhalt dann noch einmal komplexer darzulegen. Grundlegend geht man von zwei verschiedenen Kreisläufen aus Güter- und Dienstleistungssektor zusammengefasst als Produktionssphäre und den Banken- und Finanzsektor als Kapitalzirkulationssphäre. Auf der einen Seite werden Dinge produziert und Dienstleistungen erbracht, auf der anderen Seite wird das dabei erwirtschaftete Geld verwaltet und wieder neu investiert. Ziel ist es, jeweils mit einem Plus am Ende rauszukommen und dann wieder zu produzieren und zu zirkulieren und immer so weiter. Kapitalismus halt.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Zirkulationssphäre aber immer weiter von der Produktionssphäre entkoppelt und führt ein Eigenleben, welches nicht mehr auf den Waren und Dienstleistungen basiert. Wer sich an die letzte große Krise ab 2008 erinnert: Man hat Wertpapiere aus Krediten gemacht und diese dann in weiteren Wertpapieren zusammengefasst und dann Versicherungen darauf verkauft welche dann wieder Wertpapiere wurden. Klingt kompliziert und genau das ist auch gewollt. Man stellt sich gegenseitig Zertifikate aus, vertickt diese dann und solange alle mitmachen und die Preise steigen, ist auch alles gut. Egal, wie es in der Produktionssphäre gerade ausschaut. Man kann es auch Esoterik für Leute im Anzug nennen.
Ein aktuelles Beispiel für die komplette und irrationale Entkopplung: Während in den USA teilweise mehrere dutzend Millionen Menschen durch die Pandemie arbeitslos wurden, erzielten die Börsen Rekordmarken. Und das in einem Land, welches für 2019 folgende Statistiken vorzuweisen hatte:
– 48 Prozent der Bevölkerung haben niedrige Einkommen
– 1 von 5 Kindern geht hungrig ins Bett
– die Hälfte der Bevölkerung hat einen eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsversorgung
– über 2 Millionen Personen im Gefängnis, welche dann in einer Form der modernen Sklaverei Arbeit verrichten
– große Unternehmen wie Amazon zahlen keine Steuern, bekommen aber zig Milliarden Unterstützung
Aber hey, Hauptsache der Börse geht es gut.
Guckt man sich nun die Kapitalmenge an, die so in solchen Hedgefonds zusammengefasst ist, stellt man fest, dass diese gewaltig ist. Weltweit handelt es sich dabei um einen Wert um die 3 Billionen US-Dollar, der größte Hedgefonds (Bridgewater Associate) hat dabei einen Wert von knapp unter 100 Milliarden Dollar. Es ist also eine unvorstellbare Summe, die da in der Kapitalzirkulationssphäre vor sich hin gammelt und verwertet werden muss. Die Summen sind in der Höhe durchaus mit den Staatshaushalten einiger Länder vergleichbar. Allgemein sind die Finanzsysteme aktuell bis zum Bersten mit billigem Geld gefüllt. Und es fließt wegen der Billigzins-Politik der Notenbanken immer mehr frisches Geld nach. Im Bankensektor weiß man schon gar nicht mehr, wohin damit.
Ursprünglich hatte der Bankensektor in der Ökonomie als erste und vorrangigste Aufgabe nur Eines zu tun: Dem privaten Sektor (Bausparenden, Hauskäufer*innen, etc.) und vor allem der produzierenden Industrie Kapital in Form von Krediten zur Verfügung zu stellen, um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu gewährleisten – und anschließend den durch den Verkauf eben dieser Güter und Dienstleistungen generierte Umsatz wieder aufzunehmen. Das Spiel läuft so: Kapital fließt aus dem Bankensektor in die Produktion, um dort nach der „Verwertung“, also der Verwandlung von Kapital in mehr Kapital als vermehrte Kapitalsumme (Mehrwert) zu den Banken zurückfließt. Ein eigentlich einfacher Kreislauf, den das Kapital da immer wieder durchläuft. Aus diesem Grund findet man bei Marx auch die Begriffe „Kapitalzirkulationssphäre“ für den Bankensektor und „Produktionssphäre“ für den Industrie-Sektor, um die Phasen im Verwertungszyklus des Kapitals zu beschreiben.
Nun ist es so, dass diese „Kapitalzirkulationssphäre“ nicht mal eben so beliebig viel Kapital aufnehmen kann. Kapital unterliegt dem Zwang zur permanenten Selbstverwertung. Sprich: Es muss zwangsläufig mit der Kohle etwas gemacht werden; mit dem Ziel, am Ende aus der „Investierten“ Kapitalsumme mehr Kapital zu erzeugen. Alle, die schon mal einen Bausparvertrag bei einer Bank am laufen hatten, wissen, was gemeint ist. Wenn man sein Geld zur Bank bringt, dann will man da seine 2-3 % Rendite drauf haben.
Dementsprechend kann nur so viel Kapital von der Zirkulationssphäre aufgenommen werden, wie auch gleichzeitig in die Verwertung gegeben werden kann. Sollte die Verwertung von Kapital ins Stocken geraten, weil schlicht weg zu viel Kapital in die Verwertung gepumpt wird, gerät Kapital in die Krise – es herrscht Überakkumulation!
Übertragen auf die jetzige Situation an den Finanzmärkten muss man feststellen: Das System befindet sich in eben solch einer Phase der Überakkumulation. Und das schon seit längerer Zeit. Die mit Kapital gemästete Zirkulationssphäre, die in der klassischen Ökonomie eigentlich nur die Aufgabe hatte, den Kapitalverwertungskreislauf beständig am Laufen zu halten, erstickt nun fast am eigenen Gewicht – eine Folge der Überakkumulationskrise, die seit 2008 schwelt und nur durch weiteres Aufblähen der Kapitalmärkte mit billigem Geld aus den Notenbanken geradeso eben am Zusammenbrechen gehindert werden konnte.
Um einen weiteren Krisenschub zu verhindern, der nicht nur mit der Vernichtung des überakkumulierten Kapitals, sondern potentiell mit dem kompletten Systemzusammenbruch enden könnte, müssen nun also alternative Wege gesucht werden, um die abstrakte Wertverwertung sicherzustellen. Selbst dann, wenn dies auf Kosten gesellschaftlichen Reichtums wie Immobilien, öffentlicher Daseinsfürsorge oder schlichtweg von Jobs geht. In diesem Sinne, also der abstrakten Logik der Kapitalverwertung, erfüllen milliardenschwere Hedgefonds, die völlig abstruse Finanzprodukte aus zusammengestückelten Ramschpapieren verkaufen und auf die Vernichtung ganzer Volkswirtschaften wetten, einen spezifischen Zweck – sie halten das Spiel aus ewiger Wertverwertung am laufen.
Stonks is rising
Es zeigt sich also an diesem Fall mal wieder die zutiefst widersprüchliche, ja geradezu irrsinnige Natur dieses Systems. Statt dass Menschen ihre Jobs, ihre Krankenversicherung und ihre Wohnungen durch eine Wirtschaftskrise verlieren, passiert das alles nun unter Umgehung der Krise, zum Beispiel durch Wetten auf Aktienleerkäufe. Entweder das, oder es geht vielleicht der private Rentenfond, auf den viele Rentenbeziehende zum Lebensunterhalt angewiesen sind, in die Binsen. (In den USA ist das sehr viel weiter verbreitet als hier.) Das alles nur, weil er Teil eines Hedgefonds war, der sich beim Wetten verspekuliert hat. Die Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums und der Lebensgrundlage von Millionen Menschen wird dem abstrakten Primat der Wertverwertung untergeordnet. Dabei muss es ja nicht einmal einen Anlass aus der Produktionssphäre geben. Einfach mal gegen ein paar Gamer verzockt und schon sind mehrere Milliarden weg. Das alles wird gerade aus liberalen Kreisen oft ohne den geringsten Anflug von Ironie als das „beste System, das es gibt“ bezeichnet. Leute wie Friedrich Merz sagen dann sogar noch „Hold my Koolaid“ und wollen diese Ausformungen des Finanzsektors stärken und ausweiten. Aber natürlich nur, solange das Großkapital am Drücker ist.
Im Angesicht solcher völligen Gaga-Verhältnisse steht aber auch fest, dass man bei allem Spektakel um blamierte Hedgefond-Manager, durchdrehende Ökonomen (es sind ja vorrangig Männer) und Kapitalisten-bezwingende Vietcong-Gamer sich gerade als Linke nicht bei „Wer ist hier Schuld“-Spielen verzetteln darf. Man kann sich zurücklehnen und dem Karneval der Finanzkulturen beste Unterhaltung abgewinnen, aber man muss immer den Blick aufs große Ganze im Sinne der Kritik an den Verhältnissen wahren. So intuitiv sympathisch einem die Reddit-Kampagne auch erscheinen mag und so sehr man dort einigen Leuten auch den Gewinn gönnt, den sie mitnehmen können – sie sind selber Resultate des grundlegend falschen Systems.
Die Hedgefonds, die Banken und die Börse sind eben sowenig die „bösen“ und „raffgierigen Heuschrecken“, als die sie in einer falschen und gefährlichen Kritik immer mal wieder dargestellt werden. Sie sind lediglich die Symptome eines größeren Zusammenhangs. Selbst wenn man sie mit Regelungen einschränkt und die schlimmsten Auswüchse unterbindet, ein sogenannter „ethischer Kapitalismus“ ist immer noch ein System der Ungleichheit und Ausbeutung, dessen innere Logiken nicht aufgehoben wurden und welches immer wieder von sich das hervorbringt, was man gerade beobachten kann. Nein, das Irrenhaus heißt nicht Hedgefonds, sondern Kapitalismus.
Unsere Kleidung gehört zu den Dingen, die so alltäglich sind, dass wir uns in der Regel kaum Gedanken über sie machen jenseits der Frage, was man denn anziehen solle. Und da sie so alltäglich ist, lassen sich hier einige Beobachtungen im Kleinen anstellen, welche charakteristisch für die Gesellschaft als solche sind. In einer kleinen Textreihe soll dem ein wenig auf den Grund gegangen werden. Der erste Teil wird sich dem wirtschaftlichen Aspekt widmen.
Bei den aktuellen „Hygienedemos“ treiben sich auch Personen des linken Spektrums herum. Auch wenn man dies gern leugnen möchte, ist es so. Zugegebenermaßen gehören sie zu einem linken Spektrum, das man schon vorher etwas belächelt hat. So mobilisierte die MLPD bereits für diese Demos. In München organisierte sie eine Querfrontveranstaltung, auf der auch ein Redner des faschistischen III. Wegs auftreten durfte. Auch andere Splittergruppen aus dem autoritär-marxistischen Bereich warben nicht nur dafür, sondern nahmen auch daran teil.
Die größte linke Gruppe, die sich auf den „Hygienedemos“ herumtreibt und deshalb als Querfront bezeichnet werden kann, sind jedoch wohl die „Altlinken“, die die 68er Bewegung maßgeblich mitprägten. Natürlich sind nicht alle Altlinken so. Im Gegenteil: viele warnen vor jenen, die jetzt zusammen mit Nazis, die sie früher noch gehasst haben, gegen die Maßnahmen zur Eindämmung von Corona protestieren.
Klaus der Geiger, der sonst im Hambi oder davor bei Castorprotesten spielte, tritt nun für die „Hygienedemo“ in Köln auf. Er ist beileibe kein Einzelfall, sondern wahrscheinlich nur der prominenteste Fall. Fragt man selbsternannte Linke, warum sie bei diesen Querfront-Veranstaltungen sind, bekommt man oft als Antwort, dass „es ja um die Sache ginge“. „Die Sache“ ist wohl in diesem Falle die ablehnende Haltung „gegen die da oben“. „Die da oben“ schränken unnötigerweise unsere Handlungsfreiheit ein, so heißt es. Natürlich ist es erstmal aus linker Sicht ablehnenswert, wenn die Freiheit eingeschränkt wird. Jedoch wird die Freiheit aktuell nicht grundlos und willkürlich eingeschränkt, sondern um Infektionen vorzubeugen und so Menschen zu schützen, besonders Risikogruppen.
Schwurbeleien sind bei den 68ern nix Neues und weit verbreitet. Sinnsuche und Spiritualität waren dort schon immer Teil des Ganzen. Die politische Arbeit war sinnstiftend und identitätsbildend. Die Hippie-Bewegung mit ihren esoterischen und anti-rationalen Inhalten verband sich mit der politischen Arbeit. Es überrascht daher nicht, dass die 68er auch heute noch offen sind für „alternative“ Denkmodelle. Ein gefundenes Fressen für Leute wie KenFM oder andere „Truther“, die so auch Nicht-Rechte für ihre Denkweise begeistern können. Denn auch bei Ken Jebsen, Attila Hildman und Xavier Naidoo finden sich einfache Erklärungen für komplexe Probleme, garniert mit einem Hauch Esoterik. Denn nur wenige erleuchtete Eingeweihte wissen, was wirklich geschieht. Genauso sahen sich auch die 68er damals und auch heute noch und finden sich heute bei einem gescheiterten Journalisten, Koch oder Sänger wieder, die jetzt munter Verschwörungstheorien verbreiten.
Denn auch das Kapitalismusverständnis der 68er-Bewegung war in der Masse simpel. Ausgehend von einer antiimperialistischen Grundhaltung wurde die Welt in „gut“ und „böse“ eingeteilt. Gut waren in jenem Falle die unterdrückten Völker, schlecht die kapitalistischen Unterdrücker. Eine komplexe Realität wie der Kapitalismus lässt sich jedoch nicht so leicht in ein Gut/Böse-Schema pressen. Zumal es einen strukturell antisemitischen Grundton aufweist, da bestimmten Ländern ein kapitalistischer aka ausbeutender Charakter oder eben ein antikapitalistischer bzw. ausgebeuteter Status zugeschrieben wird. Der Kapitalismus wird nicht als komplexes System verstanden, sondern personalisiert.
