Gedenken an die Befreiung von Auschwitz-Birkenau

Vor 74 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee befreit. Hier wurden von 1940 bis 1945 etwa 1.100.000 Menschen ermordet, darunter etwa 900.000 Juden und Jüdinnen. Auschwitz-Birkenau steht exemplarisch für den Holocaust und den Vernichtungswahn der Nazis, welcher durch weite Teile der Bevölkerung unterstützt oder zumindest toleriert wurde. Inmitten des sich als so fortschrittlich und aufgeklärt verstehenden Westens konnte ein unvergleichliches Verbrechen geschehen und erst durch die Kriegsniederlage beendet werden.

Die Verantwortung dieser Geschehnisse mahnt Antifaschist*innen bis in alle Ewigkeit zu einem entschlossenen Kampf gegen den Faschismus und insbesondere zu einem entschlossenen Kampf gegen jegliche Form von Antisemitismus – so unangenehm dies auch sein mag. Wir haben uns mit aller Kraft gegen jede Relativierung dieses Verbrechens zu stellen. Nichts ist in seiner Gesamtheit mit dem Holocaust zu vergleichen. Die Verantwortung hält uns auch an, uns über die Eigenschaften des Antisemitismus als negative Leitidee auf die Moderne zu informieren und seine Ausprägungen zu erkennen. Antisemitismus ist nicht nur einfach Rassismus gegen jüdische Personen, es ist eine wahnhafte Welterklärung, die in letzter Konsequenz zur Auslöschung aller Juden und Jüdinnen führen muss.

Antisemitismus ist heute lebendig wie eh und je. Unmittelbarer Vernichtungsantisemitismus ist zumindest in Europa und Nordamerika öffentlich geächtet, der Wahn hat sich aber andere Formen gesucht. Auf die Gründung des Staates Israel als Schutzraum für jüdische Personen vor weiterer Verfolgung gewann der Antizionismus an Popularität, insbesondere nach 1967 auch in der radikalen Linken. Statt Juden direkt anzugreifen nimmt man hier den Schutzraum der Juden und belegt ihn mit den selben Ressentiments und Unterstellungen, angepasst auf eine staatliche Ebene. Antisemitische Organisationen wie der BDS haben eine erschreckend große Resonanz in der Linken und gehören entschieden zurückgedrängt und bekämpft. Insbesondere international ist die Rezeption des Staates Israel massiv durch antisemitische Stereotype geprägt. Die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, mit seiner Unterform des Kulturbolschewismus, erlebt heute unter dem Namen des Kulturmarxismus vor allem im englischsprachigen Raum neue Popularität. Auch die neue brasilianische Administration ist voll von diesem Verschwörungswahn, der neue Außenminister ist ein Anhänger dieses Denkens.

Unsere Aufgabe als Antifaschist*innen ist es, uns jederzeit allen Formen des Antisemitismus entgegen zu stellen. Es kann nicht sein, dass jüdische Personen auf offener Straße angegriffen werden oder tausende Menschen zu antisemitischen Demonstrationen auf die Straße gehen. Beschämend ist es, wenn sich als links verstehende Gruppen wie der Jugendwiderstand, Revolution oder die Jewish Antifa Berlin auf diesen Demos mitlaufen und sich damit in die Front islamistischer und antisemitischer Gruppen wie der Hamas, der Hezbollah oder dem iranischen Regime stellen. Ihr seid antisemitisch und damit nicht unsere Genoss*innen.

Zum Gedenken an den Holocaust verlinken wir hier die erste Folge der US-Serie Holocaust, welche vor 40 Jahren ihre deutsche Erstaustrahlung hatte. Mit ihr wurde eine öffentliche Debatte über die Verantwortung der deutschen Bevölkerung angestoßen – von außen, nicht von innen. In Deutschland drückte man sich über Jahrzehnte vor der Konfrontation mit dem Offensichtlichen und der eigenen Schuld.

Demobericht Wien Akademikerball 25.01.2019

Jährlich findet in Wien der Akademiker- bzw. Burschiball statt. Die FPÖ lädt befreundete Rechtsradikale mit Burschihintergrund ein und feiert ein rechtsradikales Prunkstelldichein. Munter mischen sich Parteigranden wie Strache und Hofer mit Leuten wie Sellner, Straßenfaschos schütteln Amtsfaschos die Hand. Seit etwa zehn Jahren gibt es Proteste dagegen, nachdem die Veranstaltung etwa 50 Jahre unbeachtet von der Öffentlichkeit stattfinden konnte. Die Proteste wurden anfangs von Antifas organisiert, später fand dann parallel eine Bürgiveranstaltung zeitgleich statt. In den letzten Jahren haben sich die antifaschistischen Gruppen immer weiter rausgezogen – und das merkt man.

Gestern fand die momentan wöchentlich stattfindende Donnerstagsdemo gegen die Regierung statt und besuchte ein paar Burschenschaften. Die dort sichtbare autonome Beteiligung war heute mit Ausnahme von Einzelpersonen nicht auszumachen. Es fanden auch weniger Leute ihren Weg auf die Straße. Auszumachen waren dagegen viele Parteien und Bürgiorgas wie die Linkswende. Die Route war kurz und dementsprechend war sie schnell gelaufen. Von der Universität gings zum Stephansplatz und das war es dann auch schon.

Vor der Hofburg, in der der Ball dieses Jahr stattfand, fanden sich auch keine hundert Leute ein, um die Anreisenden zu bepöbeln. Vier Reihen Cops, bestehemd aus normalen Kiwarern und WEGA (den Wiener Riotcops), hatten keine Probleme die Anreise der Rechtsradikalen zu sichern. Und so bleibt nur ein sehr nüchternes Fazit zu ziehen: Keine Antifabeteiligung und die Bürgis bekommen es alleine nicht auf die Reihe ausreichend zu mobilisieren.

Demobericht Wien 24.01.2019

Demobericht Wien 24.01.2019

In Wien waren heute Abend einige tausend Menschen auf der Straße, um gegen die ÖVP-FPÖ-Regierung und völkisch-nationlistische Burschenschaften zu demonstrieren. Die hauptsächlich zivilgesellschaftlichen Proteste fanden dieses mal antifaschistischer Beteiligung statt, da die wöchentliche Demo dieses Mal die Vorabenddemo zum morgigen Akademikerball darstellte. Die autonome antifa w hielt zum Beispiel einen hervorragenden Redebeitrag zu Beginn der Demostration.

Die Route vom Hauptgebäude der Wiener Universität an mehreren Burschenschaften entlang zur Wiener FPÖ-Zentrale. An jeder Station wurde ausführlich über die rechtsradikalen Aktivitäten und Verbindungen zur FPÖ und anderen rechtsradikalen Akteuren informiert. Diese sind bedeutend stärker und offener als in Deutschland, die rechtsradikalen Burschenschaften stellen einen direkten Rekrutierungspool für Partei- und Regierungsfunktionäre dar.

Jede Burschenschaft wurde mit Eiern und anderem Wurfmaterial eingedeckt, die Deutschlandfahne der Gothiaburschenschaft mit Bengalobeschuss in Brand gesetzt. Im Gebäude direkt neben der Gothia hatte zudem die Burschenschaft Hysteria eine Wohnung besetzt und begrüßte die Demo unter frenetischem Jubel. Die Demo wurde auch immer wieder mit Bannerdrops begrüßt, unter anderem direkt zu Beginn vom Hauptbalkon der Universität. Außerdem wurde eine Polizeiwache mit Binden eingedeckt, auf denen unter anderem „Männerbünde zerschlagen“ stand.

Im Vergleich zu Demo in Deutschland war Polizeibegleitung auffallend schwach. Erst im letzten Drittel lief ein einziger Polizeifinger neben dem Antifablock mit. Auch die Burschenschaften waren vergleichsweise schwach gesichert. Auch wenn die schmalen Gassen der Wiener Innenstadt den Personenstrom etwas einengten, hätte man hier zu beiden Seiten die Gassen dicht machen und ordentlich Glasschaden verursachen können, ohne das die wenigen Kräfte vor Ort dagegen angekommen wären. Auch wären kreative Farbgestaltungen der Fassaden problemfrei möglich gewesen, man hätte nur Farbeier werfen müssen.

Rechtsradikale Ideologien im Wandel der Zeit

Ein wichtiger Aspekt im antifaschistischen Aktivismus ist die Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Ideologien. Man sollte sich zumindest grob im Dickicht rechter Ideologien auskennen und halbwegs sicher durch unterschiedliche Argumentationsmuster navigieren können. Damit lassen sich nicht nur Fragen beantworten, warum man im Wahl-o-mat mehr prozentuale Übereinstimmung mit der NPD als mit der AfD hat (die NPD hat mehr sozialere Forderungen als die im Grundsatzprogramm wirtschaftsfreundlich ausgerichtete AfD). Es lassen sich Anknüpfungspunkte an andere Ideologien finden, man lernt viel über die Ideengeschichte politischer Theorie und schärft auch das eigene Verständnis der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge. Und so ganz nebenbei verschafft man sich gutes Rüstzeug für Agitation und politische Debatten. Dabei begegnet man oft einer Art von Argumentation, die den Faschismus und Nationalsozialismus historifizieren oder rechtsradikale Ansichten dadurch nichtig machen wollen, dass man ja in einigen Punkten nicht so sei wie die Nazis.

„Fast niemand will heute alle Juden umbringen, es können also keine Nazis sein!“
„Die AfD kann gar nicht rechtsradikal sein, die haben mit Alice Weidel eine lesbische Frau als Fraktionsvorsitzende und Frauke Petry war auch Parteichefin!“
„Ich hab ausländische Freunde, ich kann nicht rechts sein!“

Interessanterweise gibt es auch immer wieder Personen mit eigentlich gutem Fachwissen, die eine strikte Linie der Historifizierung fahren. Dies passiert oft als Abwehr auf einen zu lax verwendeten Faschismus- oder Nationalsozialismusbegriff. Die AfD ist nicht die neue NSDAP, da gibt es einige bedeutende Unterschiede. So schreibt das Parteiengesetz der BRD bestimmte Organisationsformen vor und ein offen verfassungsfeindliches Grundsatzprogramm würde zum Verbot der Partei führen. Auch fehlt eine parteieigene Straßenmiliz, die regelmäßig politische Gegner*innen zusammenschlägt und ermordet. Es sind nicht alle Personen Nazis, die sich für noch strengere Zuwanderungsgesetze aussprechen. Oft wird im Gegenzug dann aber vergessen, dass die AfD die momentan größte rechtsradikale Kraft in Deutschland ist und mit der FPÖ eine rechtsradikale Partei in Österreich an der Regierung beteiligt ist. Der Fehler liegt hier in der Grundannahme, eine Ideologie habe sich exakt so zu zeigen wie im Jahr xyz und ist für immer und ewig unveränderlich. Dabei müssen auch rechtsradikale Ideolgien auf Veränderungen in Wirtschafts, Gesellschaft und (Geo-)Politik eingehen, wenn sie überhaupt die Möglichkeit haben wollen erfolgreich zu werden.

Rechts ist rechts ist rechts ist rechts

 

Die Begriffe rechts, links und Mitte/Zentrum sind äußerst ungenau und nicht wirklich trennscharf. Außerdem ändern sich die Ansichten dessen, was man mit dem jeweiligen Wort bezeichnet durchaus im Laufe der Zeit. In den USA würde man das Grundsatzprogramm der CDU vermutlich als sozialistisch oder gar kommunistisch bezeichnen, weil die Begriffe dort ganz anders verwendet werden als hier. Momentan machen zum Beispiel immer wieder Umfragen die Runde, dass Millenials mehrheitlich für den Sozialismus seien. Schaut man sich dann aber mal genau an, welche Forderungen dahinter stehen, stellt man fest, dass es sich um klassisches sozialdemokratisches Denken handelt und der kollektive Besitz der Produktionsmittel in der Regel nicht gemeint ist. Was ist denn nun aber links und was ist rechts?