Der Antisemitismus eint die 68er mit den Verschwörungsheinis. Auch wenn sie selbst vielleicht nicht verstehen, warum ihr Denken antisemitisch ist. Selbst ohne direkten Hass gegen jüdische Menschen ist es das. Unterkomplexe Lösungen werden von Jebsen und co. vorgekaut und die Hippies käuen sie wieder. In ihren Köpfen und auch in ihrem politischen Selbstverständnis macht das Sinn. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Altlinke, Hippies und 68er auf den „Hygienedemos“ auftauchen. Name und auch ihr (damaliger) Aktivismus war vielleicht links, aber ihre Ideologie nie, da sie auf regressiven Grundprämissen fußt. Man wird solche Leute auch nicht mehr vom Gegenteil überzeugen können.
Hier sind es halt nicht mehr die USA oder jüdische Menschen, die als der personifizierte Kapitalismus verstanden wird, sondern Bill Gates, der mit Hilfe eines finsteren Plans die Welt unterjochen wird. Hier verbindet sich die unterschwellige Anfälligkeit für Verschwörungstheorien mit einem flachen Verständnis von Kapitalismus. Schon können sich selbst als Linke verstehende Menschen für ein Querfront-Projekt gewonnen werden.
Für Linksradikale, die wirklich diesen Namen verdienen, gilt es daher sich scharf öffentlich von diesen Querfront-Linken abzugrenzen. Sie haben mit ihrem strukturell antisemitischen Denken, ihrer regressiven Kapitalismuskritik und ihrer spirituell angehauchten Sinnsuche nichts mit uns gemeinsam. Dies muss auch öffentlich deutlich werden. Ich will nicht mit solchen Hippies in einen Topf geworfen werden, die unsolidarisch Menschen opfern wollen, um sich die Haare schneiden lassen zu dürfen.
Eine Woche ist es jetzt her, dass sich Kemmerich von der FDP mit Hilfe von Stimmen der CDU und der AfD hat zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lassen. Viel ist passiert in dieser Woche, viel mehr wird passieren. Überraschend ist das Ganze dagegen nun wirklich nicht. Wer sich ein wenig eingehender mit der Normalisierung der AfD im parlamentarischen Betrieb beschäftigt hat, wird die eigenen Erwartungen in weiten Teilen bestätigt sehen.
Im Laufe der letzten zwei Jahre sind immer wieder Kooperationen von Unionspolitiker*innen mit AfD-Leuten zu beobachten gewesen. Diese fanden vor allem auf regionaler Ebene statt, bekannt sein dürfte unter anderem die gemeinsame Front von AfD, Nazis und CDU gegen einen Auftritt von Feine Sahne Fischfilet im Bauhaus Dessau. Einzelne Stimmen aus Union und auch der FDP haben im Laufe der Jahre immer wieder eine Normalisierung der Beziehungen zur AfD angesprochen, wurden aber vor allem in den Anfangsjahren bis zur letzten Bundestagswahl durch die schrittweise Radikalisierung der Partei hin ins völkische und faschistische Spektrum immer wieder durch die Realität überholt.
Die Radikalisierungsphase der AfD ist nun weitestgehend abgeschlossen. Der Flügel und Höcke sind tonangebend und wer auch immer hoffte, die Partei würde nationalkonservativ bleiben, in einem rechtsliberalen Sinne, der oder die hat die Partei inzwischen verlassen. Wer 2020 in der AfD ist, teilt sich die Partei ganz bewusst mit Faschos und sonstigen Rechtsradikalen – oder zählt selbst zu diesen Gruppen. Und das weiß man auch bundesweit. Die AfD wird in der Öffentlichkeit als die rechtsradikale Partei gesehen, die sie ist. Dieser Punkt ist ebenso banal wie wichtig, ist er doch entscheidend für den Umgang mit FDP und CDU.
Denn hier haben wir es mit Berufspolitiker*innen zu tun, denen täglich Brot der politische Betrieb ist. Wenn irgendwer wissen muss, um was für eine Partei es sich bei der AfD handelt, dann diese Leute. Wer also im Jahr 2020 offen aufruft zur gemeinsamen Sache mit der AfD, der ruft offen zur Kooperation mit dem Faschismus auf. Und das in vollem Bewusstsein aller historischen Lehren und aktueller Entwicklungen. Wer 2020 in irgendeiner Art und Weise mit der AfD kooperieren möchte, hält den Faschos die Steigbügel. Und muss deshalb folgerichtig auch so behandelt werden. FDP und CDU können nicht auf einmal total überrascht tun, wenn sie das direkte Ziel antifaschistischen Aktivismus werden. Sollten weiterhin Teile der Parteien, wie zum Beispiel die Werteunion, offen für die Kooperation mit der AfD werben, dann sind diese auch weiterhin Ziel antifaschistischer Aktivität und den entsprechenden Maßnahmen, welche erforderlich sind für einen erfolgreichen Aktivismus.
Wichtig ist dabei aber auch, dass man in diesem Aktivismus sinnvoll abwägt, ob und inwiefern die diskutierten Mittel hilfreich sind. Nach der Wahl Kemmerichs wurden Beleidigungen und Bedrohungen auch seiner Familie gegenüber berichtet, ebenso soll eine FDP-Abgeordnete im Beisein ihres Kindes mit einem Böller beworfen worden sein. Sollte dies den Tatsachen entsprechen, so ist das abzulehnen. Sippenhaft ist nichts, was man sich als Antifaschist*in zu eigen machen sollte. Auch darf man nicht die Augen vor dem Zustand von FDP und CDU verschließen. Denn diese Parteien verfügen nicht über eine einheitliche Position und stehen in den kommenden Jahren vor ernsthaften internen Problemen.
Ideologisch stehen FDP und Unionsparteien der AfD am nächsten. Dies trifft sowohl auf die Wirtschaftspolitik zu (noch ist die AfD fundamental-liberal eingestellt und damit insbesondere der FDP nahe) als auch auf die Sozialpolitik und den Nationalismus. Verbindend ist auch der Hass auf Linke, in der Frühzeit der BRD haben Union und FDP aktiv die Integration alter Nazisgrößen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft betrieben, es fanden sich einflussreiche Netzwerke alter Nazis in beiden Parteien. Gegen Linke konnte man fast nahtlos weiterarbeiten, der Kalte Krieg bot den entsprechenden Rahmen zur Verfolgung. Die Unionsparteien sind im Laufe der Geschichte der BRD faktisch gesehen immer weiter entfaschisiert worden, ebenso die FDP. Offene Nazianbandelei ist heute nicht mehr ohne bundesweite Aufmerksamkeit möglich, früher bestimmten die Altnazis noch direkt das Bild der Parteien.
Es ist unabdingbar, dass man auch aus der radikalen Linken heraus anerkennt, dass es bei Union und FDP Personen und Gruppen gibt, die das antifaschistische Minimum erfüllen und keine Zusammenarbeit in irgendeiner Form mit Faschos unterstützen oder tolerieren wollen. Auf der anderen Seite gibt es als prominentestes Beispiel die Werteunion, welche offen für eine AfD-Zusammenarbeit wirbt und sich aktiv für die Normalisierung von Faschos einsetzt. In diesem Spannungsfeld zwischen einem Ruprecht Polenz, ehemaliger CDU-Generalsekretär, und einem Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Leiter des Bundesverfassungsschmutzes, wird sich die interne Auseinandersetzung innerhalb der Union abspielen.
Die Werteunion ist noch nicht lange aktiv, aber sie ist eine logische Konsequenz aus dem Geschehen der letzten Jahre. Die AfD hat die ehemals klare Aufteilung im Parteienspektrum insofern ausgehebelt, als dass es jetzt eine rechtsradikale Partei gibt, die teilweise zweitstärkste Kraft ist und somit das rechtsradikale Stimmenpotential fast vollständig abrufen kann. Zur NPD konnte man wegen ihrer Kameradschaftsanbindung leicht Distanz halten, bei einer AfD mit breiter Zustimmung bundesweit fällt dies schwerer. Zumal sich in den Reihen der AfD auch viele ehemalige CDU-Mitglieder finden, die über alte Kontakte verfügen. Die AfD hat rechtsradikale Positionen für erheblich größere Bevölkerungsteile wählbar gemacht.
Der klassische deutsche Konservatismus hat viele inhaltliche Schnittstellen mit unterschiedlichsten rechtsradikalen Ideologien. Der Fokus auf die Nation und das deutsche Volk als zentraler Bezugspunkt der eigenen Weltanschauung sind der größte Anknüpfungspunkt, verbunden mit einem hierarchischen Gesellschaftsbild und einem autoritären Herrschaftsprinzip sowie einer kapitalistischen Wirtschaftsweise, der Hass und die Ablehnung alles Linkem wurde bereits erwähnt. Wie stark diese Details gewichtet sind und wie sie genau ausformuliert sind unterscheidet unterschiedliche Ansätze, ebenso wie stark man das plebiszitäre Element einer parlamentarischen Demokratie zulässt. Wer behauptet, man könne klassischen Liberalismus und Konservatismus glasklar von nationalrevolutionären Ideologien und dem Faschismus trennen, lügt. Es gibt keine klare Grenze.
Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich die Werteunion als Scharnier zwischen einem im demokratischen Sinne bürgerlichen Konservatismus und dem nationalrevolutionären Treiben innerhalb der AfD versteht und versucht. Da der Übergang eh fließend ist, kann man ihn auch organisationstechnisch derart gestalten. Das politische Spektrum innerhalb der Unionsparteien differenziert sich unter Einbeziehung des AfD-Aufstiegs aus. Für die Union wird es daher interessant, wie sie als Gesamtpartei damit umgeht. Die Frage stellt sich nicht nur nach Thüringen, sie wird sich auch in Zukunft weiter stellen.
Thüringen kam für die Werteunion und die offene Kooperation mit der AfD vielleicht ein oder zwei Jahre zu früh. Man hat angetestet und festgestellt, dass die Stimmung noch nicht so weit ist. Es wird aber nicht bei diesem Versuch bleiben. Die Werteunion baut ihr Netzwerk erst auf und es wird genügend Kreis- und Landesverbände geben, bei denen die Machtoption das antifaschistische Minimum übertrumpfen werden. Insbesondere wenn der Antikommunismus tief sitzt, alles Linke mit Insbrunst gehasst und abgelehnt wird, hat die AfD gute Chancen auf Annäherung der Union. Die Linken, die Antifa – ein gemeinsamer Feind verbindet und was sind dann schon die paar etwas zu harschen Aussagen von Höcke? Hauptsache man hat den Linken eins ausgewischt. Genau solche Aussagen gab es unmittelbar nach der Wahl Kemmerichs zu vernehmen, bis die Bundesspitze bei Union und FDP dem einen Riegel vorgeschoben hat.
Für eine direkte Kooperation auf Landesebene bieten sich aktuell insbesondere die neueren Bundesländer an, in denen die AfD teilweise zweitstärkste Kraft ist und auch über sehr rechte Landesverbände von CDU und FDP verfügt. Sachsen-Anhalt und Sachsen sind hier die offensichtlichen Kandidaten, aber auch Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg können in Frage kommen, sollte die Union den Platz in der Regierung verlieren. Es ist eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis es zu einer offenen Kooperation kommt.
In den Reihen müssen sich dann die Mitglieder, die das antifaschistische Minimum erfüllen und auch ernsthaft vertreten, mit den Mitgliedern umgehen, die dieses Minimum aktiv untergraben. „Wie hältst du es mit der AfD“ dürfte in den kommenden Jahren zur Gretchenfrage werden. Für einige wird sich auch die Frage stellen, ob sie die Partei verlassen, wenn man Gruppierungen wie die Werteunion nicht ausschließt. Es ist anzunehmen, dass sich in den nächsten zehn Jahren auch auf Bundesebene das absolute Kooperationsverbot als Feigenblatt verabschiedet und man zumindest den Landesverbänden offiziell die Faschokuschelei erlaubt. Konservative und Liberale haben auf Partei- und Organisationsebene noch nie von alleine den antifaschistischen Minimalkonsens gehalten und sie werden es auch in Zukunft nicht.
Aus antifaschistischer Sicht ist es daher geboten, sich die Demarkationslinien innerhalb von Union und FDP genau anzuschauen und nicht blind alle Parteimitglieder als Ziel antifaschistischen Aktivismus anzusehen. So wenig man darauf auch Lust haben mag, im Notfall muss das antifaschistische Minimum auch innerhalb von Union und FDP gestützt werden, sollte die Situation es erforderlich machen. Wichtig ist dabei aber zu beachten, dass es sich ausschließlich um konkrete sachbezogene Aktionen und Themen handeln kann. Jenseits der Fragen des antifaschistischen Minimums gibt es wenig bis gar nichts Verbindendes und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dort Genoss*innen vor sich zu haben.
Auch darf man aus radikal linker und antifaschistischer Perspektive nicht den Fehler begehen und sich zu sehr auf sämtliche Parteien im Parlament verlassen. Insbesondere die gerade überall zu sehenden wehmütigen Gedanken an das Ende von Merkels politischer Karriere strafen jeden eigenen Anspruch Lügen. Ob darin der Wunsch nach gedulsamer Führung durch „Mutti“ oder eine andere Person zum Ausdruck kommt, die eigene Anspruchslosigkeit oder die Angst vor Wandel ist in der Summe nicht zu sagen. Merkel und Co aber über Gebühr als antifaschistische Vorkämpfer*innen zu stilisieren kann aber nicht der Weg sein. Die Union ist auch unter Merkel eine sozialchauvinistische und rassistische Dreckspartei, die nichts gegen den Klimawandel tut und mit Vorliebe auf Linke einprügelt.