Für beide Begriffe lässt sich nur eine Grobdefinition aufstellen. Und diese dreht sich um den Begriff der Gleichheit. Linke Theorien und Ideologien setzen auf eine möglichst gleiche Betrachtung oder Behandlung von Menschen und versucht Marker sozialer Ungleichheit wie Geschlecht, regionale Herkunft und Elternhaus so gut es geht zu bekämpfen. Es geht nicht um vollständige Gleichheit des Individuums, es geht um das Ignorieren vorhandener Unterschiede und das Eliminieren der Auswirkungen natürlicher Ungleichheit. Rechte Ideologie dagegen setzt gegenteilig auf das Bewahren oder gar das Verstärken vorhandener Ungleichheit. Setzten sich Linke dafür ein, dass Personen egal welchen Geschlechts gleich behandelt werden, weisen Rechte den Geschlechtern unterschiedliche Rollen zu und wollen eine Ungleichbehandlung. Wie genau jetzt diese Ideologien der (Un-)Gleichbehandlung aussehen ist die Frage der konkreten Ideologie. Als weitere Oberkategorie neben links und rechts als Grobverortung erweist sich vor allem die Unterteilung in Links- und Rechtsradikalismus als sinnvoll. Das Wort radikal leitet sich lateinischen Wort radix, Wurzel, ab. Deshalb heißt das Ziehen der Wurzel in der Mathematik auch radizieren und auf dem Taschenrechner oder in Rechenprogrammen findet man die Wurzelfunktion oft unter dem Kürzel „rad“ wieder. Angewandt auf politische Theorie bedeutet linksradikal zu sein dann, dass man die Gesellschaft von der Wurzel auf, also radikal, verändern möchte. Man will nicht nur punktuelle Veränderungen vornehmen, sondern Staat, Gesellschaft und Politik auf völlig neue Grundfesten stellen bezehungsweise so weit verändern, dass ein neuer Begriff zur Bezeichnung notwendig wird. Analog gilt dies auch für Rechtsradikale. Diese Begriffe sind insofern sinnvoll, da sie einen Wirkungsanspruch markieren. Sprich: Ließe man Links- oder Rechtsradikalen freie Hand, sie würden das jetzige System abschaffen, nicht nur modifizieren.

Die Zäsur der Moderne

 

Das klassische Links-Rechts-Spektrum hat ihren Ursprung in der Sitzordnung des französischen Parlaments während der Revolution 1789. Rechts der Mitte saßen die Royalisten, links die Republikaner. Die Einteilung entspringt also der Geburtsstunde der bürgerlichen Gesellschaft. Die Französische Revolution ist einer wenigen konkret greifbaren Momente, die den Wandel der feudalen Gesellschaftsordnung hin zur Moderne charakterisieren. Dieser Wandel vollzog sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts in ganz Europa und wälzte die bis dahin bekannte Ordnung vollständig um. Die bisherige Ständegesellschaft löste sich auf, mit ihr auch das alte Verpflichtungs- und Absicherungssystem, die Geldwirtschaft weitete sich aus, mit der Durchsetzung der Lohnarbeit wurde der Alltag der Menschen in bisher unbekannter Weise mathematisiert, Wissenschaft und Industrialisierung gingen Hand in Hand mit einem steten Wachstumsoptimismus einher, die Nationalstaaten bildeten sich und noch vieles mehr.

Als Reaktion auf diese tiefgreifenden Veränderungen bildete sich eine neue Wissenschaft heraus, die zum Ende des 19. Jahrhunderts als Soziologie ihren bis heute gültigen Namen bekommen sollte. Menschen begannen damit die Veränderungen um sie herum zu beschreiben, zu kategorisieren, zu systematisieren und lieferten Erklärungsversuche für das, was passierte. Der Wandel wurde aber nicht nur kritiklos hingenommen. Personen wie Marx, Engels, Proudhon oder Bakunin entwickelten teilweise radikale Kritiken an den Zuständen, es kam zu Massenverelendungen und modernen Formen der Sklaverei in den Fabriken, ganz zu schweigen von der realen Sklaverei in den Kolonien und in den USA. Aber nicht nur von linker Seite gab es diese Kritik, die sich vor allem darauf bezog, dass die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nur für wenige Menschen zutraf und Frauen komplett ignorierte. Der zusehende Verlust des ständischen Systems und der feudalen Produktionsweise rief auch Personen auf den Plan, die eben genau dies zurückhaben wollten. Manche nur in Teilen, andere vollständig.

Die Deutschwerdung

 

Im deutschsprachigen Raum bildete sich die Gegenbewegung zur Moderne in der Romantik. Der Wissenschaftlichkeit stellte man eine Mystifizierung der Welt entgegen, der Rationalität und der Logik das gefühlsbetonte Empfinden. Weltschmerz, Innerlichkeit und die Überhöhung der Natur kennzeichneten die radikale Ablehnung des modernen, städtischen Lebens. Ausläufer dieser fundamentalistischen Abkehr finden sich in den Schriften Wagners oder in Gedichten Georges wieder. Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der Niederlage gegen Napolein war zudem 1806 der zumindest ideell noch vorhandene politische Zusammenhang von etwas Deutschem verschwunden. Als Reaktion darauf wurde der Volksbegriff mythologisiert und als Kernelement der Deutschen ausgemacht.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts fanden zudem verstärkt rassebiologische Theorien Einzug in den Volksbegriff und wandelten diesen in einen völkischen um. Hier werden bestimmte Elemente der Moderne nicht abgelehnt. Im Gegenteil, man bediente sich der Erkenntnisse der Wissenschaft und begründete mit ihnen die Überlegenheit der nordischen Rasse oder des deutschen Volkes. Beim rassebiologischen Volksbegriff machten verschiedene Theorien die Runde, teilweise stand man sich auch in den Positionen gegenüber. Wer die Überlegenheit der nordischen Rasse annahm, erklärte damit mehr oder weniger direkt Personen aus dem südlichen deutschsprachigen Raum für unterlegen. Andere wiederum sahen den Adel als genetisch bevorteilt an, der von Natur aus zu Höherem bestimmt sei und über Fähigkeiten verfüge, über die andere Schichten oder Stände nicht verfügten. Es sei daher nur richtig, wenn man das Ständesystem weiter aufrecht erhält und dem Adel Rechte einräumt, die man anderen Ständen verwehrt. Die Maßnahmen zur Aufrechterhaltung beziehungsweise Züchtung genetisch möglichst reiner Menschen waren dann aber doch wieder gleich. Heiratsverbote und -anreize innerhalb bestimmter Gruppen, Sterilisierung als degeneriert angesehener Personen, in letzter Konsequenz Ausrottung schwacher Elemente, insbesondere der Juden. Man betrachtete den Menschen als züchtbar wie den Hund und zeigte keine Gnade mit den als unwert betrachteten Menschen.

Die größte politische Veränderung stellte die Gründung des Kaiserreiches 1870/71 dar. Der deutschsprachige Raum war vorher durch Fürstentümer gekennzeichnet, wobei sich Preußen, Sachsen und Bayern den Königstitel verliehen haben und die Habsburger Lande immer noch vom Kaiser beherrscht wurden. Ein wirkliches Einheitsgefühl gab es bis dahin nicht, man führte oft Krieg gegeneinander und die preußische Expansionspolitik bereitete Vielen Kopfschmerzen. Die alte Ordnung wurde dann mit Vereinigung von oben beendet und mit der sogenannten kleindeutschen Lösung ein Reich ohne die Habsburger Lande gegründet. Das Kaiserreich wurde ein semiabsolutistischer Staat und die erste wirkliche Nation im deutschsprachigen Raum. Man behielt die Ständeordnung bei und zementierte sie im preußischen Zensuswahlrecht, welches als Vorbild galt. Jubilierte einerseits die radikale Rechte über die neue Großmacht im Zentrum Europas, so missfielen ihr aber auch viele Dinge. Juden wurden die gleichen Rechte zugesprochen und viele Verbände setzten sich für ein Ende der Judenemanzipation ein. Auch die von oben forcierte Industrialisierung traf nicht überall auf Gegenliebe, insbesondere in den ländlichen Regionen, die stark durch das Bauerntum geprägt waren. Dennoch musste sich die radikale Rechte auf die neuen politischen Umstände einlassen, ob sie wollte oder nicht.

Die Mobilisierung aller Kräfte

Was man in Bezug auf die politische Landkarte im Kaiserreich aber nicht vergessen darf ist, dass eine aus heutiger als radikale Rechte zu bezeichnende politische Strömung durch die Hohenzollernmonarchie direkten Zugriff auf den Staatsapparat hatte. Wir haben es mit einer nationalistischen Erbmonarchie zu tun, welche insbesondere unter Kaiser Wilhelm II chauvinistische Auswüchse annahm. Man stütze sich auf das Militär, verfolgte Linke, unterdrückte Katholiken, sicherte sich noch ein paar Kolonien (in denen man Aufstände teilweise genozidal niederschlug), verwehrte Frauen Rechte und Teilhabe. Wilhelm II selber äußerte sich immer wieder antisemitisch und rassistisch, drohte damit Linke im Falle von Streiks niederschießen zu lassen und stellte sich gegen einen gesellschaftlichen Liberalismus. Das Kaiserreich blieb eine ständische Gesellschaft mit moderner, sprich kapitalistischer, Wirtschaftsweise. Trotzdem verstand sich Wilhelm II zuvorderst als Kaiser aller Deutschen und machte die Judenemanzipation nicht rückgängig, so antisemitisch er auch selbst gewesen sein mag. Zudem war er zwar rassistisch, aber nicht rassebiologisch. Er sprach oft von Völkern und ihren Eigenschaften, an verschiedenen Aussagen lässt sich aber nachvollziehen, dass er Völker nicht im völkisch-rassischen Sinne verstand. Er setzte sie mehr oder weniger mit dem Staatsvolk gleich, also der Bevölkerung innerhalb eines staatlichen Territoriums. Daher war die offizielle Politik des Kaiserreiches auch nationalchauvinistisch, nicht völkisch.

Den größten Einfluss auf die Entwicklung der radikalen Rechten in Deutschland sollte Wilhelm II jedoch mit seinen Reden zum Kriegseinstieg Deutschlands 1914 haben. In den Balkonreden beschwor er die Einheit des deutschen Volkes und stellte das Volkskollektiv als über allem stehendes verbindendes Element dar: „Kommt es zum Kampf, so hören alle Parteien auf! Auch Mich hat die eine oder die andere Partei wohl angegriffen. Das war in Friedenszeiten. Ich verzeihe es heute von ganzem Herzen! Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ Neben den Reden war es insbesondere das Momentum der Generalmobilmachung, welcher im kollektiven Gedächtnis das ganze Land ergriff und alle zu einer Einheit verband. Dieser Mythos von 1914 wird bis heute von der radikalen Rechten vertreten, auch gegen historisch gesicherte Tatsachen wie Massenproteste und fehlenden Enthusiasmus großer Bevölkerungsschichten.

Der Erste Weltkrieg sollte der erste große Krieg der Moderne werden, standen sich hier doch die industrialisierten Großmächte Europas direkt gegenüber. Was war nun das Besondere, zumindest in der Lesart der radikalen Rechten? Es zog nicht eine Armee für den Kaiser in die Schlacht, hier kämpfte das gesamte deutsche Volk mit all seinen Kräften für seinen Erhalt. Das Fronterlebnis wurde zu einer „Sozialismus der Schützengräben“ verklärt. Unabhängig vom Geburtsstand oder der Herkunft konnte man sich hier für Volk und Vaterland verdient machen. Unter dem Trommelfeuer von Artillerie, Maschinengewehren und Giftgasangriffen waren alle gleich und der Mann fand zu seiner Bestimmung des heldenhaften Kampfes für eine größere Sache zu sich selbst. An der Heimatfront hatten auch alle ihren Dienst zu tun. Frauen füllten Positionen, die durch die an die Front berufenen Männer nicht mehr besetzt waren. Das gesamte Reich agierte als Einheit für den Sieg. Ungeschlagen an der Front wurde der Sieg durch den Dolchstoß der verhassten Linken verhindert, außerdem sei der Siegeswille an der Heimatfront nicht stark genug gewesen. Die Mobilisierung aller Teile des Volkes war nicht gut genug gewesen. Trotz technischem und industriellem Fortschritt verlor das deutsche Volk den Krieg durch einen Mangel an inneren Werten. So die Kurzform des späteren Mythos.