Die radikale Linke muss sich in erster Linie auf sich selber verlassen und darf sich auch nicht in inhaltlicher Anbiederung an die eh nicht vorhandene „bürgerliche Mitte“ selbst aufgeben. Es gibt im Falle der AfD nur die Frage, wie konsequent antifaschistisch man ist und wie weit man solidarisch mit entsprechendem Aktivismus ist, auch wenn selbst bestimmte Aktionsformen nicht ausführen würde. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass das alles kein Selbstbespaßungs- und Selbstdarstellungsladen ist. Es muss Antifaschismus immer und vorrangig um die praktische Umsetzung gehen und er muss auf Resultate abzielen. Wenn dann Antifaschist*innen es als erforderlich ansehen ein wenig unverkrampfte Automobilkritik zu äußern oder das Schlüsselbein vom Nazi mal knacken muss, nehmen sie bewusst das Risiko der Strafverfolgung auf sich, um ein Ziel zu erreichen. Und dieses ist nicht die Selbstvergewisserung der eigenen Radikalität. Im Notfall muss man da auch zurückstecken und bei klarer inhaltlicher Positionierung anschlussfähig nach außen bleiben, um eben kein Selbstbespaßungsladen zu werden.
Leicht ist das alles nicht, aber es wird auch in den kommenden Jahren nicht leichter. Die AfD hat es geschafft, dass vorhandene rechtsradikale Stimmenpotential abzugreifen. Was jetzt passiert, wo dieses erstmals eine bundesweit etablierte parteiliche Organisation hat, ist nicht vollends abzusehen. Sicher ist aber, dass es in einigen Regionen zu einem merklichen Einfluss kommen wird und sich nationalistische und völkische Hegemonien ausweiten können. Wie erfolgreich die AfD beim Ausbau ihrer Stimmanteile werden kann, hängt auch zu einem Teil davon ab, wie CDU und FDP es schaffen, den antifaschistischen Minimalkonsens innerhalb ihrer Parteien durchzusetzen. Insbesondere auf Landesebene sollte man sich da aber keinen allzu großen Illusionen hingeben. Liberale und Konservative sind durch die großen inhaltlichen Schnittstellen zu anfällig für die Kooperation, als dass sie es dauerhaft durchhalten könnten, die AfD auszugrenzen. Der Faschismus ist schließlich ein Resultat der Moderne und der bürgerlichen Gesellschaften.
Die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam hat eine neue Ausarbeitung veröffentlicht. Darin geht es um die weltweit wachsende Ungleichheit und das weitere Auseinanderdriften der Einkommensverteilung und Arbeitsbelastung.
Wer sich mit dem Themenkomplex ein wenig auskennt, wird hier keine großen Neuigkeiten vorfinden. Die einzelnen Punkte sind wohlbekannt und wurden hier publikumswirksam mit persönlichen Geschichten garniert, um das manchmal trockene Runterbeten von Zahlen emotional zugänglicher und greifbarer zu machen. Ein alter und weil wirksam gerne genommener Trick. Der Schwerpunkt liegt hier auf zwei Personengruppen: Milliardäre (Oxfam zählt 2153, von denen laut Forbes Magazin 233 Frauen sind) auf der einen Seite und Frauen/Mädchen in den unteren Einkommensschichten auf der anderen Seite. Mit dieser Gegenüberstellung fährt Oxfam die gerade populäre Schiene, sich an den Extremauswüchsen der kapitalistischen Wirtschaftsweise abzuarbeiten und einen faireren Kapitalismus zu skizzieren, ohne jedoch den Kapitalismus in seinen Grundmechanismen überhaupt als Problem wahrzunehmen.
Dieser Umstand zieht sich auch in vielen kleinen wie großen Dingen durch die Veröffentlichung durch und letztendlich führt sie auch zu einer schwierigen Implikation, wie sie mit dem Sharepic von HR Info deutlich wird. Die dahinterstehende Problematik beruht im Grunde auf dem Verständnis von Arbeit und Entlohnung und berührt auch aktuelle Trendbegriffe, die teilweise in urfeministische Bereiche hineinreichen. Zentral ist dabei das Feld der Reproduktionsarbeit bzw. der Care-Arbeit, was sich intuitiv besser greifen lässt. Zu diesem Bereich zählt man Kinderbetreuung, Pflege, Hausarbeit und im weiteren Sinne nach Margrit Brückner „de[r gesamte] Bereich weiblich konnotierter, personenbezogener Fürsorge und Pflege, d.h. familialer und institutionalisierter Aufgaben der Versorgung, Erziehung und Betreuung und stellt sowohl eine auf asymmetrische Beziehungen beruhende Praxisform als auch eine ethische Haltung dar.“ ^1
Sowohl Feminist*innen als auch radikale Linke haben die geschlechterasymetrische Verteilung dieser Tätigkeiten und somit die Ausbeutung von Frauen im Familienverbund und auf gesellschaftlicher Ebene seit weit über 100 Jahren aufgezeigt und kritisiert. Die Soziologie liefert ebenfalls seit Jahrzehnten entsprechendes Datenmaterial und es liegt vor allem an der eigenen weltanschaulichen Ausrichtung, wie man diese Ungleichverteilung der geleisteten Carearbeit einordnet. Rechte zum Beispiel sehen darin in der Regel kein Problem, da für sie Frauen als selbstverständlich angenommen emotionaler sind und so „natürlich“ besser für Erziehung und Pflege geeignet seien als Männer. Sie nehmen solche Tatsachen daher eher mit einem Schulterzucken zur Kenntnis und bekämpfen im Gegenzug jegliche Gleichverteilungsbestrebungen.
Soweit erst einmal der allgemeine Rahmen, aber wo fangen jetzt aus linker Sicht die Probleme an? Hier wird ja eine Gleichverteilung der zu leistenden Arbeit angestrebt. Im Sharepic des HR kann man das Wort „unbezahlt“ lesen. Und je nachdem, was man jetzt als Arbeit definiert, ist das auch vollkommen richtig. Im Endeffekt gibt es für alles, was man als menschliche Tätigkeit und soziale Interaktion vornehmen kann, eine Möglichkeit der Monetarisierung, also der Lohnarbeit. Insbesondere wenn man von Erziehungs- und Pflegearbeit spricht, gibt es für alles bezahlte Jobs. Aber auch – jetzt folgt ein aktueller Trendbegriff – „emotional labour“ kann bezahlt werden. Eigentlich wird darunter verstanden, dass man sich auf Arbeit für Kolleg*innen und Kundschaft verstellt, heutzutage wird der Begriff aber teilweise für so ziemlich alles verwendet, was man unter „Leuten zuhören“ verstehen kann. Dafür gibt es ausgebildete Psycholog*innen, deren Job es ist, Leuten bei ihren Problemen zuzuhören. Sex wird unter dem Motto „Sexarbeit (ist Arbeit wie jede andere)“ ebenfalls in diesen Bereich eingemeindet.
Unstrittig ist, dass es eine geschlechterspezifische Ungleichverteilung gibt. Die Frage ist nur, ob man diese in Form von Lohnarbeit der kapitalistischen Verwertung unterwerfen soll. Soll jetzt alles, wofür man Geld nehmen kann, auch der Lohnarbeit unterworfen werden? Stellt Mama demnächst Rechnungen für das Putzen der Wohnung und lassen sich Freunde emotional labour auszahlen, wenn sie deinem Liebeskummer für ein paar Wochen zuhören? Diese Beispiele sind zugespitzt, treffen aber den Kern des Problems der unebzahlten Carearbeit. Auf der einen Seite wird der Bereich der Carearbeit momentan immer weiter gefasst (siehe emotional labour, was einem immer häufiger unterkommt), auf der anderen Seite diese Arbeit dann als un- oder unterbezahlt aufgezeigt und somit in letzter Konsequenz zu Lohnarbeit gemacht.
Wer mit der Warenwerdung von Produkten, Tätigkeiten und letztendlich von Menschen selbst im Kapitalismus vertraut ist, muss hier die Alarmsignale wahrnehmen. Die Lösung der ungleichverteilten Tätigkeiten im Carebereich kann nicht sein, dass man noch mehr Tätigkeiten der kapitalistischen Verwertung unterwirft. Zumal die einzelnen Felder in der Regel nicht genau taktbar sind und somit rationalisiert werden können. Die Kindheit und Alter passen schlecht in Verwertungslogiken des Kapitals und Gewinnerzielungsinteressen und Rationalisierung betreffen ganz direkt die Lebenqualität. Wenn man wie Oxfam kein Interesse daran äußert, den Kapitalismus zu überwinden, läuft man Gefahr, hier mit einer an sich unterstützenswerten Forderung neue Bereiche der kapitalistischen Verwertung zu unterwerfen, die dann aber bitte geschlechtergerecht zu verwerten sind. Und die sich auch nicht wirklich kapitalistisch verwerten lassen, ohne das soziale Gefüge zu einem großen Teil zu verkapitalisieren. Niemand sollte ein Interesse daran haben, familiäre und freundschaftliche Interaktionen unter emotional labour einzuordnen und monetär aufzuwiegen, selbst wenn es nur im Kopf geschieht. Was wäre die letztendliche Konsequenz aus einer bis zu Ende gedachten Lohnarbeit für emotional labour? Stellen sich Freundeskreise am Ende vom Monat gegenseitig Rechnungen aus?
Was mit Bereichen passiert, die der kapitalistischen Verwertung unterworfen werden, sieht man im Bereich der Medizinversorgung. Und genauso sieht man die Unterschiede, die Eingriffe von öffentlicher Seite bewirken können. Man muss sich nur einmal die die Gesundheitsbranche in den USA anschauen. Dort kostet die Geburt eines Kindes im Krankenhaus durchschnittlich 10.000 Dollar. Ja, richtig gelesen. Man muss im Schnitt 10.000 Dollar dafür zahlen, dass man im Krankenhaus ein Kind gebirt. Teilweise wird sogar das Halten des Babys nach der Geburt in Rechnung gestellt. Untersuchungen im Krankenhaus kosten schnell vier- bis fünfstellige Beträge und viele Menschen können sich lebensnotwendige Behandlungen und Medikamente nicht leisten. So sieht eine im Vergleich unregulierte kapitalistische Verwertungslogik aus. Bei aller notwendig zu leistender Kritik am deutschen Gesundheitssystem (oder anderen vergleichbaren), sind die Unterschiede in der Breitenversorgung eklatant. Niemand stürzt hier durch die Kosten einer Herzoperation direkt in die Armut.
Der Bereich der Carearbeit, insbesondere der Bereich der Pflege, ist vor solchen Zuständen wie in den USA auf jeden Fall zu bewahren. Eine Ausweitung der Lohnarbeit auf Caretätigkeiten jeglicher Art birgt diese Gefahr immer in sich. Und mit einer CDU am Drücker sollte man auch vorsichtig sein, welche Forderungen man stellt. Spahn wirbt aktuell um Pflegekräfte aus Lateinamerika, um die hiesigen Leerstellen zu besetzen. Das europäische Ausland wurde schon größtenteils abgegrast und es sind solche Vorgänge, die von Oxfam und anderen zurecht kritisiert werden. Genau solche Missstände sollen durch eine Aufwertung der Carearbeit auch monetär behoben werden. Nur werden sie das nicht langfristig verhindern können, wenn sie die Lohnarbeit als Konzept stärken und den Kapitalismus in seinem Lauf nicht überwinden wollen. Oxfam selber fordert auf Seite 43: „[…] shift the responsibility for of unpaid care work to the state and the private sector.“ ^4 Es wird also eine Ausweitung der kapitalistischen Privatwirtschaft gefordert, wenn auch unter gewissen „fairen“ Rahmenbedingungen.
Idealerweise muss der Kampf um Geschlechtergerechtigkeit bei der zu leistenden notwendigen und erforderlichen Arbeit ein antikapitalistischer sein und Menschen wie menschliche Tätigkeiten entkomodifizieren, sie also der kapitalistischen Verwertung entziehen. Dies trifft vor allem den sozialen Bereich somit die Carearbeit. Sicher ist das schwer inmitten einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Aber in einer postkapitalistischen Gesellschaft mit überwundener Lohnarbeit und einem viel niedrigerem Arbeitspensum als heutzutage nehmen soziale Aktivitäten einen sehr viel größeren Wert ein als heutzutage. Gerade die Benachteiligung von Frauen rührt innerhalb des Kapitalismus zum Teil daher, dass sich die ihr zugeschriebenen Tätigkeiten und das Gebären der Kinder nicht einfach plan- und berechenbar der Verwertung unterwerfen lassen. Man muss also die Gratwanderung schaffen, einerseits die geleistete Arbeit im Carebereich besser zu entlohnen und die Geschlechterasymetrie zu beenden, anderseits aber darauf zu achten, nicht der Verwertbarkeit anheim zu fallen und im Namen der Emanzipation das Spiel des Kapitalismus betreiben und Wege zu finden, dessen Verwertungslogik von links auszuweiten. Stattdessen kann man über den Bereich der Carearbeit einen neuen Gesellschaftsansatz konzipieren, der eben jene Logik überwindet und als Blueprint für andere Dienstleistungsbereiche dienen kann und auch für die Güterproduktion postkapitalistische Anregungen liefert.
^1 Brückner, Margrit: Entwicklungen der Care-Debatte – Wurzeln und Begrifflichkeiten. In: Apitzsch, Ursula; Schmidbaur, Marianne (Hrsg.): Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechter- und Armutsgrenzen. Verlag Barbara Budrich, Opladen 2010, S. 43
„Liebknecht auf der Flucht erschossen – Rosa Luxemburg von der Menge getötet!“ titelte die Berliner Zeitung am 16.01.1919. Eine dreiste Lüge.
Am 15.01.1919 wurde Rosa Luxemburg Opfer eines Mordkomplotts, Karl Liebknecht ebenfalls hinterrücks erschossen.
Luxemburgs Leiche bargen Schleusenarbeiter am 31. Mai aus dem Berliner Landwehrkanal.
Am Abend des 5. Januar 1919 besetzten bewaffnete SpartakistInnen das Berliner Zeitungsviertel. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg konnten der Festnahme zunächst entgehen. Obwohl dieser Aufstand rund 160 Beteiligte das Leben gekostet hatte, verteidigten beide vehement ihre Propaganda. Luxemburg hatte am 7. Januar in Die Rote Fahne Position für die notwendige Gewalt bezogen: „Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen.“
Die untergetauchten Luxemburg und Liebknecht wurden an ihrem Todestag im Berliner Hotel Eden unter Misshandlungen vernommen. Nachdem sie aus dem Hotel gebracht wurde, wurde mehrmals mit einem Gewehr auf sie eingeschlagen, sie in ein Auto gestoßen und zum Landwehrkanal gefahren. Weil sie zu dem Zeitpunkt noch nicht tot war, wurde sie mit einem Kopfschuss ermordet und ihre Leiche anschließend in den Kanal geworfen.