Die Verklärung war einerseits eine taktische. Die Generalität wusste sehr wohl, dass der Krieg nicht zu gewinnen war und das Reich spätestens nach dem Kriegseintritt der USA zu vielen und starken Gegnern gegenüberstand und wirtschaftlich am Ende war. Der Dolchstoß war erfunden, der Kieler Matrosenaufstand nur das Resultat eines Befehls der Admiralität mit allen Schiffen auszulaufen und in einem letzten ehrenhaften Gefecht gegen das Vereinigte Königreich unterzugehen. Später war man dann aber so klug die Kapitulationsverhandlungen die SPD-geführte Übergangsregierung führen zu lassen. Dadurch war man offiziell fein raus und konnte das eigene Ansehen unbeschadet retten, indem man alle Schuld auf die bürgerliche Regierung abwälzte und den Dolchstoß von links erfand. Andererseits war die Verklärung der Kriegserlebnisse der Startpunkt vieler neuartiger rechtsradikaler Ideologien. Arthur Moeller van den Bruck entwickelte das Vokabular der folgenden Jahre und veröffentlichte eines der einflussreichsten Bücher der Zeit: Das Dritte Reich. Anstatt auf eine ständische Gesellschaft zu bauen war jetzt die mythisch überhöhte Volksnation das Ziel. Es sei die historische Bestimmung des deutschen Volkes in einem metaphysischem Reich aufzugehen, dies sei die einzige ihm angemessene Staatsform. Die Mobilisierung aller Kräfte sollte in den folgenden Jahren diverse Ideologien beeinflussen und dann schlussendlich im Totalen Krieg des Nationalsozialismus seinen Höhepunkt finden.

Radikalisierung

 

Die Zwanziger sollten sich als fruchtbare Zeit für rechtsradikale Ideologien erweisen. Mit der Weimarer Republik hatte man einen gemeinsamen, verhassten Feind, die bürgerliche Demokratie verachtete man zutiefst. Die literarische Verwertung seiner Kriegstagebücher und sein politisch-publizistisches Engagement machten ernst Jünger zu einem Star der radikalisierten Rechten, der aus seiner politischen Gesinnung keinen Hehl machte: „Ich hasse die Demokratie wie die Pest.“ Befreit von den Fesseln der Monarchie und des preußischen Nationalismus alter Art verarbeitete man die Ereignisse und Erlebnisse rund um den Ersten Weltkrieg zu immer neuen Theorien. Angestachelt durch den Sieg der Faschisten in Italien sah man auch im Deutschen Reich die Zeit für eine moderne Diktatur gekommen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich der vorherrschende Konservatismus der Kaiserzeit zu nationalrevolutionären Ideologien. Man konnte gar nicht mehr radikal genug sein, hierzu auch noch mal Ernst Jünger: „Wir können gar nicht national, ja nationalistisch genug sein.“ Viele einflussreiche Namen dieser Zeit haben bis heute eine unmittelbare Relevanz für die radikale Rechte, nicht nur in Deutschland: Arthur Moeller van den Bruck, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Edgar Julius Jung, Oswald Spengler, Thomas Mann (welcher sich ab 1922 zusehends hin zu einem Demokraten entwickelte), Ernst von Salomon, die Strasser-Brüder, Joseph Goebbels, Adolf Hitler, Erich Ludendorff, Alfred Hugenberg.

Die einzelnen Theorien unterschieden sich teilweise beträchtlich, jedoch aktualisierte man vorhandene Ideologien um die Erkenntnisse des Ersten Weltkriegs. Ähnlich wie es Linksradikale schon seit Jahrzehnten versuchten, setzte man jetzt zusehends auf eine revolutionäre Massenbewegung um die Republik zu stürzen. Eine wichtige Rollen spielten dabei die protofaschistischen Freikorps und Soldatenverbände wie der Stahlhelm, in denen sich viele der über zehn Millionen Soldaten nach Kriegsende organisierten. Die Freikorps arbeiteten nach Kriegsende mit der SPD-geführten Regierung zusammen und schlugen für diese linksradikale Revolutionsbestrebungen in den Jahren 1918-1923 nieder. Ähnliche Gruppen gab es auch in Italien und aus diesen männerbündischen Veteranentrupps sollten sich dann diejenigen Mussolinis besonders hervortun und innerhalb weniger Jahre die Macht übernehmen können. Der Stahlhelm, welcher als bewaffneter Straßenarm der DNVP gelten kann, gab eine eigene Publikation heraus (in der unter anderem Ernst Jünger veröffentlichte) und kam in Spitzenzeiten auf etwa 500.000 Mitglieder. Zum Vergleich: Der Alldeutsche Verband, einer der einflussreichsten rechtsradikalen Verbände im Kaiserreich, kam inklusive Doppelmitgliedschaften aus anderen Verbänden in Spitzenzeiten auf maximal 100.000 Personen – die nicht paramilitärisch organisiert waren. Man muss sich diese Dimensionen vor Augen führen um den Zeitenwechsel innerhalb der radikalen Rechten zu begreifen. War im Kaiserreich eine Beeinflussung der Politik hauptsächlich über Interessensverbände möglich und sämtliche polizeiliche und militärische Gewalt fest in staatlicher Hand, standen jetzt auf einmal Millionen ausgebildeter Soldaten mit Fronterfahrung zur Verfügung, von denen große Teile das neue System ablehnten und in paramilitärischen Strukturen organisiert waren. Allein dieser Umstand verlangte eine theoretische und strategische Weiterentwicklung bisheriger Ideologien.

Weiterhin großen Einfluss übten sozialdarwinistische und rassebiologische Theorien aus. Der Antisemitismus hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als neuartiges Ressentiment gegen die Moderne herauskristallisiert und mit völkischen Ideen bis zur Maximalforderung der Judenvernichtung gesteigert. Die Fantasie eines genetisch reinen und gesunden Volkskörper fand weiterhin einflussreiche Anhänger*innen – Männer wie Frauen arbeiteten an diesem Ziel und bildeten Vorstufen der Lebensborneinrichtungen der Nazis. Das völkische Denken löste zusehends das alte ständegesellschaftliche Denken ab und erzeugte eine ideologische Mischform aus Ablehnung und Befürwortung der Moderne. Diese ist keine Neuerung der Zwischenkriegszeit und war so auch schon im Kaiserreich anzutreffen. Auf der einen Seite befürwortete man den wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt und zeigte sich hier ausgesprochen modern. Auf der anderen Seite lehnte man die gesellschaftliche Moderne ab und suchte das Bauertum zu erhalten. Außerdem präsentierte man sich in Teilen kritisch gegenüber dem Kapitalismus und wollte bestimmte Ausprägungen bekämpfen. Die bekannte Einteilung in raffendes und schaffendes Kapital geht zurück bis weit 19. Jahrhundert. Neu war allerdings, dass man sich auch um das Proletariat bemühte und versuchte mit gewissen sozialen Forderungen dort Stimmen abzugreifen. Dabei hatte man einen schwierigen Balanceakt zwischen altem Kapital, Kleinbürgertum, Bauernverbände und dem Proletariat zu meistern, denn die jeweiligen Einzelinteressen widersprachen sich oft. Da man aber das gesamte deutsche Volk zu mobilisieren versuchte, konnte man nicht einfach große Bevölkerungsschichten ignorieren. Programmatisch sind hier die Reden Hitlers von 1930 bis 1933 zu nennen, die oft von Strasser geschrieben wurden und den großen Stimmenzuwachs der NSDAP mit ihren sozialeren Profil im Vergleich zum Beispiel zur DNVP begründen. Ebenfalls neu war die Verbindung des völkischen Denkens mit dem revolutionären Ansatz, was sich dann schlussendlich in der Nazizeit zu einem neuen Gesellschaftssystem zusammenführen sollte.

Der Holocaust und der Zweite Weltkrieg

 

Nachdem die Nazis in den Jahren 1932 und 1933 in die höchsten Staatsämter der Weimarer Republik gelassen wurden und man Hitler zum Reichskanzler ernannte, hatte die radikale Rechte wieder unmittelbaren Zugang zu allen Machtressourcen. Diese wurden umgehend eingesetzt um mögliche Widerstände innerhalb des Reiches auszuschalten: Linke, Linksliberale, Bürgerliche, Gewerkschaftler*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen – sie alle wurden unterdrückt, verfolgt, außer Landes getrieben oder ermordet. Doch auch innerhalb der radikalen Rechten wurde hart durchgegriffen. Im Zuge des fingierten Röhmputsches wurden Strasser und Jung ermordet, andere rechte Vordenker versuchte man in das System einzubinden oder stellte sie kalt. Die größten Kopfschmerzen bereitete der radikalen Rechten aber die Kompromisslosigkeit der Nazis. Sie gingen den Weg ihrer Ideologie so konsequent, wie es in den zwölf Jahren ihrer Herrschaft überhaupt möglich war, und hinterließen einen zerstörten Kontinent, über 40 Millionen Tote in Europa und dem schlimmsten Verbrechen des Menschen am Menschen in der bisherigen Geschichte, den Holocaust. Das Deutsche Reich wurde vollständig besetzt und im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg hat die Zivilbevölkerung die Folgen des von ihm unterstützten und akzeptierten Wahns direkt zu spüren bekommen. Bis heute opfert man auf rechter Seite herum und versucht sich als wahres Opfer des Krieges zu inszenieren.

Jetzt waren die Folgen und die Verbrechen der Nazizeit so riesig, dass sich eine positive Bezugnahme darauf praktisch mit Kriegsende sofort erledigte. Man war in den Folgejahren damit beschäftigt die eigene Haut zu retten und nicht auf den Schirm der Entnazifizierung zu kommen, die in der sowjetischen Besatzungszone erheblich konsequenter durchgeführt wurde als in den alliierten Zonen, Österreich ließ man gar ganz in Ruhe. Doch nicht nur das eigene Wohlergehen waren der Grund dafür, der totale Wahn der NS-Ideologie gipfelte in der totalen Niederlage. Worauf soll man sich da noch positiv beziehen? Man hatte bis zur letzten Patrone gekämpft, mit dem Volkssturm alt und jung in den aussichtslosen Kampf geworfen und mit brutalster Sklaverei Menschen zu Tode geschunden oder gleich vergast. Die bisher radikalste Ideologie hatte voll und ganz verloren, das geliebte und geheiligte Deutschland war besetzt und zerstört. Eine Möglichkeit war sich politisch neu zu organisieren und wie nach dem Ersten Weltkrieg die neue Republik von innen zu bekämpfen. Die Sozialistische Reichspartei wurde jedoch 1952 als Nachfolgepartei der NSDAP verboten und die Besetzung durch die Alliierten verhinderte ähnliche Strategien wie in den 20ern.

Einen anderen Weg ging Armin Mohler, der aus der Schweiz ins Deutsche Reich geflohen war und vergeblich versuchte sich bei der Waffen-SS zu melden. Dieser wurde nach dem Krieg für ein paar Jahre Privatsekretär Ernst Jüngers und erstellte ein Kompendium rechtsradikaler Ideologien der Zwanziger Jahre, welches er „Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932“ nannte. Ursprünglich seine Dissertation, erweiterte er diese zum Buchformat in etlichen Aufgaben. Mohler hatte ein klares Ziel: Eine Abspaltung des Nationalsozialismus von anderen nationalrevolutionären Ideologien, um diese dann als unbefleckt von den Naziverbrechen präsentieren zu können. Historisch haltbar ist davon nichts, aber um historische Richtigkeit ging es auch nicht. Mohler wollte unterschiedliche Ideologien, die aus der selben Ecke wie der Nationalsozialismus kommen, als Anknüpfungspunkte in die Post-NS-Zeit retten. Deshalb warf er alles in einen Topf und präsentierte teilweise gegenläufige Ansichten als Teil einer großen Denkschule und unterschlug sämtliche Verbindungen zum Nationalsozialismus. Ernst Jünger hatte sich zum Beispiel noch vor Kriegsbeginn freiwillig zur Wehrmacht gemeldet und Carl Schmitt arbeitete dem Regime offen zu.

Antiliberalismus und der Antikommunismus als Brücke ins liberale Lager

 

Wichtig beim Verständnis der radikalen Rechten ist, dass diese nicht isoliert in einem luftleeren Raum entsteht und ohne jegliche Außenkontakte wie von sich selbst existiert. Die radikale Rechte ist Teil der Gesellschaft, zeitweise hatte sie auch die Macht inne und war somit das, was man per inhaltsentkernten Extremismustheorie als „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnen würde. Im Kaiserreich und während des Nationalsozialismus waren rechtsradikale Ideologien gesellschaftlich vorherrschend und dominant. Eine konstante im rechtsradikalen Denken ist die Ablehnung gesellschaftlichen Liberalismus und des universalistischen Anspruches liberaler Ideologie – auch wenn dieser in der Praxis nur partikular vertreten wird. Die allgemeinen Menschenrechte galten nicht für die Sklav*innen oder in den Kolonialgebieten. Die Ablehnung sitzt tief und bis heute finden sich immer wieder Verweise auf die Jahreszahlen 1789 und 1968, welche das alte Europa und seine Völker zerstören würden. In einigen Lesarten wird dann auch noch die radikale Linke mit Kommunismus und Anarchismus dem Liberalimus zugeschlagen. In ihnen sieht man die höchste Stufe der Gleichmacherei, verbunden mit der zugespitzten Annahme, man wolle alle Menschen vollständig gleich machen. Ein Graus für Personen, denen die Betonung von Unterschieden der zentrale politische Anspruch ist.

Interessanterweise teilt man die Ablehnung der radikalen Linken dann aber auch wieder mit den Liberalen. Insbesondere der Wirtschaftsliberalismus ist hier problemfrei anschlussfähig an rechtsradikale Ideologien. Warum? Man fürchtet die Änderung der Besitzverhältnisse, schließlich haben radikale Linke den Anspruch die Produktionsmittel zu kollektivieren. Und der Wirtschaftsliberalismus muss auch nicht mit einem sozialem Liberalismus einhergehen. Im Kaiserreich setzte man auch die kapitalistische Produktionsweise durch, der Staat förderte massiv die Industrialisierung, trotzdem blieb es ein konservativer Ständestaat. Wirklich in Angst und Schrecken versetzte die bürgerliche Welt dann die erfolgreiche Oktoberrevolution, mit der vorher niemand wirklich gerechnet hatte. Über Jahrzehnte hatte man die sozialrevolutionären Bestrebungen in Europa und in den USA mehr oder weniger erfolgreich unterdrücken können. Man hatte zwar Angst der anarchistischen Propaganda der Tat zum Opfer zu fallen, als herrschende Klasse sah man sich aber nicht unmittelbar in Gefahr.

Die Machtübernahme der Bolschwiki war ein Schock. Im daraufhin ausbrechenden russischem Bürgerkrieg entsandte die Entente unter Führung von Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA Truppen nach Russland. Man wollte Kriegsgüter sichern, die man dem zaristischen Russland als Unterstützung hat zukommen lassen, vor allem wollte man aber den Kommunismus verhindern. Eine erfolgreiche kommunistische Revolution sah man als reale Gefahr an, könnten sich doch auch andere revolutionäre Bewegungen zum Aufstand entschließen. Diese Annahme sollte sich auch in Teilen als richtig herausstellen, insbesondere das Deutsche Reich und Italien waren gegen Kriegsende und in den Nachkriegsjahren von revolutionären Bestrebungen und Massenstreiks betroffen. Und das mit weitreichenden Konsequenzen.

Die Angst vor einem linksradikalen Umsturz war so groß, dass weite Teile des Bürgertums bereit waren mit radikal rechten Kräften zu kooperieren und ihnen Macht zu übertragen. Das Gespenst ging wieder einmal um in Europa. In Deutschland schloss die SPD mit der Generalität und mit den Freikorps einen Pakt zur Niederschlagung linker Proteste. Nach der Bewilligung der Kriegskredite 1914 der zweite Großverrat der SPD an den eigenen Genoss*innen. Die prominentesten Opfer sind Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, weniger bekannte der Anarchist Gustav Landauer und der Kommunist Eugen Levinè. Die letztgenannten waren am Versuch der Münchner Räterepublik beteiligt. Bei der Niederschlagung der Räterepublik war unter anderem der spätere SA-Führer Ernst Röhm beteiligt, der für die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts mit Rückendeckung von Noske und Ebert (beide SPD) verantwortliche Offizier Waldemar Pabst beteiligte sich 1920 am rechtsradikalen Kapp-Putsch. Auch in Italien bot sich die aufkommende faschistische Bewegung Mussolinis als Kampfbund gegen den Kommunismus an und erhielt Unterstützung diverser Industrieller, da man so die ständigen Streiks brechen wollte. Die bürgerlich-konservativen Kräfte hatten eine solche Angst vor der radikalen Linken, dass sie mutwillig die radikale Rechte hofierten, sie als kontrollierbar ansahen und als Werkzeug gegen die Linke einsetzen wollten oder deren Treiben als kleineres Übel akzeptierten. Die Unfähigkeit des klassischen Liberalismus, die Gefahr des Faschismus zu erkennen und zu bekämpfen, sollte später den Zweiten Weltkrieg und de Holocaust mitbedingen und die offene rechte Flanke dieser Ideologie brutal offenlegen.

Der Antisemitismus und die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung

 

Auf die Oktoberevolution reagierte die radikale Rechte aber auch in ideologischer Weise und passte den Antisemitismus den neuen Begebenheiten an. Bereits 1903 waren die gefälschten „Protokolle der Weisen von Zion“ in Russland erschienen und dokumentierten eine angebliche Verschwörung des Judentums zur Kontrolle der Welt. Die Protokolle bündelten eine Vielzahl vorhandener antisemitischer und antijudaistischer Ressentiments der Zeit und machte sie in relativ kompakter und für geneigte Person in glaubhafter Form weiterverbreitbar. So zeigte sich der us-amerikanische Großindustrielle Henry Ford (ja genau, der Autohersteller) so begeistert von den Protokollen, dass er ein darauf basierendes Buch in Großauflage verbreiten ließ und zum Teil beim Kauf eines Autos als Geschenk des Hauses mitgab. Mit dem Sieg der Bolschewiki wurden diese umgehend in das Hirngespinst der Weltverschwörung integriert, der kommunistische Anspruch der Weltrevolution bot dafür einen idealen Ansatzpunkt. Das Resultat war dann die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung, welche als Ziel die Zerstörung der westlichen Zivilisation hatte und alle Völker der Erde unterjochen und zersetzen wollte. Zusammen mit schon vorher vorhandenen genozidalen Äußerungen in Richtung der Juden entfalteten die Protokolle und die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung einen Radikalisierungssog des Antisemitismus, dessen Resultat, der Holocaust, bekannt ist. Der Antisemitismus als modernes Ressentiment gegen die Juden führt in letzter Konsequenz immer zu einer Vernichtungslogik, da man das Jüdische als zersetzend, parasitär, zerstörend ansieht – für alle Länder der Erde.

Die Niederlage des Dritten Reiches hinterließ einen sprichwörtlichen Trümmerhaufen. Ein ganzer Kontinent war zerstört worden über 40 Millionen Menschen gestorben und der Wahn der nationalsozialistischen Vernichtungsideologie musste von allen politischen Theorien in irgendeiner Form berücksichtigt werden. Die sich als Nachfolge der NSDAP verstehende Sozialistische Reichspartei (SRP) war offen nationalsozialistisch und strebte offiziell eine Lösung der Judenfrage an – mit anderen Mitteln als in der Nazizeit. Sie wurde 1952 als erste Partei in der Zeit der Bundesrepublik verboten. Das Verbot betraf nicht nur die SRP, es waren auch alle Untergruppierungen und Nachfolgeorganisationen betroffen. Dieses konsequente Verbotsrecht war eine Antwort des bürgerlichen Staatsrechts auf die NS-Zeit, welches die BRD als „wehrhafte Demokratie“ konzipierte. Die Deutsche Reichspartei (DRP), welche sich in eine ideengeschichtliche Traditionslinie der DNVP stellte, blieb bundesweit irrelevant, schaffte es aber in zwei Landesparlamente. Hier wollte man das Kaiserreich wieder herstellen, mindestens in den Grenzen von 1937, und verweigerte einer Aufarbeitung der Nazizeit vollständig. Stattdessen präsentierte man eine neue, spezifisch deutsche Form des Antisemitismus: den sekundären oder auch Schuldabwehrantisemitismus. So sprach man von der Auschwitzlüge und war generell nicht gewillt auch nur ansatzweise ein Schuldeingeständnis abzugeben. Die stete Relativierung des Holocaust und der Verbrechen der Nazizeit ist ein bis heute beliebtes Unterfangen insbesondere der deutschen Rechten, findet sich aber auch im bürgerlichen Spektrum bei steten Hufeisenwerfen die DDR oder Sowjetunion bzw. „den Kommunismus“ als mindestens genauso schlimm darzustellen wie die Nazizeit, da man sich hier auf die Sowjetunion als Hauptschuldige einschießen konnte, während man beim NS die gesamtdeutsche Bevölkerung als schuldig betrachten müsste. Man wälzt die Schuld auf Akteure außerhalb ab. Die jüdisch-deutsche Publizistin fasst den Komplex der Schuldabwehr wie folgt zusammen:

„Es scheint, dass die Deutschen uns Auschwitz nie verzeihen werden.Das ist ihre Krankheit, und sie verlangen verzweifelt nach Heilung. Aber sie wollen sie leicht und schmerzlos. Sie lehnen es ab, sich unters Messer zu legen, das heißt: sich der Vergangenheit und ihrem Anteil daran zu stellen“

Neben diesem Komplex musste auch die Staatsgründung Israels verarbeitet werden. Mit Unterstützung der Sowjetunion konnte im sogenannten Gründungskrieg Israel gegen den Widerstand sämtlicher umliegender arabischen Staaten und unter strikter Nichteinmischung der Briten (die zuvor das Gebiet verwaltet hatten) gegründet werden. Die Juden hatten jetzt einen eigenen Schutzraum, den sie verteidigen konnten. Nach Jahrhunderten, in denen man als Gruppe dem Wohlwollen der jeweiligen Länder und Gesellschaften ausgeliefert war, konnte man sich jetzt selbst verteidigen. Der rechte Antisemitismus antwortete darauf zweierlei. Entweder lehnte man den Staat Israel ab, da die Endlösung der Judenfrage damit nicht zu vereinbaren war. Oder man war für Israel und ganz besonders dafür, dass alle Juden nach Israel gehen. Man sah bzw. sieht Israel als Mittel zum Zweck an, ein judenfreies Deutschland oder Österreich zu bekommen. Damit schließt man an Ideen wie den Madagaskarplan an, bei dem die NS-Administration ins Auge gefasst hatte, alle Juden nach Madagaskar auszusiedeln.

Der zweite Weg war der des Antizionismus. Anstatt gegen jüdische Personen oder Gruppen zu hetzen, machte man jetzt stellvertretend gegen den Schutzraum der Juden mobil. Der Antisemitismus hat sich auf die geopolitische Situation nach 1948 eingestellt. Mit dieser Haltung sollte die radikale Rechte jedoch nicht allein bleiben, insbesondere nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 stimmte die radikale Linke international in den Antizionismus ein. Die Sowjetunion hatte zwischenzeitlich die Unterstützung Israels beendet, da man keinen realsozialistischen Satellitenstaat installieren konnte, und sich auf die Seite der arabischen Staaten gestellt. Dabei lässt sich bis heute eine teilweise Übernahme von Slogans und Inhalten beobachten. So marschiert die NPD mit „Nie wieder Israel!“-Sprechchören auf und Neonazis solidarisieren sich mit dem „Widerstand des palästinensischen Volkes“. Neben dem Antizionismus findet sich moderner Antisemitismus auch im Ressentiment gegen Einzelpersonen. War lange Zeit der inzwischen verstorbene Rockefeller Zier antisemitischen Hasses, hat inzwischen George Soros diesen Platz eingenommen. Martin Sellner, Führungskader der Identitären, schafft es zum Beispiel ein aufklärendes Video über die jüdische Weltverschwörung zu drehen, behauptet dann aber an anderer Stelle, Soros würde alle Häfen bezahlen das von der IB gecharterte Schiff während der katastrophalen Mittelmehraktion nicht einlaufen zu lassen. Auch AfD und FPÖ schießen mit antisemitischen Stereotypen gegen Soros, den Antisemitismus lässt sich die radikale Rechte eben nicht wegnehmen.