Der Soldat Franz Röpke meldete seinem Vorgesetzten Hauptmann Weiler: „Eben ist die Rosa Luxemburg ins Wasser geworfen worden, man kann sie noch schwimmen sehen.“
Waldemar Pabst, ein deutscher Offizier und stets bemüht um Verknüpfungen zwischen der deutschen Armee, rechten Organisationen und Rüstungsindustrie, initiierte die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs. „Ich ließ Rosa Luxemburg richten“, sagte er später in einem Interview, weil Deutschland nur so vor dem Kommunismus hätte gerettet werden können (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45139766.html ).
Im Prozess vor dem Kriegsgericht, den Paul Jorns führt, später Chefankläger an Hitlers Volksgerichtshof, gegen neun Soldaten, tritt Pabst nur als Zeuge auf.
Leutnant Liepmann gesteht, Liebknecht getötet zu haben, wird aber von der Anklage des Mordes freigesprochen, da Liebknecht eben „auf der Flucht erschossen“ worden sei. Nur Sechs Wochen sitzt Liepmann ab. Luxemburgs Mörder wird nie gefunden. Pabst musste sich nie für einen der beiden Morde verantworten.
Ihr Tod machte Rosa Luxemburg bekannt.
Ihr Tod machte sie zur Heldin.
Ihr Tod machte sie zur Märtyrerin.
Ihrer gedenken jährlich Hunderte an ihrem Grab, mag es auch zynisch sein, Luxemburg und Lenin in einem Atemzug zu nennen. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen beiden ist der Januar als Todesmonat und der Anfangsbuchstaben L. Die Alliteration, die daraus hervorgeht, Lenin-Liebknecht-Luxemburg genügt offensichtlich, um namensgebend für Gedenkveranstaltungen zu sein.
Obwohl die Positionen beider ihren Ursprung in der Sozialdemokratie hatten, standen sie sich in einigen Aspekten diametral und unwiderruflich unversöhnlich gegenüber.
Ein zentraler Punkt war der Stellenwert bzw. die Funktion der Partei, um die Revolution voranzutreiben.
Der demokratische Sozialismus, für den Luxemburg stritt, konnte ihrer Ansicht nach nur aus der Gesellschaft heraus geboren und mittels Kämpfen der ArbeiterInnen forciert werden. Der Partei schrieb sie eine beratende, unterstützende Rolle zu, entscheiden sollte die betroffene Klasse und zwar u. U. auch entgegen des Parteiwillens handeln.
Paul Levi, der seit 1913 ihr Anwalt war und ihr zudem mehrere Monate als ihr Geliebter sehr nahe stand, schrieb er in seinem Vorwort zur von ihm erstmals veröffentlichten „Russischen Revolution“: „Sie wusste den Kampf als Kampf, den Krieg als Krieg, den Bürgerkrieg als Bürgerkrieg zu führen. Aber sie konnte sich den Bürgerkrieg nur vorstellen als freies Spiel der Kräfte, in dem selbst die Bourgeoisie nicht durch Polizeimaßnahmen in die Kellerlöcher verbannt wird, weil nur im offenen Kampf der Massen diese wachsen, sie die Größe und Schwere ihres Kampfes erkennen konnten. Sie wollte die Vernichtung der Bourgeoisie durch öden Terrorismus, durch das eintönige Geschäft des Henkens ebenso wenig, als der Jäger das Raubzeug in seinem Walde vernichten will. Im Kampf mit diesem soll das Wild stärker und größer werden. Für sie war die Vernichtung der Bourgeoisie, die auch sie wollte, das Ergebnis der sozialen Umschichtung, die die Revolution bedeutet.“ (https://www.rosalux.de/publikation/id/1329/rosa-luxemburg-die-unbekannteste-bekannte-in-deutschland/?fbclid=IwAR0kLPNWKtmWidjcDvBxfeS-LehVDjD5DOqOYBbxc0SOTBOVQdJ7aCblb7c )
Mit Rosa Luxemburg starb nicht nur eine von wenigen Frauen, zudem akademisch gebildet, die in der Weimarer Republik aktiv Politik betrieben, sondern auch eine Frau, deren Utopie keine Terrorpraxis einer totalitären Partei brauchte, keine Gruppe von Tyrannen an der Spitze. Sie brauchte überhaupt keine Spitze. Mit ihr starb eine Frau, die sich für jene einsetzte, die sie ermordet hatten und mit ihr starb eine Frau, um die die heutige SPD die damalige SPD beneiden würde.
[Sophie Rot]
Werter Freundeskreis des Hufeisens, das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Seit etwa eineinhalb Jahren sind wir jetzt aktiv und gehen den diversen Hufeisenwürfen und Ausprägungen des Schmiedehandwerks nach. Nicht alles ist ein Treffer (Entschuldigung dafür an dieser Stelle) und es wird auch nicht immer nur dem klassischen Hufeisen von rinks und lechts dokumentarisch Raum gegeben. Ideengeschichtlich und politiktheoretisch ist das Hufeisen ein recht begrenztes Feld, auch wenn sich insbesondere Rechte jede Mühe geben, es spannend zu halten.
Die Seite ist als Nebenprodukt entstanden und wird nicht immer mit der Sorgfalt betrieben, die das Thema verdient hat. Das hat sich in den letzten Monaten etwas geändert. Grund dafür ist insbesondere das Buch „Extrem unbrauchbar“ vom Verbrecher Verlag. Dort durfte die Seite in Form eines Interviews einen kleinen Teil beitragen und hat sich doch ganz gut geschlagen neben den anderen Beiträgen. Dankenswerterweise können wir nach Rücksprache mit den Herausgeber*innen das Interview veröffentlichen, welches im Sonner 2019 entstanden ist.
Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Diskurs, denn insbesondere der Aufstieg der AfD hat Fragen rund um Extremismustheorien, Hufeisentheorie und Totalitarismustheorien mit neuer Relevanz versehen. Die Rechtsradikalen rekurieren ausgiebig auf diese drei eng miteinander verbundenen Theoriegebilde und versuchen diese in ihrem Sinne bestmöglich zu instrumentalisieren. Aus rechts wird links, aus Rechtsradikalen werden Antifaschist*innen, aus Antifas werden Nazis, die aktuelle Gesellschaft einem totalitären Meinungsdiktat von links unterzogen, Merkels Regierungszeit zum totalitären Regime und die AfD zur einzigen Partei frei von Antisemitismus.
Die Rechte kämpft aktiv und offensiv um Meinungs- und Deutungshoheit. Dabei bedient sie sich – wenn auch viel plumper und intellektuell ohne jeglichen Anspruch – der gleichen Taktik wie die rechtsradikalen Denker vor 100 Jahren, auf die sich bis heute bezogen wird. An die fraglos vorhandene geistige Größe eines Carl Schmitt, eines Oswald Spengler, eines Moeller van den Brucks, der Stilistik eines Ernst Jüngers oder der rhetorischen Schärfe eines Goebbels kommen die Heerscharen der heutigen Wiedergänger nicht heran. Das liegt auch daran, dass es kaum originäre Theorieproduktion gibt, während das Ende des Ersten Weltkriegs und das Ende der Epoche der klassischen Moderne eine rege ideologische Verarbeitung der Kriegserlebnisse bewirkte. 1914 und die Ereignisse von 1918/19 wirkten als Katalysator für rechtsradikale Theoretiker und ließen – nicht nur aber auch speziell in Deutschland – die Grenzen des semiabsolutistischen wilhelminischen Kaiserreichs als Staatsform wegfallen und schufen den Raum für regen Utopismus von rechts.
So ziemlich alles, was man heute aus den Reihen der AfD und anderer rechter Agitationsplattformen vernimmt, ist nur ein maximal lauwarmer Aufguss der Theorieproduktion der Weimarer Republik. Und so ist auch das Hufeisengewerbe immer noch mit den selben Themen wie dereinst befasst. Wenn Alexander Gauland in Schnellroda referiert, dann ist das nichts weiter als eine Aktualisierung des antisemitischen Ideologems der wurzellosen Kosmopoliten für die Jetztzeit. Leicht ist das nicht, mehr als eine gewissenhafte handwerkliche Fleißarbeit aber auch nicht. Wenn Leute wie Sellner bis Peterson vom Kulturmarxismus reden, dann ist das nur die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung für die Weltordnung nach dem Ende des Bolschewismus.
Denn neben dem Klassiker der Gleichsetzung von links und rechts ist vor allem die Ideologie des Antikommunismus ein immer wiederkehrendes Element. Darunter ist nicht Kritik oder Ablehnung von Kommunismus allgemein oder der realen Verhältnisse sozialistischer Länder und Diktaturen gemeint. Die Ideologie des Antikommunismus lässt sich auf folgenden Satz herunterbreche: „Everything I don’t like is communist.“ Darunter fallen dann auch Sachen wie „linke Meinungsdiktatur“, „rot-grün versifft“, „Klimadiktatur“ und andere Späße, mit denen Rechte eben nicht nur Personen mit kommunistischer Weltanschauung bedenken. Davon ist Thunberg genauso betroffen wie die SPD, die Antifa und der lokale Ableger der FAU.
Dieser Antikommunismus war es auch, der eine reibungslose Integration von Nazis in die BRD ermöglichte. Teile der alten Ideologie durfte man nicht mehr öffentlich kundtun, anderen aber im neuen Gewand öffentlich und offiziell weiter nachgehen. Der Verfassungsschutz gründete sich darauf und damit auch die Extremismustheorie, welche als Arbeitsbegriff des Verfassungsschutzes entstanden ist. Hufeisen und Antikommunismus lassen sich also nicht voneinander trennen, da Hufeisenwerfen ein Teil antikommunistischer Praxis ist.
Die Begriffsumdeutungen und -verfälschungen der Rechten mögen von außen noch so plump und amateurhaft aussehen, sie erreichen aber in der Zielgruppe ihre Wirkung. Und die ist nun einmal nicht die liberale oder radikale Linke, diese ist eine eh dem bürgerlichen oder nationalistischen Konservatismus zugeneigte Gruppe. Dort nimmt man es auch nicht so genau mit politischer Bildung und ist im Gegenteil sogar oftmals dankbar dafür, wenn Dritte ihnen die ideengeschichtliche Nähe und Tradition zu und von rechtsradikaler Ideologie und insbesondere der Nazizeit mit ein wenig Sprachmagie wegdefinieren. Denn Sprachmagie ist es tatsächlich, was Rechte im Hufeisengewerbe betreiben. Völlig entkernt von jeglichem Inhalt wird dort mit Begriffen umhergeschleudert, als wäre gerade Kissenschlacht im Obersalzberg. Die Taktik dabei ist, sämtliche Wörter so unscharf und unpräzise zu verwenden, dass man vor einem Wust an Buchstaben steht, der eine Art Smokescreen für die tatsächlichen Positionen und Forderungen darstellt. Je komplexer und begriffsschwanger rechte Texte daherkommen und Definitionen verwischen und umdeuten, desto sicherer kann man sich sein, dass es hier um das Verschleiern (oftmals genuin) rechter Inhalte geht, damit diese einem „Aber ich bin doch gar nicht rechts!“-Publikum zur Gewissensberuhigung dienen können. Exemplarisch sei hier auf die Bahamas verweisen, in der antisemitische Ideologeme, rechte Verharmlosung sowie Hufeisengewerfe mit Begriffen wie „linksfaschistsche[r] Ideologie“ rechte Inhalte wiederdeutschgewordenen Renegaten von links schmackhaft machen.
Die unübersehbaren Querfrontallüren und das immer weiter um sich greifende Hufeisengewerfe gegen alles, was man irgendwie als links verortet, werden auch in Zukunft weiter an Bedeutung zunehmen. Wie stark sich die parlamentarische Festigung der AfD gesellschaftlich auswirken wird, muss sich zeigen. Das sie mit ihrem Kampf gegen Linke Positionsverschiebungen im bürgerlichen Lager und bei enttäuschten Exlinken verursachen wird, steht dabei außer Zweifel. Man schaue sich nur einmal die Werteunion an.
Linke täten gut daran, sich so weit es möglich ist jeglichem Vokabular von Hufeisen-, Extremismus- und Totalitarismustheorien zu entledigen. Damit reproduziert man nur Theoriegebilde, die gegen Linke gerichtet sind. Ebenso sollte man darauf achten, dass man selber nicht zu sehr mit Begriffen und Definitionen rumsaut und möglichst präzise damit arbeitet. Die stärkste Waffe gegen Hufeisen und Extremismustheorie ist noch immer eine fundierte Kenntnis ihrer Hintergründe, ihrer Fehler und ihrer Verfälschungen. In letzter Konsequenz wäre dazu sogar der Verzicht auf die Wörter links und rechts notwendig, was angesichts der tiefen Verwurzelung im Diskurs aber weder möglich noch praktisch ist.
Liebes goldene Hufeisen, sind die Gegner der Hufeisentheorie nicht mindestens genauso schlimm wie ihre Anhänger?
Auf jeden Fall! Wer sich mit der Hufeisentheorie beschäftigt, hinterfragt eine der populärsten Grundannahmen vieler Medienberichte und Menschen. Nichts ist gefährlicher, als als unumstößlich angenommenem Halbwissen mit Argumenten zu begegnen und möglicherweise einen Nachdenkprozess in Gang zusetzen.
Warum ist eure Arbeit so wichtig? Warum gerade jetzt?