Die 68er bis heute

 

Wirklich Schwung in die rechtsradikale Bude brachte aber erst der soziale Umbruch, den man heute als 68er-Bewegung bezeichnet. Antiautoritäre Proteste wendeten sich gegen den saturierten Wohlstandskonservatismus der Nachkriegszeit und forderten eine Liberalisierung der Gesellschaft und Teilhabe aller an dieser ein. Hauptsächlich war dieser Umbruch ein linksliberaler mit Ausläufern in den Linksradikalismus, hinterließ aber auch in der Rechten bleibende Spuren. In Frankreich orientierte sich ein Alain Benoist an linken Theorien, insbesondere an Schriften Antonio Gramscis, verband diese mit dem Begriff des Politischen von Carl Schmitt und erarbeitete Konzepte wie das der Metapolitik (im linken Sprachgebrauch mit dem Bereich des Vorpolitischen vergleichbar). Auch Schriften wie das situationistische Manifest übten einen Einfluss, ebenso der Antikolonialismus. Hier konzentrierte man sich auf den Aspekt der Selbstbestimmung aller Völker, welche frei von Beeinflussung ihre als natürlich angesehenen Eigenarten ausleben sollten. 1973 führte Henning Eichfeld hier das Konzept des Ethnopluralismus ein, welches bis heute in abgewandelter Form großen Einfluss ausübt und zum Beispiel das politische Leitbild der Identitären ist.

Anstatt auf klassisch rechtsradikale Rassenlehre zu setzen war auf einmal von der Vielfalt der Völker die Rede, welche es zu bewahren gelte. Mit solchen Konzepten trug man auch dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand Rechnung, der inzwischen festgestellt hat, dass es keine unterschiedlichen menschlichen Rassen gibt. Ebenfalls orientierte man sich immer stärker in eine kulturalistische Richtung um. Anstatt von Rassen und Genmaterial zu sprechen, stand nun die Kultur eines Volkes als verbindendes Merkmal ganz oben. Dabei kämpfte man vor allem gegen den (Kultur-)Bolschewismus, der vom Osten her die westliche Welt bedrohte, und gegen den Liberalismus, der die natürliche Ordnung der Völker von innen heraus bedrohe. Mit dem Ende der Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland verloren auch die letzten rechten Regime die Macht und die bürgerliche Idee von 1789 schien endgültig gesiegt zu haben.

In der Bundesrepublik musste man sich auch zusehends mit den Realitäten der postnazistischen Welt anfreunden. An oberster Stelle standen kriegsrevisionistische Forderungen, die Teilung Deutschlands sollte beendet werden. Auch die Verluste der Ostgebiete akzeptierte man nicht und erkannte den Vertrag über die Oder-Neiße-Linie nicht an. Hier lag man auf Linie mit den Vertriebenenverbänden, welche eine Kontinuität rechtsradikaler Ansichten aus der Nazizeit in der Bundesrepublik hinein darstellen und als grundsätzlich CDU-nah einzuordnen waren. Als unterhaltsame Randnotiz sei hier auf Solidarisierungen maoistischer Gruppen mit den Vertriebenenverbänden in den 70ern verweisen, da man im Sowjetimperialismus einen gemeinsamen Feind hatte. Wie stark kriegsrevisionistische Ansichten in diesen Verbänden vertreten waren zeigen die Videos vom Schlesiertreff 1995, als der CDU-Gesandte Wolfgang Schäuble den Anwesenden mitteilt, dass man die Oder-Neiße-Linie akzeptieren müsse und die Realpolitik der letzten 50 Jahre nicht umdrehen kann.

Zeichen der Zeit

 

Ganz einfach: rechtsradikale Ideologien ändern sich. Schon 1930 waren die Ansichten radikalen Rechten nicht identisch mit denen von 1830. Genauso wenig müssen heutige Rechtsradikale exakt das Gleiche wie 1930 sagen, um rechtsradikal zu sein. Es ist ein gefährlicher Trugschluss anzunehmen, dass sich diese Ideologien nicht aktualisieren. Bestimmte zentrale Punkte mögen sich nicht oder nur marginal ändern, andere müssen sich aber notgedrungen aktuellen Gegebenheiten anpassen. Nehmen wir zum Beispiel den Versuch der Historifizierung des Nationalsozialismus, in dem man sagt, ein Bernd Höcke könne keine Nazi sein, da er keinen Lebensraum im Osten fordert. Dies war unbestritten eine zentrale Forderung der Nazis seinerzeit. Nur ist es heute schlichtweg unrealistisch, dass Deutschland in einem Angriffskrieg gegen Polen, Ukraine, Weißrussland, Tschechien, Slowakei und Russland auch nur den Hauch einer Chance auf einen Sieg hätte. In den 20er-Jahren konnte man das zumindest halbwegs als realisierbar ansehen, hatte das Deutsche Reich ja noch Ostpreußen, Hinterpommern und Schlesien und nur das semistabile Regime in Polen und die Sowjetunion als Gegner*innen im Osten wobei letztere auf keinerlei Unterstützung anderer europäischer Staaten hoffen konnte. Eine Forderung nach Lebensraum im Osten ist daher indiskutabel. Forderungen von vor 90 Jahren können offensichtlich nicht eins zu eins heute aufgestellt werden. Viel mehr sollte man sich anschauen wie sich eine nationalsozialistische Ideologie unter heutigen realpolitischen Umständen präsentieren würde und dies dann mit dem Auftreten eines Höcke vergleichen.

Auch in Sachen Patriarchat sind rechtsradikalen Ansichten gewisse gesellschaftliche Grenzen gesetzt. Die Frauenemanzipation der letzten 100 Jahre hat die Gesellschaft radikal geändert. Wollte man die Uhren jetzt wieder zurückdrehen steht vor dem riesigen Problem, dass der Kapitalismus sich inzwischen auf Frauen am Arbeitsmarkt eingestellt hat. Insgesamt gibt es heute in der BRD genauso viele zu leistende Arbeitsstunden wie in den 60ern. Nur sind inzwischen viel mehr Personen auf dem Arbeitsmarkt, was einen Anstieg billiger Arbeitskräfte im Prekär- und Teilzeitbereich bewirkt hat. Will man jetzt die Frauen wieder aus dem Arbeitsmarkt rausdrängen, müsste man einerseits fehlende Arbeitskräfte kompensieren, auf die die Industrie eingestellt ist. Und andererseits müsste man auch das Lohngefüge derart umgestalten, dass es wieder flächendeckend Einversorgerhaushalte geben kann. All dies ist mit Unsummen an finanziellem Aufwand verbunden und entsprechende Bemühungen dürften auch in der Wirtschaft nicht auf viel Gegenliebe stoßen, da diese höhere Löhne zahlen müsste. Die Emanzipation der Frauen lässt sich also nicht einfach wieder vollständig umkehren und auf den Stand von 1913 zurücksetzen.

Herbert Kickl, der Bonapartismus und was passiert wenn Rechtsradikale in bürgerliche Ämter kommen

„Ich glaube immer noch, dass der Grundsatz gilt, dass das Recht der Politik zu folgen hat, und nicht die Politik dem Recht.“ – Herbert Kickl, österreichischer Innenminister, in der Sendung „Report“ vom ORF2 am 22.01.2019

Seit etwas mehr als einem Jahr ist die schwarz-blaue Regierung in Österreich an der Macht. Die unter Sebastian Kurz wieder stärker dem klassischen Konservatismus zugewandte ÖVP ist eine Koalition mit der rechtsradikalen FPÖ eingegangen und hat den ehemaligen Neonazi Strache zum Vizekanzler gemacht. Innenminister wurde der FPÖ-Politiker Herbert Kickl. Dieser hat sich jetzt in einer Sendung des ORF2 mit dem hier wiedergegebenen Zitat zu seiner politischen Einstellung geäußert. Insgesamt gibt es zwei Interviewsegmente mit ihm, das Zitat fiel im zweiten. Es lohnt sich beide anzuschauen und zu analysieren, wie Kickl agiert und was er genau sagt.

Im ersten Interviewteil fällt auf, dass er völlig ohne Not auf die Dissertation des Wiener Bürgermeisters und Landeshauptmanns Michael Ludwig von der SPÖ zu sprechen kommt. Diese stammt aus dem Jahr 1992 und behandelt die Staatspartei der DDR, die SED. Warum er das tut ist offenkundig: Er will Ludwig als Kommunisten darstellen und alte antikommunistische Ressentiments gegen ihn Stellung bringen. Dies funktioniert auch in Österreich immer noch hervorragend, besser gar als in Deutschland. Man könnte in gleicher Weise auf Strache zu sprechen kommen, der sich zu diesem Zeitpunkt auch immer noch in offen neonazistischen Kreisen bewegte und nur ein paar Jahre zuvor an Wehrsportübungen teilnahm. Aber das würde ein Kickl als unlauteres Argument bezeichnen.

Neben diesem offenen Antikommunismus ist aber insbesondere Kicks Verständnis von Politik interessant. Es nicht unbedingt überraschend, ist Kickl doch ein Rechtsradikaler. Es ist deshalb interessant, weil es einen Blick auf offene rechtsradikale Rhetorik in einer Machtposition eines bürgerlichen Rechtsstaats wirft – und mit welchem Anspruch Rechtsradikale diesen umbauen wollen. An mehreren Stellen weist Kickl darauf hin, dass er ja nur den Willen der Bevölkerung umsetzen würde oder dessen Ängste ernst nähme. So zum Beispiel bei der Erhöhung der Polizeistellen. Er macht ein vermeintliches erhöhtes Sicherheitsbedürfnis aus, welchem man damit Rechnung trage. Ähnlich argumentiert er bei geplanten Änderungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Es sei des Volkes Wille. Woher das ausgemachte Unsicherheitsgefühl kommt, ob es einen realen Kriminalitätsanstieg gibt und ob neue Regelungen und Polizeikräfte überhaupt notwendig sind, interessieren ihn nicht.

Ganz offensichtlich wird sein unverhohlener Machtanspruch dann in dem hervorgehobenen Zitat. Und Kickl hat in gewisser Weise auch recht. Das Recht folgt politischen Grundsatzentscheidungen über die Ausrichtung des Staats- und Gesellschaftssystems. Das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die DDR und die BRD sind alles Rechtsstaaten – nur eben mit unterschiedlichen Rechtssystemen. Und dieses sieht in einer semiabsolutistischen Monarchie anders aus als in einer bürgerlichen Demokratie oder in einem NS-Staat.

Kickl hat jetzt die Sonderrolle als rechtsradikaler Politiker das Amt des Innenministers eines bürgerlichen Staates inne zu haben. Und er interessiert sich nicht für bürgerliche Rechtsnormen. Stattdessen setzt auf die bonarpatistische Karte, auf einen Protofaschismus, der sich populistischer Mittel bedient, um die Autokratie oder Diktatur per Zustimmungswerten direkt von der Bevölkerung bestätigen zu lassen, ohne das dieses ein Mitsprache- oder freies Wahlrecht hätte. Dieses protofaschistische System wurde unter Louis Bonaparte, besser bekannt als Napeleon III, praktiziert und durch Marx und Engels beschrieben. Und den Grundsätzen genau diesem Systems folgt Kickl. Moderner Bonapartismus ist nicht vollständig deckungsgleich mit dem Original, immerhin müssen den politischen Ereignisse der letzten 150 Rechnung getragen werden.