Um uns als Seite geht es gar nicht. Generell ist das Aufklären über die Hufeisentheorie und den ideentechnisch eng verwandten Extremismus- und Totalitarismustheorien wichtig. Dazu können wir hoffentlich einen kleinen Teil beitragen. Wie bereits in der ersten Antwort angedeutet, führt eine Aufklärung unweigerlich dazu, das (auch im geometrischen Sinne) eindimensionale Denken des simplen Links-Mitte-Rechts-Schemas aufzubrechen, und führt im Idealfall zu einer weniger voreingenommenen Betrachtung politischer Theorien. Die Hufeisentheorie ist eine verfälschende Perspektive auf die politische Ideengeschichte und dient einzig dem Schutz der bürgerlichen bzw. liberalen Mehrheitsgesellschaft. Die gute » Mitte« und die schlechten »Ränder«, der als gut angesehene Ausgleich zwischen Positionen, die angebliche Gewaltfreiheit der »Mitte« und die schlichtweg fehlende Bildung in Bezug auf politische Theorie charakterisieren das klassische Hufeisen- und Extremismusdenken. Eine zeitliche Aktualität erhält das Themengebiet aus Hufeisen, Extremismus und Totalitarismus durch den Aufstieg der radikalen Rechten zu einer bundesweiten, in allen Parlamenten erfolgreichen und sich als Bewegungspartei im faschistischen Sinne versuchenden, AfD. Im Zuge dessen müssen reichlich Hufeisen geworfen werden, man kann ja nicht nur eine Seite angreifen, dadurch würde ja das Hufeisen in eine Schieflage geraten. Zu sehen ist das zum Beispiel am Artikel des notorischen Eckhard Jesse, der auf die in seinen Augen große und unterschätzte Gefahr des Links»extremismus« im Zuge der Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst hinweisen musste. Neben diesem bürgerlich-konservativen Hufeisen wird aber insbesondere von Seiten der AFD versucht, Antifaschismus und generell linkes Gedankengut als faschistisch darzustellen. Hier will man sich gegen die ideologische Nähe der eigenen Positionen zum NS und der klaren historischen Kontinuität in der radikalen Rechten des deutschsprachigen Raumes immunisieren. Diese Begriffsumdeutung ist eine klassische Strategie, wird aber von vielen Menschen nicht ausreichend durchschaut, da die politische Bildung fehlt.
Nach welchen Kriterien vergebt ihr eure Auszeichnung?
Nach Bauchgefiihl. Die Seite ist eigentlich nur als Nebenprojekt entstanden, um die ganzen »die rotlackierte SAntifa«- und »Linksfaschismus«- Kommentare abladen zu können. Daher suchen wir auch nicht speziell nach Hufeisen, wir nehmen das, was so des Weges daherkommt. Neben dem klassischen Hufeisen, die Nazis als links darzustellen nehmen wir auch völlig themenfremde Sachen. Wichtig ist dabei nur, dass man entweder zwei gegensätzliche Sachen als gleich darstellt oder mit einer Aussage das Gegenteil dessen bewirkt, was man bewirken will. Ein gutes Beispiel ist hier ein Schild einer Kirche aus den USA, auf dem sinngemäß stand: »Remember Satan was the first to demand equal rights! « Da denkt man dann instinktiv, dass dieser Satan doch eigentlich ein ganz korrekter Typ gewesen sein muss. Zugegebenermaßen sitzt aber auch nicht jeder einzelne Post zu hundert Prozent.
Wer hat sich seit Beginn eurer Arbeit besonders ums goldene Hufeisen verdient gemacht? Verdient jemand vielleicht sogar mittlerweile ein Platin-Hufeisen?
Schwer zu beantworten. Wer auf jeden Fall eine Sonderstellung einnimmt, ist die Seite »JAFD«, also die Juden in der AfD. Wird nicht oft gefeatured, was schlicht an der unglaublichen Menge an Hufeisen und Geschichtsrevisionismus liegt. Man kann gar nicht so viel posten, wie dort Mist verzapft wird, insbesondere,wenn man sich die Kommentare dort noch anschaut. Erika Steinbach ist mit ihrem legendären Tweet — »Die NAZIS waren eine linke Partei. Vergessen NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEI…« — auch eine Kandidatin fiirsLebenswerk. Ein besonderes Augenmerk sei hier aber auch auf die SPD gerichtet, die im Zuge von Kevin Kiihnerts Sozialismusdebatte unzählige Hufeisen produzierte und offensichtlich nicht mal das eigene Grundsatzprogramm zu kennen scheint. Realpolitisch muss dann auch noch der Verfassungsschutz genannt werden, der mit seiner Extremismustheorie ganz entscheidend für die Akzeptanz von Hufeisen, Extremismusbegriff und Zentrismus verantwortlich ist.
Was machen gegen Hufeisenwerfer, also außer sehr gute Facebook-Gruppen haben?
Es gibt eigentlich nur eine Sache, die gegen Hufeisen und Zentrismus hilft: politische Bildung. Nur wenn man begreiflich macht, dass es sich dabei um bestimmte Betrachtungsweisen handelt,die einen klaren politischen Zweck erfüllen und ihre Grenzen haben, kann man diesem Denken entgegenwirken. Oft geht das ja mit einer Art Pazifismus der sich als gut sehenden Mitte einher, welche meint, dass die bürgerliche Gesellschaft immer gut und richtig ist und außerdem sehr friedlich sei. Dies ist ja auch ganz klar gewollt, klassische Hufeisen sollen den aktuellen Status Quo stützen. Der Kolonialismus mit seinen Verbrechen passt da schon gar nicht mehr rein und die Millionen Todesopfer werden ausgeblendet. Auch dass in den USA über etwa 100 Jahre eine Art Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften und organisierte Arbeiter*innenbewegung geführt wurde, ist nirgends in Erfahrung zu bringen. Man muss diese Schutzbehauptungen der bürgerlichen Staaten angreifen und als Lügen offenlegen.
Auf einer theoretischeren Ebene: Was ist denn eigentlich das Problem mit Hufeisen?
Wie bereits angedeutet handelt es sich dabei um eine stark vereinfachende und verfälschende Betrachtung der politischen Landschaft. Beim klassischen Hufeisen werden ja radikale Linke und radikale Rechte als mehr oder weniger gleich dargestellt. Da sind dann anarchokommunistische Personen, die staatliche Autorität auf ein Minimum reduzieren und falls möglich ganz abschaffen wollen, die keine Diskriminierung nach Ethnie, Herkunft, Geschlecht und so weiter durchgehen lassen, genauso übel wie beinharte Nazis, die den Holocaust vollenden möchten und ganze Volksgruppen versklaven und unterjochen wollen. Aus Sicht der BRD macht das Sinn, weil man staatsfeindliche Ansichten jeder Art in einem Rutsch diskreditiert. Außerdem dominiert man mit dieser Betrachtung ganz einfach die mediale Berichterstattung, da Hufeisen und Extremismus so einfach verstindliche Tools sind, dass man sie nicht groerklaren muss und die meisten Personen sich auch nicht weiter den Kopfdriiber zerbrechen.In der Praxis ist das vor allem für die radikale Linke ein Problem. Emanzipatorische Ansichten und für viele Menschen reale Verbesserungen der Lebensqualität mit sich bringende Maßnahmen stehen dann sofort unter Stalinismusverdacht oder sind so schlimm wie Hitler. Auch hier sei auf die panische Angstmache im Zuge der Enteignungsdebatte aus Berlin und um Kühnert verwiesen. Wenn es dann um Antifaschismus geht, haben wir das Problem der bürgerlichen Querfront. Da man aus »der Mitte«, insbesondere bei der CDU/CSU,alle Arten von als extremistisch gebrandmarktem Denken ablehnt, kann man ja nicht einfach nur mal gegen Nazis sein. Man muss auch immer gegen die ganz bösen Linken sein, die ja auch eigentlich mindestens genauso schlimm wie die Nazis sind. Dadurch wird praktischer Antifaschismus diskreditiert und kriminalisiert, was dann wiederum indirekt Nazis schützt, da Antifaschismus oft auf Ablehnung stößt und daher nur eingeschränkt agieren kann.
Fast geschafft, zwei Drittel des Fragebogens sind ausgefüllt! Wie fühlt ihr euch?
Rinks und lechts sind doch das Gleiche! Alles schlimm, schlimm, schlimm! Ah, wo waren wir noch mal?
Müsste etwas anderes anstelle des Hufeisens treten, und wenn ja, was?
Dem Hufeisen sowie der Extremismustheorie liegt eine Art grafische Veranschaulichung politischer Theorie zugrunde. Man geht davon aus, dass man eine Linie ziehen kann und dann von links nach rechts politische Positionen verortet und damit dann den vollständigen Überblick über alle politischen Theorien hat. Diese Annahme ist grundfalsch, und eine eindimensionale Visualisierung kann niemals eine halbwegs erschöpfende Darstellung sein. Idealerweise müsste man auf Begriffe wie links, rechts und Mitte vollständig verzichten und stattdessen die korrekten Bezeichnungen der zugrundeliegenden politischen Theorien und Ideologien verwenden. Der Vorteil wäre hier, dass man dann Gemeinsamkeiten und Unterschiede viel feiner ausarbeiten könnte und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen möglich sind. Praktisch scheitert das aber in zwei Dingen. Erstens ist der Aufwand dafür viel zu gro8, man bräuchte dann wirklich ein universitäres Bildungsniveau in Sachen politischer Theorie, um die Feinheiten zu verstehen. Und zweitens sind die Begriffe links, rechts und Mitte so tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt, dass es unmöglich ist, sie dort zu entfernen. Aber es würde tatsächlich helfen, wenn man ein wenig mehr mit politik- und sozialwissenschaftlichen Bezeichnungen arbeiten würde, um einfach neben links, rechts und Mitte andere Bezeichnungen im regelmäßigen Umlauf zu haben.
Was ist eigentlich mit der Mitte kaputt?
Das lässt sich pauschal nicht sagen, da es keine Mitte gibt. Grundsätzlich ist das kaputt, was eine bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Arbeits- und Produktionsorganisation kaputt macht. Deren Prämissen werden ja von der Mehrheit der Gesellschaft geteilt, weshalb Mehrheitsgesellschaft hier ein besserer Begriff ist. Die Mitte sieht dann aber auch wieder von Land zu Land und je nach Jahr anders aus. Positionen der CDU würden in den USA als kommunistisch gebrandmarkt werden, mehrheitsfähige Ansichten zu Homosexualität aus den 5oerJahren, inklusive Strafverfolgung sind heute nicht mehr mehrheitsfähig und so weiter. In Österreich kommt eine rechtsradikale Partei auf über 20 Prozent und nimmt auch vom Ibizavideo relativ wenig Schaden. Dort sind große Teile der Gesellschaft stärker rechts eingestellt als in Deutschland. Was die Mitte tatsächlich kaputt macht,ist das Unvermögen sich ernsthaft mit politischen Konzepten auseinanderzusetzen, Sehr viele Menschen können nicht einmal die Grundzüge der bürgerlichen Gesellschaft beschreiben, von unterschiedlichen Versionen ganz zu schweigen. Demokratie wird hierzulande ganz oft mit dem parlamentarischen System gleichgesetzt, wahrend Anarchismus als Chaos dasteht — obwohl im Anarchismus eine Demokratisierung aller wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereiche angestrebt wird. Stattdessen wendet sich die gute Mitte im eigenen Saft und fühlt sich moralisch allen anderen überlegen, weil man ja eben die goldene Mitte sei.
Ist das Problem international? Gibt es deutsche Besonderheiten?
Das Problem ist auf jeden Fall international, der Zentrismusbegriff wird in den USA viel starker benutzt als hier. Jedes Land hat dabei unterschiedliche Ausprägungen von Extremismus- und Hufeisenverständnis. Brasiliens rechtsradikaler Präsident Bolsonaro stellt zum Beispiel wahrend des Besuchs der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem die Nazis als Linke dar, obwohl die israelische Regierung rechte Parteien aus Deutschland und Osterreich, namentlich die AfD und die FPÖ, boykottiert. Deutsche Besonderheiten finden sich vor allem in der Betrachtung der eigenen Historie. Da gibt es dann einerseits die klassische Schuldabwehr aus dem rechten Lager, die ungeachtet personeller und ideologischer Kontinuitäten Nazis als links darstellen wollen, um sich selbst trotz ideologischer Nähe möglichst weit weg darzustellen. Auch das Phänomen des Schuldabwehrantisemitismus ist in bestimmten Formen ein deutsches Sonderphänomen. Und dann wäre da noch der ganze Komplex DDR, den man mit sehr viel Hufeisen und verfälschender Darstellung behandelt.
Ihr arbeitet ja in der gefährlichen Welt des Internets, kriegt ihr viel Hate? Und wenn ja, was schreiben die Leute so und wie geht ihr damit um?
Die Facebookseite bekommt tatsächlich sehr wenig Hate ab. Einzige Ausnahme sind Posts mit Israelbezug, da läuft sich dann die antisemitische Internationale warm und bezeichnet Israel als Nazistaat und fabuliert vom Holocaust an den Palästinensern. Inhaltlich ist das alles nicht haltbar, Fakten haben antisemitisches Denken aber noch nie gestört. Genau wegen solcher Dinge machen wir die Sache aber auch, Agitation ist Teil der Arbeit.
Was sind eure Lieblings-Netflix-Shows?
Ob die jetzt auf Netflix laufen oder nicht, keine Ahnung. Favoriten sind » The Handmaid’s Tale«, »Hannibal«, »Battlestar Galactica« und generell eher anspruchsvolle Serien. Die eigenen Ansprüche sind sowohl wegen des politischen Anspruchs als auch wegen eines Interesses an Film und Musik sehr hoch.
Man kennt sie, Überläufer ins oder aus dem gegnerischen Lager. Wir Linken verleihen immer noch die Horst-Mahler-Medaille oder den Jürgen-Elsässer-Preis, wenn es Tendenzen in das rechte Lager zu beobachten gibt. Dabei ist das klassische Überläufertum gar nicht mal der Regelfall. Viel häufiger verschieben sich die weltanschaulichen Rahmen merklich, ohne das es eine Person so benennen möchte. Viel eher verkauft man sich als Renegat*in, um sich als geläuterte Person noch bestens selbst zu vermarkten. Neben den in diesem hervorragenden Artikel aufgezählten Beispielen (vom Titelbild gebenden Fleischauer über Broder bis hin zu Wagenknecht und Palmer) gibt es noch unzählige weitere Beispiele.