Und Kickl tut dann eben das, was ein Rechtsradikaler so tut. Er gibt ganz offen zu sich nicht an das bürgerliche Recht halten zu wollen. Stattdessen soll das Recht seiner rechtsradikalen Ideologie folgen, die Legitimation dafür zieht er aus dem ausgemachten Volkswillen. Wie die Volksabstimmung zum Rauchverbot in Gaststätten zeigt, ist die FPÖ aber nur gewillt dies zu tun, solange es nicht gegen die eigenen Wünsche und Vorstellungen geht. Was Kickl angeht so ist er schonungslos offen. Wenn man ein wenig Ahnung von politischer Theorie hat und genau zuhört, was er sagt, dann liegt die antibürgerliche Agenda offen da. Er sagt ja wortwörtlich, dass ihn bürgerliches Recht nicht interessiert. Er ist ja auch kein bürgerlicher Politiker.

Hier zeigt sich wieder einmal deutlich, auf welche Weise man Rechtsradikale bekämpfen muss. Man darf ihnen keinerlei Möglichkeit zum Ausleben und zum Handeln getreu ihrer Ideologie geben. Und man muss sie daran mit allen notwendigen und angebrachten Mitteln hindern. Kommen sie sogar in Machtpositionen, werden sie diese auch dazu nutzen ihre Ideologie umzusetzen. Rechtsradikale haben keine Kompromissfähigkeit, sie lehnen den bürgerlichen Staat ab und werden ihn zerstören, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt.

Die Gewaltfrage

Eigentlich ist es müßig, über den Fall Magnitz so ausgiebig zu berichten. Der Tatablauf ist inzwischen geklärt, es handelte sich um einen Ellenbogenschlag von hinten. Sämtliche Ausschmückungen von Seiten der AfD wie Kantholz, Tritte am Boden und die heldenhafte Rettung sind Lügen. Die schweren Kopfverletzungen waren eine Folge des Sturzes und vermutlich nicht direkt intendiert – ein Risiko, welches grundsätzlich bei jedem Kampf besteht und wessen man sich immer bewusst sein muss. Das Video wurde inzwischen veröffentlicht und es dürften sich mehr oder weniger alle angesehen haben. Über die Medien wurden beim Bekanntwerden die zu dem Zeitpunkt nicht nachprüfbaren Lügen von AfD-Chef Meuthen relativ weit verbreitet, dabei weiß man eigentlich, dass man Eigendarstellungen dieser Partei keinen Glauben schenken darf. Da halfen dann auch kurze Zeit später veröffentlichte Zweifel nichts mehr, die Medienstrategie der AfD war aufgegangen. Und diese Medienstrategie wurde inzwischen auch schon mit internen AfD-Papieren an die Presse durchgestochen. Man kann direkt nachlesen wie so etwas aufgebaut und durchgezogen wird.

Warum also doch noch mal eine längere Ausarbeitung? Weil es eine gute Gelegenheit ist, sich einmal ausführlich mit der Gewaltfrage zu beschäftigen. Diese ist komplex und Antworten darauf fallen individuell aus. Obwohl der Hintergrund der Tat immer noch ungeklärt ist, spricht sehr viel für einen linken Hintergrund. Es ist sogar völlig irrelevant. wer es konkret war, da in der allgemeinen Diskussionen davon ausgegangen wird, dass es Linke waren. Daher liegt dem vorliegenden Text diese Annahme zugrunde. Wichtig ist, dass es sich hierbei um eine allgemeine und theoretische Betrachtung des Komplexes „Politik und Gewalt“ handelt.

Macht und Durchsetzung von Interessen

 

Die Frage der Gewalt ist eine sehr grundlegende und sie greift elementare Fragestellungen zu Staats- und Rechtskonzeptionen auf. Denn Gewalt wird täglich von Menschen an Menschen ausgeübt, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Dies kann im kleinen, individuellen Rahmen geschehen, aber auch auf staatlicher Ebene. Es heißt nicht umsonst „Staatsgewalt“. Jeder Staat, jedes Land hat eine ideologische Ausrichtung, welche sie in Form von Gesetzen (oder gleichwertigen Vorschriften) in Rechtsform ausarbeitet und so die politischen Grundlagen festlegt, welche zudem sehr oft in einer Verfassung festgeschrieben sind. In Deutschland leben wir zum Beispiel in einer föderalistischen, repräsentativen Demokratie bürgerlicher Prägung. In Russland oder der Türkei hat man autokratische Systeme, in Saudi-Arabien ein monarchistisches. Gesetze und Vorschriften werden aber nicht einfach so aus heiterem Himmel und der inneren Einsicht befolgt, dass sie notwendig und sinnvoll sind. Damit die Bürger*innen sich an das gewünschte Staats- und Gesellschaftsmodell halten, setzen alle Staaten auf eine realistische Drohkulisse, um das staatliche Interesse nach innen durchzusetzen. Diese Drohkulisse kann man als Staatsmacht bezeichnen, da sie im gewünschten Fall den Herrschenden ausreicht, um alle Menschen zum Gehorsam zu bringen. Droht ein Machtverlust, wird zur Gewalt als Durchsetzungsinstrument gegriffen.

Dazu gibt es einerseits die Polizeibehörden und Militär, andererseits juristische Verfolgung von Gesetzesverstößen. Befolgt man die Gesetze und agiert freiwillig innerhalb des gewünschten Rahmens, fallen die Kontakte mit dem unmittelbarem Zwang in der Regel eher bescheiden aus. Tut man dies nicht, bekommt man die staatliche Gewalt relativ schnell zu spüren. Auch bürgerliche Staaten setzen massiv auf Gewalt zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung. Man werfe nur mal einen Blick auf die Proteste der Gilet Jaunes in Frankreich, insbesondere auf den massiven Polizeieinsatz. Hier versucht der Staat durch unmittelbaren Zwang unliebsame Bürger*innen wieder auf Reihe, also in den gewünschten Handlungsrahmen, zu bringen. Einen Machtverlust kann man sich nicht erlauben, daher bekämpft man diesen mit Waffengewalt. Die stete Verschärfung der Polizeigesetze und die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse in Deutschland sind auch nichts anderes als eine Verschärfung der Drohkulisse gegenüber unerwünschtem Handeln. Es gilt das staatliche Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten und durchzusetzen.

Wer also behauptet, Gewalt sei immer schlecht, gleichzeitig aber das aktuelle Staatssystem allgemein befürwortet, lügt schlichtweg. Auch Staaten wie Österreich oder die Schweiz sind nicht gewaltfrei. Polizei und Judikative basieren auf Gewalt- und Machtausübung. Erst einmal nur indirekter, im Falle von Machtverlust oder Zuwiderhandelns außerhalb des genehmen Rahmens auch ganz direkt. Die USA haben zum Beispiel über Jahrzehnte eine Art Bürgerkrieg gegen die Gewerkschaften und Arbeiter*innenbewegung geführt, dieser kostete tausende Menschen das Leben.

Recht wird gemacht

 

In Diskussionen über Gewaltanwendung und politische Auseinandersetzungen wird oft mit dem Recht argumentiert. Recht meint hier die aktuellen Gesetze und Verordnungen. Dabei wird oft so getan, als ob diese wie von selbst auf natürliche Art und Weise entstanden wären und überhaupt nicht hinterfragt werden müssten. Doch auch die aktuelle Gesetzeslage ist nur der formalisierte Ausdruck bestimmter Normen und Ansichten, die sich im Laufe der Zeit durchsetzen oder an Bedeutung verlieren. Legt man andere Grundprämissen an, ergeben sich völlig andere Rechtssysteme. Im Grundgesetz der BRD ist zum Beispiel der Schutz des Privateigentums festgeschrieben, im Artikel 15GG kann man das nachlesen. Würde man jetzt aber eine Unterscheidung zwischen persönlichem Eigentum (also dem Eigentum, welches Privatpersonen zum Leben nutzen) und Privateigentum (dem Eigentum, mit dem in Form von Unternehmen etc. auf kapitalistische Weise Geld erwirtschaftet wird) treffen und das Privateigentum nur bis zu einer bestimmten Größe schützen, hätte man eine völlig andere Rechtspraxis. Genauso wie man Unternehmen heute bestimmte Rechtsformen vorschreibt (GmbH, KG, AG usw.), könnte man dies auch mit unterschiedliche kollektiven Organisationsformen tun. Mit den Rechtsmitteln des bürgerlichen Staates könnte man auch eine anarchistische/sozialistische/kommunistische Wirtschaftsweise als Rahmen vorgeben.

Warum wird das nicht getan? Weil die momentan durchgesetzte und im überwiegenden Teil auch akzeptierte Wirtschaftsweise kapitalistisch ist. Aus der gemeinhin als natürlich angesehenen Lohnarbeit heraus entfaltet sich eine komplexe Wirtschaftsweise, die in den Gesetzen der Staaten ihren formalen Ausdruck findet. Durchgesetzt wird diese unter anderem wieder mit der Drohkulisse der Staatsgewalt, die eben die Einhaltung der Gesetze bezweckt. Auf diese Art könnte man jetzt aber auch gegen rechtsradikale Aktivitäten vorgehen, indem man den rechtlichen Rahmen auf ein antifaschistisches Grundprinzip stellt. Man hat ja zum Beispiel dem Paragraphen 175 über 100 Jahre lang homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und verfolgt. Erst 1973 wurde er grundlegend geändert und dann schlussendlich 1994 abgeschafft. Auch in der Weimarer Republik standen homosexuelle Handlungen unter Strafe. Warum? Es gab keine politische und gesellschaftliche Mehrheit dafür, diesen Artikel zu streichen. Erst der politische Wandel im Zuge 68er, welcher die BRD überhaupt erst zu einer liberalen Gesellschaft werden lassen sollte, schaffte die notwendige Mehrheit.

Ähnlich könnte es sich theoretisch auch mit rechtsradikalen Handlungen verhalten. Man legt einen bestimmten Katalog fest, anhand dessen man rechtlich gegen Rechtsradikale vorgehen könnte. Dazu würde ein Verbot bestimmter Publikationen gehören, ebenso wie ein allgemeines Demonstrations-, Organisations- und Konzertverbot für bestimmte Personen. Selbst mit den Mitteln des bürgerlichen Rechtsstaats könnte man jegliche öffentlichen rechtsradikalen Betätigungen strafrechtlich verfolgen. Dazu bräuchte man a) die Macht, um dies durchzusetzen und b) eine auf leicht angepassten Kriterien fußende Gesetzesgebung. Wie sieht diese Macht, es durchzusetzen, aber aus? Einerseits kann dies den staatlichen Machtapparat mit beanspruchtem Gewaltmonopol meinen, also die autoritäre Variante der herrschenden Klasse oder Gruppe, die ihr Interesse durchsetzt. Andererseits kann dies aber auch einen Konsens sehr großer Teile der Bevölkerung meinen, welcher sich dann im klassisch republikanischen Sinne nach Rousseau in der Gesetzesgebung widerspiegelt und somit ein schichtübergreifender Konsens der Bevölkerungsmehrheit zu einem gesamtgesellschaftlichen Antifaschismus anderer Art als momentan ist.

Gewaltfreiheit ist eine Illusion

 

Wer an dem aktuellen System grundlegende Dinge ändern will, kommt nicht umhin, die aktuelle Staatsgewalt zu verstehen und in Frage zu stellen. Letzteres geht nicht ohne eine glaubhafte Gegenmacht. Die bürgerliche Ordnung wird sich nicht von alleine in eine anarchistische oder sozialistische umwandeln. Dafür gibt es einige Möglichkeiten. So könnte man versuchen, einen so großen Teil der Bevölkerung für die eigenen Ziele zu gewinnen, dass dem aktuellen System die Handlungsbasis entschieden entzogen wird. Man kann sich auch in einem Staatsstreich versuchen, den Staatsapparat übernehmen und nach den eigenen Wünschen umgestalten – während man sich der Reaktion erwehren muss und darauf hofft, dass ein ausreichend großer Teil der Bevölkerung mitzieht und nicht Folgschaft wie in Option 1 verweigert. Weitere Optionen sind zum Beispiel der Bürgerkrieg oder das Setzen auf Wahlen, um mit großer Mehrheit den Systemwechsel zu versuchen. Alle Optionen sind aber darauf angewiesen, dass man für ihr Gelingen eine ausreichende Wirkmacht über einen ausreichend langen Zeitraum hinter sich weiß, um das neue System zu festigen und stabilisieren.