Das Umfeld der Bahamas ist ein weiteres Beispiel. Dort macht man sich, ähnlich wie Broder, daran, alle über Jahre geäußerten Vorwürfe im Alter Stück für Stück abzuräumen. Die Liste ist stattlich: Umvolkungsgeraune über Soros, Opfer-Täter-Umkehr bei sexueller Belästigung, offene Verschwörungsmythen zum rechten Mob in Chemnitz, ein Aufruf Antifafahnen zu verbrennen, Klima“zweifel“, Nazi- und Holocaustrelativierungen, Forderungen die Grenzen zu schließen, Gerede von Listen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die länger als die von Nordkreuz (ja der rechten Terrorzelle) seien, ein die Mainstreammeinung bestimmendes Linkskartell inklusive Medien,Schutz und Solidarität für einen nachweislich frauenbelästigenden Mann, Rassifizierung von Muslimen, öffentliche Positionierung gegen Faschooutings und noch ganz viel mehr. Trotzdem sieht man sich noch als progressiv, emanzipatorisch und antifaschistisch.
Die im Text beschriebene Brücken- oder Türöffnerfunktion darf auf gar keinen Fall unterschätzt werden. Der Schaden eines Thilo Sarrazin konnte nur deshalb so groß sein, weil er als SPD-Mitglied nicht als rechtsradikal wahrgenommen wurde und bei einem der größten Verlage veröffentlichen durfte, während man ihn in sämtliche Sendungen einlud. Der Nimbus des Renegaten, des Tabubrechers und des Klartexters verkaufte sich millionenfach. Und was? Rassebiologische Ansichten, Sozialchauvinismus, Fremdenhass und öffnete die Tür für den heute noch aktuellen rechten Diskurs. Nur eine Person in der Position Sarrazins konnte das schaffen. Ein NPD-Funktionär hätte niemals diese oder überhaupt Aufmerksamkeit bekommen.
Wichtig ist die Funktion dieser Türöffner auch in Bezug auf das Verständnis dessen, was sich als „bürgerliche Mitte“ versteht. Dort sieht man sich ja immer frei von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und so weiter. Die Mitte sei ja gut und frei von Gewalt. Dabei zeigen Personen wie Palmer oder Sarrazin, dass die Mitte in diesem Selbstbildnis nur ein Phatasma ist. Diese Mitte, die sich selbst als bürgerlich sieht, enthält natürlich alle möglichen Formen der Diskriminierungen und täuscht sich nur selber damit, nichts damit zu tun haben. Man spaltet unliebsame Positionen ab, um sich dann weder personell noch inhaltlich mit ihnen beschäftigen zu müssen. Es sind immer die anderen antisemtisch, aber doch nicht Augstein, Todenhöfer oder Kohl! In Deutschland hat man diese Schuldverdrängung nach Ende des Naziregimes zur gesamtgesellschaftlichen Disziplin erhoben und ignoriert historische Tatsachen, so sie einem nicht ins Bild passen.
Die SPD hat mit den Freikorps in Deutschland protofaschistische Paramilitärs eingesetzt und damit sowohl die eigenen Genoss*innen erschießen lassen als auch den Feinden der Weimarer Republik freie Hand und Organsiationsmöglichkeiten gelassen. Die Saat der Freikorps bekam nicht wieder in den Griff. Das bürgerliche Lager ignoriert geflissentlich, dass nur die SPD (die KPD war schon eingeknastet oder wurde verfolgt) gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat. Das gesamte bürgerliche Lager hat dem Faschismus die rechtliche Legitimation gegeben. Konrad Adenauer hat sich 1932 für eine Koalition von Zentrumspartei und NSDAP in Preußen ausgesprochen und einige Monate nach der Machtübergabe an die Nazis 1933 verlautbaren lassen: „Dem Zentrum weine ich keine Träne nach; es hat versagt, in den vergangenen Jahren nicht rechtzeitig sich mit neuem Geiste erfüllt. M.E. ist unsere einzige Rettung ein Monarch, ein Hohenzoller[,] oder meinetwegen auch Hitler, erst Reichspräsident auf Lebenszeit, dann kommt die folgende Stufe. Dadurch würde die Bewegung in ein ruhigeres Fahrwasser kommen.“
Beim Aufbau der BRD waren dann Nazis auf allen Ebenen entscheidend beteiligt, wurden in den 50ern vor allem über die Unionsparteien und die FDP fest in die Gesellschaft integriert und übernahmen höchste politische und wirtschaftliche Positionen. Vom Nationalsozialismus wollte man nichts mehr wissen, man einigte sich stillschweigend auf einen Mantel des Schweigens. Nur wenige stellten sich dem entgegen, am bekanntesten dürften heute Beate Klarsfeld und Fritz Bauer sein. Letzterer war Generalstaatsanwalt und ein Film über sein Wirken mit dem Namen „Der Staat gegen Fritz Bauer“ verdeutlicht, wie gut sein kompromissloser Einsatz bei der Verfolgung von NS-Verbrechern ankam. Leute wie Franz Josef Strauß sagten sogar offen, dass sie rechte Terrorgruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann taktisch nutzen könnten und das es sich nur um harmlose Patrioten handele. Die Geschichte der BRD ist eine Geschichte der Selbstverleugnung der Ansichten, die in der „Mitte“ relativ kritikfrei Platz haben. Wer darauf verweist, so wie man es gerade bei der Kritik von Antifaschist*innen an der Aktion des ZPS zum Teil sehen kann, wird als Spalterin oder Nestbeschmutzerin verunglimpft. Es sind halt immer die anderen.
Renegaten übernehmen die Funktion, dass man Identifikationsfiguren hat, die einem vorleben, wie man sich mit rechten Ansichten weiterhin in besten gesellschaftlichen Kreisen bewegen kann und sich nicht um die eigene Position zu kümmern braucht. Man ist abgesichert, selbst wenn man offen rechtes Gedankengut verbreitet.
Heute jährt sich die Reichspogromnacht, auch bekannt als Reichskristallnacht. Vor 81 Jahren gipfelte der Judenhass im Deutschen Reich in dem vorläufigen Höhepunkt der Novemberpogrome, welche sich vom 7. bis zum 13. November ereigneten. Hunderte Tote, 30.000 ins KZ Deportierte, tausende zerstörte Synagogen, jüdische Einrichtungen und Geschäfte – der Tod war ein Meister in Deutschland. Über die Details will ich mich an dieser Stelle aber gar nicht groß auslassen, dazu kann man sich mit wenigen Klicks genügend Informationen zusammensuchen. In den letzten Jahren sind hier auch eigene Beiträge zum 9. November erschienen und es braucht wirklich nicht noch einen weiteren Text, der sich ähnlich liest wie dutzende andere da draußen. Vor allem sollte so ein Text keine Pflicht sein, die man abarbeiten muss. Auch wenn man leider immer wieder in der Pflicht steht, sich gegen Antisemitismus zu positionieren.
In den letzten Jahren ist ein Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. Dieser liegt zum einen an einer verbesserten Meldestruktur. Organisationen wie RIAS, JFDA und das Register Berlin sind hier Beispiele für gute Arbeit, bei der Vorfälle dokumentiert und aufgeklärt werden. Von unserer Seite aus ein aufrichtiger Dank dafür. Durch eine verbesserte Meldestruktur werden mehr der Vorfälle erfasst, die es gibt, das Abbild wird realistischer. Zusätzlich nimmt aber auch die tatsächliche Quantität des Antisemitismus zu. Mit der AfD ist der klassische deutsche Antisemitismus wieder in die Parlamente eingezogen, sei es in Form von Geschichtsrevisionismus, Gedeon, jüdisch-bolschewistischer Weltverschwörung und antisemitischen Verschwörungstheorien. Auf den Straßen werden immer mehr als jüdisch angesehene Personen angegriffen. Der Jugendwiderstand will Neukölln davidsternfrei prügeln, die Angriffe im Prenzlauer Berg, in Chemnitz und auf das Restaurant Feinbergs machten international Schlagzeilen.
Als bekanntgegeben wurde, dass die USA ihre Botschaft nach Jerusalem verlegen, gab es Demonstrationen mit teilweise tausenden Antisemit*innen, einige radikale Linke wie Revo und der Jugendwiderstand marschierten Seite an Seite mit Islamist*innen auf. Auf Nazidemos wird wieder lautstark „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ gebrüllt. In der Linken sieht es zwar besser aus als vor 25 Jahren, vor allem der als Antizionismus gekleidete Antisemitismus ist immer noch stark vertreten. Auch international gibt es wenig Gutes zu berichten. Mit Jeremy Corbyn ist ein Antisemit Chef der britischen Labourpartei, in Frankreich verlassen immer mehr jüdische Personen das Land und in den USA gab es erst ein Massaker und dann eine Anschlagsserie.
Es ist notwendig, zu erkennen, dass Antisemitismus nicht der Vergangenheit angehört. Es ist kein Problem des 19. Jahrhunderts, wie es Gauland in einer Rede sagte. Im Gegenteil, der Antisemitismus ist virulent und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen quicklebendig. Die Gefahr für jüdische Personen ist immer vorhanden und man hat das Gefühl, es braucht nur den richtigen Anlass und der Judenhass bricht sich in einigen Bevölkerungsschichten wieder offen und unverhohlen Bahn. Es ist gut und richtig, an den schlimmsten Judenhass zu erinnern, an das unbeschreibliche Verbrechen, welches von breiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde. Aber der Antisemitismus ist 1945 nicht verschwunden. „Kauft nicht bei Juden!“ heißt heute BDS, man ist jetzt antizionistisch und Araber sind ja auch Semiten, also könne man gar kein Antisemit sein. Globalisten sind eine Gefahr und George Soros will ganze Nationen zersetzen, da ist man sich inzwischen weit über den rechten Verschwörungssumpf einig.
Es ist heute vergleichsweise einfach, am 9. November der Opfer zu gedenken und die Erinnerung ist ein wichtiger Bestandteil antifaschistischer Praxis. Nach dem Krieg war das anders, vor allem die westdeutsche Bevölkerung übte sich in Verdrängung und Selbstmitleid. Hitler war ja schlimm und man mochte die Nazis trotz Perteibuch ja nie so wirklich, aber wenigstens war man selbst anständig geblieben. Als die Jüdiinen und Juden zum Deportationsbahnhof getrieben wurden, hat man immer die Fenster geschlossen, man wollte ja schließlich nicht gaffen. Heute ist die Erinnerungskultur zum Glück fest verankert, auch wenn Rechte immer wieder provozieren und die AfD sie staatlich abschwächen will. Nur das Erinnern fällt einfach, den Kampf gegen den Antisemitismus selber zu führen, umso schwerer. Vor allem wenn man konsequent ist und sich eingestehen muss, dass sowohl Familie, Bekannte als bedeutende Teile der radikalen Linken antisemitische Positionen vertreten.
Aber die Zeiten sind andere als 1938. Mit der Mahnung von Auschwitz im Hinterkopf gibt es inzwischen viel mehr Leute, die bereit sind, sich mit ihrem eigenen Leben gegen Antisemitismus zu stellen und das Leben von Jüdinnen und Juden mit ihrem eigenen zu verteidigen. Da das Schlimmstmögliche bereits geschehen ist, hat sich die Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen kann, erübrigt. Und eine Sache habe ich im Laufe der Jahre gelernt: Die Jüdinnen und Juden haben inzwischen ihren Selbstschutz organisiert. Freund*innen, die von der Linken in Berlin und ihrer Unfähigkeit, sich dem Antisemitismus in den eigenen Reihen entgegenzustellen, völlig desillusioniert sind, haben immer noch einen Notfallplan in Hinterhand: Israel. Konnte man früher einer Bedrohung nichts entgegensetzen und war auf andere Staaten angewiesen (wie das funktioniert wissen wir alle), ist man inzwischen in der Lage, jüdische Personen zu schützen. Die beste Absicherung gegen einen zweiten Holocaust ist und bleibt dieser Schutzraum. Denn eines hat man im Laufe der Jahrhunderte gelernt: Auf Andere kann man sich nicht verlassen. So unangenehm dieses Eingeständnis ist, der Schutzraum Israel ist die letzte Verteidigungslinie gegen Vernichtungsantisemitismus. Und nicht die radikale Linke. Genau dieser Umstand sollte uns allen Mahnung und Antrieb sein.
Der Satz, der mir am meisten zu denken gegeben hat, ist folgender: „Für dich würde ich eine Woche vor der Gesa stehen, aber auf die Linke kann ich mich nicht verlassen wenn es alles den Bach runtergeht.“ Lasst uns alle daran arbeiten, dass dieser Satz seine Gültigkeit verliert.
Laura Stern
2018 und 2019 werden teilweise durch Klimaproteste geprägt. So war es im letzten Jahr die Auseinandersetzung um den Hambacher Forst, welche über Wochen in den landesweiten Medien für Aufmerksamkeit sorgte und eine nicht abzusehende Eigendynamik entwickelte, welche 50.000 Menschen auf die Straße brachte. Parallel dazu ging ab August 2018 eine schwedische Schülerin auf die Straße und ab dem November hatte sich „Fridays For Future“ zu einer weltweiten Protestbewegung entwickelt, welche in den folgenden Monaten sowohl Medienecho als auch Protestpotential vom Hambacher Forst in den Schatten stellen sollte.
Beide Proteste haben einige Gemeinsamkeiten und diese Gemeinsamkeiten geben Hinweise auf zukünftige Proteste und soziale Bewegungen. Beide Bewegungen sind autonom entstanden. Weder finanzstarke noch personell und organisatorisch stark aufgestellte Organisationen haben diese Proteste gestartet. Es stehen weder Gewerkschaften noch Verbände dahinter, es handelt sich um Einzelpersonen oder kleine Gruppen. Der Hambacher Forst wurde zeitweise von Ende Gelände unterstützt, hier handelt es sich aber auch um einen autonomen Klimaprotest. Beide Protestbewegungen befassen sich mit dem gleichen Thema: Klimawandel und das viel zu wenig dagegen getan wird. Es finden sich auch jeweils viele junge Menschen bei den Protesten, FFF zieht seine Leute ausschließlich aus den Bildungseinrichtungen, also vorrangig den Schulen. Und beide Protestbewegungen sind größer geworden als man es erwarten würde.
Die Reaktionen ließen in beiden Fällen nicht lange auf sich warten und sie fallen auch erst einmal erwartungsgemäß aus. FPD, CDU, AfD und alles, was sich als wirtschaftsfreundlich versteht, ist konsequent dagegen und gibt das auch in diversen sprachlichen Härtegraden zu erkennen. Randnotiz: Beim Kohleabbau hat die FDP übrigens kein Problem mit Enteignungen, wie man an der Hambidebatte sehen kann. Die SPD macht mal wieder einen Spagat und blinkt links wie rechts, nur um dann doch in Richtung Wirtschaft abzubiegen, die Grünen und die Linkspartei sind auf Seiten der Proteste, auch wenn den Grünen einige Regierungsbeteiligungen kein so gutes Zeugnis in Sachen Klimapolitik ausstellen.
Geht man von diesen großen Akteuren der Politik mal weg und schaut sich in den Nischen um, wird man vor allem im Bereich der Ideologiekritik oder in dem Sektor, den man mal antideutsch nannte, jede Menge Rotz und Bullshit finden. Ewig winkt der Elfenbeinturm einer sich als kritisch verstehenden Theorie, welche mit Verachtung auf alles herunterschaut, was sich irgendwie für eine neue Form der Klimapolitik einsetzt. Irgendwelche Internetficker wähnen sich besonders schlau und betitulieren die Proteste entweder als konformistisch oder ökofaschistisch, beim Hambacher Forst noch gewürzt mit Barbarei. Mehr als hohle Schlagworte, die man selbst durch inflationäre Benutzung jeder präzisen Bedeutung und Schärfe entledigt hat, kommen selten. Man hat es sich im Elfenbeinturm der kritischen Kritik als kritischer Kritiker (es sind vorrangig Männer) eingerichtet und will sich aus seinem kleinen Nest auch nicht rausbewegen. Dabei überholt einen der Zeitgeist und je abgehängter man ist, desto schriller werden die Vorwürfe. Ein Bahamasautor bezeichnete die Protestierenden beim Hambi als grüne SA, Greta Thunberg wird regelmäßig als Hitlermädchen dargestellt – weil ihre Zöpfe, ist ja klar und kann gar nicht anders sein.
Was diese ganzen elfenbeinturmigen Trauergestalten nicht verstehen ist, dass es nicht weniger wird mit den Klimaprotesten. Warum? Weil in den letzten 30 Jahren einfach viel zu wenig passiert ist und sich die Klimaforschung einig ist, dass wir auf eine sehr große ökologische Katastrophe zusteuern, es wissen und nicht annähernd genug dagegen tun. Die Folgen des Klimawandels sind nicht genau abzuschätzen, die Prognosen sind aber alles andere erfreulich. Möglicherweise kommt es schon bei einer Erwärmung von 1,5 Grad zu Resonanzeffekten, also einem sich selber verstärkenden Treibhauseffekt. Innerhalb von 20 bis 30 Jahren werden wird zwangsläufig hunderte Millionen Klimaflüchtlinge haben. Der Meeresspiegel steigt an und wird dadurch Inseln und Küstenregionen unbewohnbar machen, extreme Wetterlagen nehmen zu. Allein im letzten Jahr gab es in Deutschland massive Ernteausfälle durch Dürre und in diesem Jahr sieht es zumindest im Norden auch nicht so viel besser aus. Von sehr vielen Wissenschaftler*innen wird ein Vergleich mit den uns bekannten großen Artensterben in der Geschichte der Erde gezogen. Dabei sind bis zu 97 Prozent allet Arten ausgestorben – und genau diese Option wird auch hier ins Spiel gebracht. Es sterben also nicht einfach nur ein paar Arten aus, wahrscheinlicher ist es, dass komplette Ökosysteme vernichtet werden. Welche Auswirkungen das widerum auf menschliches Leben haben wird, kann man sich selber denken.
Wer heute 20 ist, hat noch gut und gerne 70 Jahre auf dieser Welt zu leben und wird die Auswirkungen der Erwärmung in vollem Umfang abbekommen. Wer heute 60 ist, wird das nicht mehr mitbekommen, vielleicht aber an einem Hitzeschlag sterben. Und wie es in 150 Jahren aussieht, kann man jetzt noch gar nicht sagen, es kann aber tatsächlich dramatisch für das Gesamtsystem Erde werden. Politik und Wirtschaft agieren trotz wissenschaftlicher Evidenz (und hier kann man dann tatsächlich mal auf das Rezo-Video verweisen, da genau das der wissenschaftliche Konsenz ist) entgegen den Empfehlungen der Leute, die Expertise in Sachen Klimawandel und Auswirkungen haben. Politik und Wirtschaft agieren kontrafaktisch. Und das regt dann Leute auf, die darunter leiden werden. Da es auch nicht den Anschein macht, dass sich in den nächsten Jahren ein radikaler Wechsel der Wirtschaftspolitik vollziehen wird, werden entsprechende Proteste weitergehen und zunehmen.
Den ideologiekritischen Internetficker stört das hingegen kaum, der wissenschaftliche Konsenz ist für ihn in seinem Elfenbeinturm egal und nur mit Mühe kann er sich davon abbringen lautstark gegen die Klimalüge anzuschreiben. Stattdessen bedient man sich der alten Methode, alles als Hitler zu bezeichnen, was einem nicht passt. Da wird dann aus Greta Thunberg ein BDM-Mädchen, da brabbelt man vom Öko- oder Klimafaschismus, da sieht man schon das Vierte Reich am Horizont näher kommen. Was der ideologiekritische Internetficker allerdings gegen den Klimawandel tun will, bleibt er in der Regel schuldig. „Wird schon nicht so schlimm werden“ ist da oftmals das Einzige, was man vernehmen kann. Wie er mit hunderten Millionen Klimaflüchtlingen in den nächsten Jahrzehnten fertig werden will kann er nicht sagen. Solche Prognosen werden gekonnt ignoriert, der Elfenbeinturm darf ja nicht zum Einsturz gebracht werden.
Ähnlich verhält es sich mit dem Vorwurf, es handele sich um eine „konformistische Revolte“, man kratze also nicht an den Grundfesten des Systems sondern bewege sich ausschließlich in einem begrenzten Rahmen, der schlussendlich nur Detailänderungen zulässt, aber an der Gesamtscheiße nichts ändert. Und da ist ja auch was dran. Insbesondere der Forderungskatalog bei FFF liest sich sehr harmlos und ohne Biss. Es fehlt offenbar einem konsensualen Verständnis, dass Kapitalismus und Klimawandel aufs Engste miteinander verknüpft sind. Aber auch das ist nicht überraschend, handelt es sich doch vorrangig um Schüler*innenproteste. Und wie es bei allem Massenprotesten so ist, sind die weder einheitlich noch durch 20 Jahre Marxschule gegangen. Da kann sich der ideologiekritische Internetficker jetzt entspannt zurücklehnen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate von Adorno und besonders gerne dem späten Horkheimer droppeb like nothing. Alles dumme Kinder, die keine Ahnung von der Welt haben und eh nur in ihrem falschen Bewusstsein schmoren, während man selber ja über den Dingen steht und den vollen Durchblick hat. Dummes Pack, was werden die überhaupt aktiv!
„Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich interpretiert, es kömmt aber darauf an sie zu verändern.“ Diesen Leitsatz hat Marx seinerzeit jeder emanzipatorischen Bewegung ins Stammbuch geschrieben und dieser Leitsatz wird auch bis in alle Ewigkeit richtig bleiben. Der ideologiekritische Internetficker macht nichts anderes als die Welt zu beschreiben und in der Regel alles schlechtzureden, was einem vor die Kommentarfunktion hüpft. Ändern tut er nichts und will es auch gar nicht, zu bequem ist der Elfenbeinturm, zu sehr bürstet es das eigene Ego, wenn man sich über andere erheben kann. Dabei ist eine Protestbewegung wie Fridays For Future genau das, was eine radikale Linke braucht. Hier stehen Menschen freiwillig auf und artikulieren ihren Unmut auf der Straße. Es ist ein sozialer Protest, der in der Tendenz links ist und der ein Thema anspricht, welches unmittelbar die soziale Frage berührt.
Unter den Auswirkungen des Klimawandels werden nämlich die Armen am meisten leiden. Einmal die ärmeren Länder, welche kaum am Klimawandel Schuld tragen und nur wenige ökonomische Ressourcen besitzen, mit den Änderungen und den Wetterextremen fertig zu werden. Oder sie verschwinden gleich ganz, wie die Inseln im Pazifik. Und es wird die ärmere Bevölkerung in jedem Land treffen, welche nicht die finanziellen Mittel besitzt, sich auf die veränderte Wetterlage einzustellen und nicht einfach mal eben wegziehen kann oder dergleichen. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden solche umfassenden Umwälzungen vor allem auf dem Rücken der Einkommensschwachen ausgetragen. Wenn sich der ideologiekritische Internetficker jetzt also ohne Alternativen anzubieten gegen jede Form des Klimaprotestes stellt, dann wird er zum Reaktionär, der ganz konformistisch das bestehende System stützt und dafür sorgt, dass die Ärmsten darunter leiden müssen. Der Elfenbeinturm ist dann nichts anderes als indirekter Sozialchauvinismus, gepaart mit NS-Verharmlosungen.
Dabei gibt es an Fridays For Future und auch an den Protesten rund um den Hambacher Forst Dinge, die man kritisieren kann und kritisieren sollte. Das Ziel dabei muss aber eine verbesserte Protestbewegung sein, nicht das Ende des Protestes. Letzteres will die ideologiekritische Kartoffel, denn der berechtigte und wissenschaftlich abgesicherte Grund für den Protest und die sozialen Auswirkungen des Klimawandels werden ignoriert. Je mehr solcher Kommentare man liest, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass es vielen dieser Interfickern nur um ein Konservieren des Jetztzustandes ist. Es möge sich bitte nichts großartig ändern und vor allem soll es einen nicht selbst berühren. So was kann man auch gerne als kartoffelige Kleingeistigkeit bezeichnen. Nur kann das gar nicht funktionieren, da der Klimawandel stattfindet und auch jeden Elfenbeinturm der kritischen Kritikkritiker zum Einsturz bringen wird mit seinen realen Auswirkungen. Egal wie oft man Thunberg mit Hitler vergleicht, den Klimawandel interessiert das nicht.
Laura Stern
Ich bin müde. Müde von dem Aufschreien. Müde davon, dass es trotzdem verhallt.
Immer denkt man „Schlimmer kann es schon nicht kommen“. Es kommt schlimmer. Rechte Todesdrohungen gegen alle, die zu links sind, sind an der Tagesordnung. Selbst wir sind davon betroffen. Wir agieren aber aus einer weitgehenden Anonymität heraus. Aber jede Person, die sich im linksradikalen oder antifaschistischen Spektrum bewegt, kennt diese Drohungen.
Bislang wurden sie oftmals nur belächelt. Die Zeit des Abtuns ist aber lange vorbei. Auch ich hatte schon sehr reale Todesdrohungen. Scharfe Munition im Briefkasten nebst Drohbrief. Das hier ist kein Spiel. Das ist todernst. Linke PolitikerInnen können ein Lied davon singen, noch mehr als wir. Jetzt hat es einen CDU-Politiker (!) getroffen. Weil er flüchtlingsfreundlich war. Weil er sich an die Basics der Menschlichkeit gehalten hat.
In den letzten Jahren sind viele rechte Terrorzellen aufgeflogen, viele andere garantiert nicht. Hunderte von Faschos laufen mit offenen Haftbefehlen frei herum. Sie sind vielleicht auch bereit zu töten. Den Staat juckt das nur bedingt. Da steht auf der Tagesordnung Linke zu drangsalieren. Das Problem von Rechts wird weiter kleingeredet.
Die Gesellschaft scheint auch weitestgehend ruhig zu sein. Ich war mir gestern so sicher, dass ein Aufschrei durch das Land gehen wird. Natürlich war die Festnahme und dass es sich dabei um einen Rechten handelt überall nachzulesen. Die gesellschaftliche Reaktion blieb aber aus. Im Falle Magnitz war man mit Verurteilungen linker Gewalt ganz schnell bei der Hand. Rechter Terror ist aber anscheinend etwas, was man aushalten muss.
Die Kälte, die wir aktuell spüren, scheint immer schlimmer zu werden. Aus dem NSU wurde nichts gelernt. Jedes Mal geht der rechte Terror für eine Woche durch die Presse. Dann ist er verschwunden. Als ob er nie dagewesen wäre. Der Staat macht die drei Affen und der Rest der Hufeisen-Mitte-Gesellschaft gleich mit.
Wir haben uns an die Scheiße gewöhnt. Die Scheiße wird aber nicht okay, nur weil sie immer wieder passiert. Das macht es nur umso schlimmer. Wenn Faschos wieder Umsturzpläne schmieden, kann es nicht das Ziel sein, empört daneben zu stehen. Die Scheiße muss aufhören.
Auf den Staat ist schon lange kein Verlass mehr. Wir müssen uns selbst schützen. Organisiert den Selbstschutz. Schützt euch und eure Liebsten und alle untereinander.
Wir werden uns verteidigen.