Man kann sich nicht auf dumme, pazifistische Art zur Gewaltlosigkeit bekennen und hoffen, es würde sich durch magische Hand grundlegend etwas ändern. Wer ernsthaft an der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse interessiert ist, muss sich mit der Frage von Macht, Gewalt und Autorität rational beschäftigen. Eine Diktatur wie im Iran kann man nicht friedlich durch rationale Argumente auf dem Marktplatz der Ideen und erfolgter Einsicht bei den Mullahs abschaffen. Während des spanischen Bürgerkrieges waren auch Anarchist*innen keine Kinder von Trauer und haben aus der Erforderlichkeit der Umstände heraus Gewalt angewendet – und das nicht nur an der Front. Selbst die bürgerliche Gesellschaft baut historisch massiv auf Gewalt auf. Nach der Französischen Revolution wurde etliche Leute enteignet und viele einen Kopf kürzer gemacht. Mit dem Kolonialismus hat man teilweise brutale Unterdrückungsregime in fremden Ländern aufgezogen und Millionen Menschen unterdrückt, versklavt, umgebracht. Davon will man heute nichts mehr wissen, aber die heutige Demokratie steht auf einem blutigen Fundament. Gewaltfreie Realpolitik ist eine Illusion, denn immer geht es um die Durchsetzung von Interessen und die Abwehr möglicher Gewalt gegen einen selbst.

Neben der typisch deutschen Obrigkeitshörigkeit gehört vor allem das Mantra „Gewalt ist immer schlecht“ zu den effektivsten Mitteln, die das aktuelle System stützen. Da man jede Art von Gewalt abzulehnen meint und entsprechende Handlungen immer verurteilt (während man die staatliche Seite dabei immer großzügig übersieht), kann man das System als solches nicht ernsthaft in Frage stellen. Die Predigt der Gewaltfreiheit stützt automatisch die aktuellen Zustände und ist eine zutiefst bürgerliche Angelegenheit. Und man schützt damit nicht nur den bürgerlichen Staat, man schützt auch Faschos und Islamist*innen, deren Ideologie man nicht versteht und dann oftmals ratlos mit einem „Wie konnte das denn nur passieren?“ Anschläge oder Gewaltakte kommentiert, hilflos und ohne ein Mittel der Gegenwehr.

Gewalt als Teil von Ideologien

 

Neben der als notwendig angesehen staatlichen Gewalt zeichnen sich rechtsradikale Ideologien wie Faschismus, Nationalsozialismus, Islamismus und dergleichen elementar durch Gewaltanwendung nach innen und nach außen aus. Eine friedliche Gesellschaftsform ist nicht vorgesehen, Gegner*innen müssen vernichtet und vollständig ausgelöscht werden. Nicht nur ideologisch, auch physisch. Bei sozialdarwinistischen Ansätzen werden als schwach oder degeneriert angesehene Teile der Bevölkerung oder des Volkes an der Fortpflanzung gehindert (durch Sterilisation) oder gleich ermordet. Ungläubige müssen sterben, Frauen werden versklavt, Juden vergast, der männliche Kampf als alltägliches Ritual der Gesellschaft gepflegt. Gibt man den Anhänger*innen dieser Ideologien die Möglichkeit, so werden sie immer und ohne jeden Zweifel Gewalt gegen die von ihnen als feindlich oder unwert angesehenen Gruppen ausüben.

Dieses elementare Merkmal der aktiven Gewaltausübung bei rechtsradikalen Ideologien ist es, was so oft verkannt wird. Man will nicht wahrhaben, dass Menschen einfach so auf Gewalt setzen. Dass sie tatsächlich Massenvernichtung wollen. Man meint, dass man mit Argumenten und Logik dagegen ankäme. Bei einigen Personen mag das der Fall sein, aber bei vielen funktioniert das so nicht. Insbesondere dann nicht, wenn man eine große Gruppe vor sich hat. Mögliche Ansatzpunkte und Taktiken auf der Mikroebene müssen auf der Makroebene noch lange nicht funktionieren. Sprich: Nur weil du eine einzelne Person mit bestimmten Argumenten über einen längeren Zeitraum möglicherweise von einer faschistischen Ideologie abgebracht hast, funktioniert die gleiche Vorgehensweise mit den gleichen Argumenten noch lange nicht bei einer Gruppe wie zum Beispiel der NPD. Und schon steht man hilflos einer großen Gruppe von Personen gegenüber, auf die man keine Antwort findet. Gewaltlosigkeit gegenüber inhärent gewalttätigen Gruppen ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

 

Gewalt als Mittel

 

Aus diesem Grund setzt Antifaschismus darauf, den Preis für die Ausübung rechtsradikaler Ideologie so hoch zu setzen, dass entsprechende Personen keine Lust auf die Konsequenzen haben. Dies kann, und hier ist das kann wirklich entscheidend, Dinge wie Hausbesuche, abgefackelte Autos oder direkte körperliche Gewalt beinhalten. Dies muss es aber nicht. Die antifaschistische Praxis der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass Gewalt EIN Mittel, nicht DAS Mittel des Antifaschismus ist. Und sie ist ein Mittel, welches gut überlegt eingesetzt werden will. Städte wie Leipzig, Göttingen oder Frankfurt zeigen ganz anschaulich, was eine militante Antifa über Jahrzehnte hinweg zu leisten im Stande ist. Insbesondere Teile von Leipzig und Göttingen wurden wortwörtlich freigeprügelt und im Straßenkampf gegen Nazis verteidigt. Davon profitieren heute alle, die in den entsprechenden Gebieten wohnen. Die auch immer wieder aufgestellte Behauptung, dass Gewalt noch nie etwas gebracht hätte, blamiert sich an der Realität dieser Städte. Viele wollen dies nicht wahrhaben, offenbaren damit aber nur ihre voreingenommene Haltung, die keine rationale Diskussion über das Thema zulässt.

Ebenso wenig will man wahrhaben, dass auch die BRD als Staat auf massiver Gewaltanwendung fußt. Die BRD gibt es nur, weil der Vernichtungskrieg der Nazis mit Millionen Toten durch die Alliierten gestoppt wurde und man anschließend nach zwei Weltkriegen die Schnauze voll hatte und Deutschland komplett besetzte. Den bürgerlichen Demokratieversuch der Weimarer Republik (wie auch immer man da jetzt im Detail zu stehen mag) hatte man ja eigenständig gegen eine rassenideologischen Vernichtungsdiktatur getauscht, die Demokratie wurde der (west)deutschen Bevölkerung anschließend mit wirkungsvollen Drohkulisse der Besetzungsarmeen aufgezwungen. Freiwillig ist man nicht zur Demokratie gekommen. Wer die heutige BRD als Staat grundsätzlich befürwortet, befürwortet damit auch den von außen erfolgten Zwang zur Demokratie in den westlichen Bundesländern.

Wichtig ist dabei, dass man Gewalt nicht als Selbstzweck ansieht. Die autonome Szene der 80er hatte sich teilweise in einen inhaltsleeren Riotlifestyle entwickelt, bei dem es nur um das Erleben des Riots ging. Gewalt sollte aber eine hohe Schwelle haben – und hat sie auch in den meisten Fällen. Der größte Teil der antifaschistischen Arbeit besteht aus Recherche, Aufklärungs- und Theoriearbeit, Stickerrunden in der Umgebung und ab und an mal Demos sowie inzwischen wieder verstärkt Hausbesetzungen. Alles Dinge, die mit wenig bis gar keinem Körperkontakt mit den Gegner*innen verbunden sind, sieht man mal von Demos ab. Manchmal gibt es aber Situationen, in denen für die Aktivist*innen entweder der gewaltfreie Aufwand in keinem vertretbaren Verhältnis zur gewaltvollen Methode besteht, um ein Ziel zu erreichen – oder gibt schlichtweg keine pazifistische Methode. Will man solche Situationen von außen bewerten, muss man einen praktischen Ansatz entwickelt haben und darf nicht moralinsäuernd vom hohen Ross herunter jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit einem „Gewalt ist immer scheiße!“ abwürgen.

 

Kampf um Macht und Dominanz

 

Nicht nur zwischen Staaten, auch innerhalb einzelner Länder und Gesellschaften, geht es um den Kampf um Macht. Dabei ist es ein (populärer) Trugschluss, anzunehmen, es gäbe DIE eine Gesellschaft. Damit ist nicht die aktuelle Gesellschaftsform bürgerlich-kapitalistisch gemeint. Diesen Rahmen und entsprechende Charakteristika gibt es, wir sind ihnen auch allen unterworfen. Gemeint ist hier jedoch eine kollektive Zusammenfassung der Art „das deutsche Volk“ oder „die deutsche Bevölkerung“. Hier gibt es kein homogenes Kollektiv. Vielmehr besteht die Gesellschaft aus unzähligen Einzelgruppierungen, die sich alle durch unterschiedliche Merkmale konstituieren und denen man auch nicht mehr wie im Feudalismus mehr oder weniger exklusiv angehört. Wir alle sind Teil sehr vieler gesellschaftlicher Gruppen. Und jede dieser gesellschaftlichen Gruppen hat eigene Interessen.

Bei solchen Gruppen ist als erstes entscheidend, ob sie sich überhaupt als eine solche begreifen. Eine Gruppe muss erkennen, dass sie überhaupt eine Gruppe darstellt. Marx und Engels haben dies in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Analyse für das Proletariat folgendermaßen ausgedrückt: Das Proletariat muss von einer Klasse an sich zu einer Klasse für sich werden. Es muss also erkennen, dass es als verbindendes Merkmal die Stellung im Produktionsprozess hat – und dann möglichst geschlossen für die eigenen Interessen eintreten, sprich Revolution und Produktionsmittel aneignen. Ähnlich haben es auch die Bürgerlichen in Frankreich auf dem Weg zu und während der Französischen Revolution gehandhabt. Genauso kann man für jede gesellschaftliche Gruppe argumentieren, seien es nun Gamer, Straßenfeger*innen oder Maultrommelfans. Wenn sich diese Gruppen dann einmal in einem Interessensverband organisieren und Forderungen stellen, treten sie in Konkurrenz zu anderen Gruppen. Und wie bekommt man jetzt Forderungen umgesetzt? Durch das Aufbauen von Macht und einer glaubhaften Drohkulisse. Und hier unterscheiden sich politische Gruppen erst einmal gar nicht so sehr von anderen sozialen Gruppen, zumal sämtliche zu stellenden Forderungen dann doch wieder in den Bereich des Politischen fallen.

Eine Gruppierung wie die AfD hat ganz klar und offen den Anspruch formuliert, die Macht in Deutschland zu übernehmen. Bei der AfD selbst handelt es sich um eine Sammelpartei, die alle relevanten rechtsradikalen Strömungen der aktuellen Zeit in sich vereint. Diese kämpfen auch innerhalb der AfD um Deutungshoheit. Man ist sich aber in einem sicher: Das Land muss wieder nationalistisch werden. Wie genau und wie radikal, führt immer wieder zu Streitigkeiten und Parteiaustritten, zuletzt von André Poggenburg. Weite Teile der AfD sind klar als rechtsradikal zu bezeichnen. Viele sind faschistisch, viele sind völkisch, einige sind neonnazistisch. Gewalt ist ein elementarer Bestandteil dieser Ideologien, wie genau sie jeweils im Detail ausgeprägt ist, ist hier nicht entscheidend. Um ihre gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, muss die AfD also einerseits Macht bekommen, andererseits eine glaubhafte Drohkulisse aufbauen, um ihre Vorstellungen gegen den zu erwartenden Widerstand durchzusetzen. Je größer dieser ausfällt, desto unwahrscheinlicher ist eine erfolgreiche Machtübernahme.