[Erich Schwarz]
Im Oktober 2013 hatte Italien die Operation Mare Nostrum gestartet und so in einem Jahr 150000 Menschen das Leben gerettet. Und der Rest Europas? Der war dankbar und stolz. Dankbar dafür, dass das „Problem Flüchtlinge“ noch weit genug weg war. Und stolz darauf, dass Hilfe geleistet wurde. Selbst daran beteiligen musste man sich zunächst ja noch nicht, denn die Kosten für Mare Nostrum trug Italien allein. Doch irgendwann konnte oder wollte Italien das nicht mehr tun und hat andere Länder um Hilfe gebeten. Aber da hieß es noch „Och nö, die Flüchtlinge sind ja an eurer Grenze. Bezahlt das mal schön selber.“ Dann wurde Mare Nostrum eingestellt und Europa sagte sofort „Ach, kein Problem, wir machen jetzt eine eigene Operation mit unseren tollen Leuten von Frontex. Kostet weniger, werden weniger gerettet. Macht aber nichts. Hauptsache, die Flüchtlinge bleiben weit genug weg. Triton, wie der Meereskönig bei Arielle. Klingt doch nach nem Konzept.“ Menschenleben zu retten, hatte schon damals keine hohe Priorität. Grenzkontrollen waren natürlich das Hauptziel, so damals Innenminister de Maizière. Auf die Nachfrage, ob es nicht vielleicht auch das Ziel sei, Menschen aus Seenot zu retten, antwortete das Innenministerium damals, dazu hätte die Operation „weder das Mandat noch die Ressourcen“. Menschenleben zu retten, war in Europa, einem der reichsten Kontinente der Erde, also zu teuer. Das Mittelmeer zum Massengrab.
Auch konnte Italien die Versorgung für die dort eintreffenden Geflüchteten nicht mehr leisten. Hilfe aus Europa kam nicht und so wurden diese weitergeschickt. Jetzt war das „Problem Flüchtlinge“ direkt vor der Tür. „Aber das geht so doch nicht!“ und „Aber Italien muss sich an geltendes EU-Recht halten!“ und „Aber es gibt doch die Dublin-Regelung!“ usw. Jetzt war das Geschrei von Seiten der Politik und auch aus Teilen der Bevölkerung groß. In der Zivilgesellschaft jedoch etablierte sich zunächst der Wunsch, den Geflüchteten zu helfen. Das, was wir eine Willkommenskultur nannten, war überall in Deutschland zu finden. Der Schreck und die Empörung über das Ertrinken im Mittelmeer waren groß.
Einen Einschnitt bildete der Tod von Aylan Kurdi im September 2015. Ein Tod, der nicht hätte sein müssen und den die EU mit ihrer Politik der geschlossenen Grenzen mit verursacht hat. Geboren wurde Aylan Kurdi 2012. In diesem Jahr wurde der EU der Friedensnobelpreis verliehen. Ich kann hier kaum so viel Zynismus in meine Worte legen, wie es dieser Umstand verdient. Das Bild von Aylan Kurdi ging um die Welt und berührte viele Menschen und das war kein Einzelschicksal. Der Name Aylan Kurdi wurde ein Sinnbild für das Sterben im Mittelmeer. Er wurde der Fingerzeig auf das Scheitern der EU wie er deutlicher nicht sein konnte.
Daran sollte sich jede/r erinnern. Und Erinnerungen wurden geschaffen wie z.B. das Graffiti am Frankfurter Osthafen. Doch dies wurde bereits damals zweimal mit rechten Schmierereien überdeckt. Denn die Fragen um Deutschlands und Europas Umgang mit den Geflüchteten stieß reaktionäres, nationalistisches Gedankengut, das in der Gesellschaft zwar nie ganz weg war, immer unterschwellig verankert war in der Form von beispielsweise latentem Alltagsrassismus oder institutionellem Rassismus, mit aller Macht an die Oberfläche. AkteurInnen wie die AfD und andere rechte Gruppen, Organisationen und Strukturen, die vorweg gingen, um solche Gedanken wieder sagbar zu machen, trugen es mitten in die sogenannte „Mitte“ hinein.
Man spürte, wie der Wind sich drehte, denn „wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen“ (Gauland, 2016). Viele lernten „die grausamen Bilder aus[zu]halten“ (Gauland, 2016). Mit der Wahl von Sebastian Kurz zum österreichischen Kanzler wurde ein weiterer Schritt in die Richtung getan, Geflüchteten ihren Weg zu verunmöglichen, nämlich mit der Schließung der Balkan-Route.
Heute interessiert viele EuropäerInnen die Seenotrettung und das Schicksal so vieler Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, längst nicht mehr. Wenn in Paris die Notre Dame niederbrennt, kommen am Folgetag mehr Spenden zusammen als für Seawatch in einem ganzen Jahr. Schlimmer noch: Nicht nur, dass Hilfe ausbleibt, die Seenotrettung wird kriminalisiert. Menschen, die sich dort ehrenamtlich einsetzen, um andere zu retten, müssen mit Haftstrafen rechnen. Das alles getragen vom Italien, das einst mit seiner Operation Mare Nostrum eine Vorbildfunktion erfüllt hat. Doch auch in Italien wie in vielen weiteren EU-Ländern weht längst ein anderer Wind.
Aylan Kurdi scheint vergessen. Das Sterben im Mittelmeer ist grausame Realität, an die sich, wie Gauland es sich gewünscht hatte, viele Menschen gewöhnt zu haben scheinen. Doch wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Ich will mich nicht daran gewöhnen und ich werde mich nicht dran gewöhnen. Deshalb sei mit dem noch vor vier Jahren so wirkmächtigen Bild von Aylan Kurdi heute am Weltflüchtlingstag daran erinnert, dass dies ein Schicksal Tausender ist und die Wirkmacht dessen noch genauso sein muss wie vor vier Jahren. Sonst hat die AfD ihr Ziel erreicht.
[Sophie Rot]
Ich bin den 8. März leid.
Ich bin es leid, in diesen 24 Stunden in meiner Timeline mit #empowermentund #feminism überhäuft zu werden.
Ich bin es leid, dass mein Emailpostfach mit Glückwünschen und Sonderangeboten zum Weltfrauentag geflutet wird.
Ich bin es leid, zu hören „Frauen haben ihre Stimmen entdeckt“ oder „Frauen erheben ihre Stimmen“.
Ich bin den 8. März leid.
Viele Männer sonnen sich immer noch allzu gerne im Schein ihres patriarchalen Männlichkeitskonstrukts. Gleichzeitig merken sie jedoch, wie an den Grundfesten des Gerüsts der Geschlechterbilder und damit an ihrer Selbst gerüttelt wird. Wie ihre Privilegien ins Wanken geraten. Wie Männlichkeit neu definiert wird. Wie gut, dass es den Weltfrauentag gibt. Ein Tag, an dem die nervigen Frauen mal all ihre Sorgen auf den Tisch packen können, man redet ein bisschen darüber und danach ist wieder Ruhe.
Der Weltfrauentag ist das Zugeständnis einer Gesellschaft, die sich einen speziellen Tag als Symbol geben muss, um sich der Ungerechtigkeit zu erinnern, die sie in Kooperation mit einem aus zum Großteil mit Männern besetztem Staatsapparat ihren Untertanen zweiter Klasse – uns Frauen – antut. Sie gibt sich einen symbolischen Tag für Inhalte, die bis in den kleinsten Winkel der Gesellschaft hinein Thema der Tagesgeschäfte sein müssten.
Am 8. März werden jährlich die gleichen Forderungen in endloser Manier vorgetragen, platziert zwischen Glückwunschrufen und verteilten Blumen. Forderungen nach guter Kinderbetreuung, gleichen Gehältern, Frauenquoten, dem Recht auf Abtreibung usw. Forderungen, die richtig und wichtig sind. Forderungen, die dennoch nicht weit genug gehen. Auf das „Warum?“ gäbe es hier zahlreiche Antworten. Eine davon ist, dass die feministische Bewegung, falls man in Deutschland überhaupt noch von einer solchen sprechen möchte, gespalten ist. Die feministisch Solidarität unter Frauen ist leider recht dürftig. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass der Forderungskatalog bestimmte Themen konsequent ausspart.
Jedes Jahr werden die gleichen Listen an Forderungen in den Raum gestellt. Bei manchen findet man auch mal zumindest die Erwähnung von sexueller oder häuslicher Gewalt, konkretisiert wird dies jedoch selten. In der Detail-Diskussion stellt sich dann leicht raus, dass es mit der Frauensolidarität leider nicht von so weit her ist. Dabei ist vor allem der Blick auf das nicht Vorhandene interessant, der Blick auf all das, was in den Forderungskatalogen und Aufrufen fehlt:
An der Stelle muss eins klar gesagt werden: Wer sich gegen Sexismus, Rassismus und Kapitalismus stellt, muss sich auch gegen Prostitution und Pornografie stellen. Ein Großteil der Frauen, die in Deutschland und anderen Ländern in diesen Bereichen ausgebeutet werden, gehört ethnischen Minderheiten an, stammt aus dem Ausland und lebt in prekären Verhältnissen. (Die Ausnahme bestätigt die Regel).
Im Kontext der Institutionalisierung haben autonome Frauenprojekte oftmals ihren radikalen Kern verloren. Ihre harten Kämpfe der 70er/80er Jahre sind in den Hintergrund getreten oder wurden ganz vergessen. Sozialeinrichtungen sind entstanden mit professionellem Personal, das jedoch häufig zu den Frauenkämpfen keinen Bezug hat. Ausreichend ist die Qualifikation für den Job, nicht noch die Überzeugung vom feministischen Kampf. Ein radikalfeministisches Selbstverständnis ist nicht vonnöten.
Der Diskurs wird verwässert. In den Vordergrund treten die individuellen Wünsche, nicht die Betrachtung der Frau als Klasse, als Kollektiv, die einem ebenso kollektiven Unterdrückungsmechanismus ausgesetzt ist. Brotkrumen, die uns zugeworfen werden in Form von ein paar Reförmchen werden als vermeintlicher Fortschritt gefeiert. Weite Teile der Frauenbewegung werden in das kapitalistische Gesamtkonstrukt integriert und Herrschaftsverhältnisse zementiert, indem man sich im Patriarchat häuslich einrichtet, anstatt diese radikal infrage zu stellen. Dafür wird sich artig bedankt und dies anschließend als „Empowerment“ gefeiert.
Mit Brotkrumen dürfen wir uns aber nicht zufrieden geben. Es ist an der Zeit, die Kämpfe unserer Mütter fortzuführen, Forderungen radikaler äußern und durchzusetzen.
In den letzten Jahren sind in anderen Ländern Massen von Frauen für ihre Rechte auf die Straße gegangen. Dieses Jahr wird auch in Deutschland von diversen Gruppen und Initiativen zu Streiks aufgerufen. Frauenstreiks haben in der Geschichte eine lange Tradition, beginnend in der antiken Erzählung „Lysistrata“ von Aristophanes, in der Frauen in Sex- und demzufolge zwangsläufig Gebärstreiks traten und somit die Schicksale Spartas und Athens beeinflussten, weil so kein weiteres Kanonenfutter für die Kriege „produziert“ werden konnte.
Streiks von Frauen gab es in den letzten 150 Jahren immer wieder, so beispielsweise 1975 in Island, als ca. 90% der Frauen ihre Arbeit niederlegten, um gegen Benachteiligung am Arbeitsplatz einzutreten. Bereits ein Jahr später wurde selbige gesetzlich verboten und dies ist nur ein(!) Beispiel, bei dem ein Frauenstreik den gewünschten Erfolg bescherte.
Die vermeintlich typische Frauenarbeit wird auch in Deutschland immer noch als geringwertiger betrachtet (Studie, 2010: http://ekvv.uni-bielefeld.de/…/mit_zweierlei_ma%C3%9F_gemes… ) Gewalt gegen Frauen ist an der Tagesordnung. Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland seine (Ex-)Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung wird eingeschränkt. Regressive Kräfte sind auf dem Vormarsch. Heute, am symbolträchtigen 8. März, formieren sich überall auf der Welt Streikbewegungen gegen alle Formen der Unterdrückung gegen uns und wir können Regierungen in die Knie zwingen, denn zu wichtig sind sowohl unsere bezahlte wie unbezahlte Arbeit, damit dieses ausbeuterische System funktioniert. Zu wichtig sind wir, denn wir sind über 50% der Bevölkerung.
Ein Streik am Weltfrauentag darf jedoch nicht das Einzige bleiben, was wir tun.
Ziviler Ungehorsam ist in unserer Zeit fast schon verpönt und die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen, ist sehr gering geworden, bedenkt man auch die Tatsache, dass die neuen PolGs die Situation noch verschärft haben. So besteht selbst vermeintlich militanter Antifaschismus bei Demos oftmals nur noch darin, hinter einer Absperrung der Staatsmacht zu stehen und ein paar Parolen zu brüllen.
Feminismus kommt heute mit Einhornschildern um die Ecke, die das Patriarchat wegglitzern sollen. Frauen werden heute nicht mehr befreit, sondern „empowert“, damit sie es sich im Patriarchat schön gemütlich machen, sich vom kapitalistischen System ausbeuten lassen und lernen, noch „Danke“ zu sagen für die Unterdrückung, die sie erfahren, weil es „choice“ ist. Das Patriarchat wird nicht mehr bekämpft, sondern legitimiert – mit Hilfe eines Feminismus, der keiner ist.
Dass wir vergebens auf wirklich Veränderungen warten, wurde uns am Beispiel der Diskussion um den §219a eindrucksvoll bewiesen. Eine lange Diskussion. Am Ende viel Wirbel um nichts. Um etwas zu bewegen, brauchen wir wieder mehr selbst verwaltete Räume und Projekte, in denen diskutiert und Lösungen entwickelt werden können. Mehr, lautere und deutlichere Aktionen – wie auch immer diese aussehen mögen -, die unsere Anliegen in die Gesellschaft tragen.
Frauen haben ihre Stimme nicht entdeckt. Sie war schon immer da. Ich bin den 8. März leid, denn er ist nichts weiter als ein Deckmantel des Patriarchats, das wir beseitigen wollen.
[Sophie Rot]