Wie bei allen anderen rechtsradikalen Gruppierungen auch gilt hier, dass Rechtsradikale in dem Maße zur Gewaltausübung übergehen, wie sie durch andere gesellschaftliche Gruppen nicht mit wie auch immer spürbaren Konsequenzen daran gehindert werden. Ein Blick nach Italien zeigt dies aktuell ganz gut. Mit Salvini haben wir eine Person im Amt des Innenministers, den man durchaus als Faschisten bezeichnen kann. Er zeichnet sich durch Stimmungsmache und aktive Politik gegen Sinti und Roma, Geflüchtete und Homosexuelle aus. Im selben Maße verharmlost er Gewalt gegen diese Gruppen, welche wenig überraschend seit Amtsantritt stark zunimmt. Mit der Rückendeckung politischer Amtsträger fühlen sich immer mehr Rechtsradikale darin bestärkt, endlich ihre Gewaltideologie auszuleben. Bei der AfD wird es sich ähnlich verhalten und bei Faschos hat es sich auch immer so gezeigt. Setzen andere gesellschaftliche Gruppen keine spürbaren Konsequenzen für rechtsradikale Betätigung durch, werden solche Gruppen sich solange gesellschaftliche Räume greifen, wie sie es können. Ein konsequenter Antifaschismus versucht also nicht, Rechtsradikale nicht stärker als xyz werden zu lassen. Konsequenter Antifaschismus versucht, Rechtsradikalen jeden möglichen Raum und jede Möglichkeit der Betätigung zu nehmen. Nur so kann man langfristig effektiv vorgehen.

Gewalt gegen Rechtsradikale

 

In der BRD hat man dies in den 90ern mit fatalen Folgen nicht begriffen. Man stellte Nazis mit Jugendclubs und Nichteinmischung wichtige Treffpunkte und Infrastruktur, der VS päppelte mittels Bezahlung von V-Leuten die rechte Szene mit großen Geldsummen auf. Der verständnisvolle Umgang mit Nazis, die man als unverstandene Jugendliche oder dergleichen in Schutz nahm, die ja eigentlich gute Menschen seien, führte zu den fast 200 Toten bis heute, die durch rechte Gewalt seit 1990 gestorben sind. Staat und Zivilgesellschaft versagten, viele Fälle wurden erst gar nicht als rechte Gewalt anerkannt und mussten nachträglich durch Privatpersonen recherchiert und eingeordnet werden. Was tatsächlich geholfen hat, war direkte antifaschistische Gegenwehr. Wenn man als Nazi in bestimmten Ecken regelmäßig aufs Maul bekommt, dann sucht man diese nicht mehr auf. Und alle dort Wohnenden sind sicherer.

Neben den militanten Methoden, welche in der Regel illegal sind und zu Geld- sowie Haftstrafen führen können, gibt es auch sogenannte zivilgesellschaftliche Methoden. Diese sind immer legal, sie nicht militant und sie halten sich darüber hinaus in der Regel an einen gesellschaftlich akzeptierten Rahmen. In der öffentlichen Diskussion versucht man diese Mittel möglichst scharf von dem Aktivismus militanter Personen abzugrenzen, dabei sind eigentlich eine Ergänzung zueinander und bedingen sich in gewissen Maße. Militante Methoden kommen nämlich erst dann zum Einsatz, wenn andere Methoden viel zu aufwändig wären oder es zu wenig nicht-militante Aktivitäten gegen Rechtsradikale gibt. Würde, wie im Abschnitt über das Recht angesprochen, die Gesetzgebung konsequent alle rechtsradikalen Aktionen unter Strafe stellen und dies auch durchsetzen, dann wäre ein militanter Aktivismus gar nicht notwendig. Wenn die Polizei jedes Mal gegen Faschos wie in dem legendären Video aus Luxemburg im Jahr 1994 vorgehen würde, gäbe es keine öffentlichen Faschoversammlungen mehr. Wäre der übergreifende Konsens der, dass man Faschos keinen öffentlichen Raum zugesteht und sie jederzeit an ihren Aktivitäten hindert, dann könnten sie auch kaum öffentliche Aktivitäten durchführen. Es hat schon seinen Grund, warum in Hamburg oder Frankfurt/Main sehr selten rechte Demos stattfinden und wenn dann auch nicht lange durchhalten.

Dies passiert aber insgesamt viel zu selten, Rechtsradikale werden in Teilen durch die aktuelle Rechtssituation geschützt (Demonstrationsrecht, Pressefreiheit etc). Außerdem gibt es den übergreifenden Konsens zur nichtmilitanten Bekämpfung Rechtsradikaler nicht in dem Maße, wie er notwendig wäre. Zivilgesellschaftliche Initiativen gibt es je nach Region zu wenige und/oder sie haben zu wenig Einfluss, um ernsthaft was zu bewirken. Und je schwächer sowohl Staat als auch Zivilgesellschaft gegen Rechtsradikale vorgehen, umso stärker ist Bedarf an militantem Antifaschismus. Wenn also Leute nach friedlichen Methoden schreien, dann muss ihnen klar sein, dass diese, um langfristig wirksam gegen Rechtsradikale und gegen rechtsradikales Gedankengut zu sein, eine große Anzahl an beteiligten Personen brauchen. Wenn ein Nazi nicht im privaten und beruflichen Leben mitbekommt, dass er wegen seiner Nazimeinung unerwünscht ist und deshalb konsequent von anderen Personen gemieden wird, dann besteht doch kein Grund für ihn, seine Haltung zu ändern. Von alleine passiert das in der Regel nicht. Sind die nichtmilitanten Mittel also nicht ausreichend, dann bedingen sie die Notwendigkeit militanter Mittel.

Der feine Unterschied

 

Elementar in der Diskussion um die Form des Aktivismus gegen Rechtsradikale ist die Motivation beziehungsweise die Begründung der Handlungen. Wie bereits herausgearbeitet, ist die Behauptung, dass jede Gewalt scheiße ist, eine auf Unwissen und Nichtverständnis beruhende Falschaussage. Ein weiterer Klassiker in dieser Kategorie ist: „Linke und rechte Gewalt sind scheiße und ja auch irgendwie das Gleiche.“ Variationen davon bekommt man zuhauf zu hören. Dabei ist auch diese Aussage im Kern falsch, denn antifaschistische Gewalt (um die es als Unterform linker Gewalt im Fall Magnitz aller Wahrscheinlichkeit nach geht) basiert auf völlig anderen Vorraussetzungen und folgt einer komplett anderen Logik als rechtsradikale Gewalt.

Gewalt, die von Rechtsradikalen ausgeübt wird, trifft einerseits die politischen Gegner*innen. Dies sind vorrangig Linke, da diese den härtesten Widerstand leisten. Diese Form rechter Gewalt ist somit mit antifaschistischer Gewalt zu vergleichen. Aber auch wirklich nur diese. Denn Rechtsradikale Gewalt richtet sich auch gegen Personen, die aufgrund von Geburtsmerkmalen in eine Gruppe fallen, die nach Logik der jeweiligen Rechtsradikalen Ideologie als Feindbild ausgemacht wird. Niemand kann sich die eigenen Eltern aussuchen, also sind sowohl Ethnie, Geburtsort und Herkunft nicht änderbar. Man kann seine Hautfarbe nicht ablegen, man kann nichts dafür, aus China zu kommen oder homosexuell zu sein. Auch körperliche und geistige Beeinträchtigungen sind keine freie Wahl. In rassenbiologischen und sozialdarwinistischen Volkskörpervorstellungen gilt dies alles aber als „volksfremd“ oder „volksschädlich“ und muss daher bekämpft, in letzter Konsequenz vernichtet werden. Auch sozial ausgegrenzte Personen wie Obdachlose sind oft Opfer rechter Gewalt, sie gelten als Sozialschmarotzer und unwerte Existenzen. Eine bemerkenswert hohe Anzahl der Todesopfer rechter Gewalt war obdachlos, arbeitslos oder alkoholkrank.

Antifaschistische Gewalt dagegen richtet sich gegen Personen und Organisationen, die sich rechtsradikal betätigen. Man gerät durch rechtsradikale Aktivitäten in den Fokus von Antifas und man entkommt diesen Fokus dadurch, dass man sich nicht mehr rechtsradikal verhält und äußert. Denn das Ziel antifaschistischer Gewalt ist die Bekämpfung rechtsradikaler Handlungen und rechtsradikalen Gedankenguts. Wenn man das Gedankengut auch nicht unbedingt kurzfristig ändern kann, so kann man doch die öffentlichen rechtsradikalen Aktivitäten eindämmen oder ganz unterbinden und damit auch eine Weiterverbreitung dieses Gedankenguts effektiv behindern. Der Unterschied ist so simpel wie weitreichend: Rechtsradikale greifen Menschen wegen bestimmter Geburts- oder sozialer Merkmale an, Rechtsradikale werden angegriffen um genau diese Gewalt zu verhindern. Und aus diesem Grund kann man antifaschistische Gewalt nicht mit rechter Gewalt gleichsetzen.

 

Eine Frage der Abwägung

 

Antifaschistische Gewalt ist ein Mittel und sie dient einem konkretem Zweck. Dies bedeutet, dass sie Abwägungssache ist. Man muss daher nüchtern das Für und Wider konkreter Aktionen gegen Personen oder Dinge abwägen. Dazu gehören viele Punkte, die man beachten muss. Zum Beispiel die politische Situation und die öffentliche Stimmung. Zum Jahreswechsel ist ein Rassist mit einem Auto gezielt in für ihn als Ausländer feststehende Personen gefahren und hat vier zum Teil schwer verletzt. Eine Frau liegt nach zwei Wochen immer noch im Krankenhaus. Kurz darauf wurde ein Fall bekannt, der sich einige Tage vor Silvester ereignete. Ein Mann zeigte den Hitlergruß und stach mit einem Messer auf Personen in einer Pizzeria ein. Durch den Anschlag auf ein AfD-Büro und besonders durch den Angriff auf Magnitz rückten diese beide Vorfälle aber schlagartig aus dem Rampenlicht heraus und es ging nur noch um linke Gewalt. Dabei waren die beiden geschilderten Vorfälle erheblich schwerwiegender und sie folgen auch einer sehr viel gefährlicheren Logik als der Angriff auf Magnitz. Der Fall Magnitz hat die öffentliche Debatte über rechte Gewalt sofort abgewürgt.

Aus der Logik des antifaschistischem Aktivismus heraus müssen vor einer theoretischen Gewaltanwendung, ob nun gegen Personen oder Gegenstände, viele Ebenen bedacht und genau abgewogen werden. Das Ziel ist ja eine erfolgreiche Bekämpfung von Rechtsradikalen. Daher stellt sich in diesem Kontext dann die Frage, wie zielführend das ist. Was genau würde eine bestimmte Aktion bei der Zielperson oder Zielgruppe genau kurz-, mittel- und langfristig bewirken, was in der möglichen medialen Darstellung, was im allgemeinen politischen Gefüge, was im regionalen Kontext und welches Risiko bringt das eigentlich für einen selbst und das eigene Umfeld mit sich, da man einen Gesetzesverstoß begeht und möglicherweise eine Haftstrafe bekommt und polizeiliche Ermittlungen auslösen wird? Diese Fragen stellen sich generell bei einem antifaschistischem Aktivismus, ganz dringlich aber wenn Personen sich dazu durchringen gegen bestehende Gesetze zu verstoßen und ganz besonders wenn Gewalt ausgeübt werden soll. Denn diese ist kein Selbstzweck.

 

Ergänzung: Realpolitische Probleme der Linken

In den letzten Monaten stellte sich die Gewaltfrage ganz dringlich und zwar nicht aus dem linken oder antifaschistischem Spektrum heraus. Seit der Festnahme des Bundeswehrsoldaten Franco A., der Anschläge geplant hat, sind immer mehr potentielle rechtsterroristische Zellen aufgeflogen. Die größte stellt die Organisation Hannibal dar, welche durch eine Recherche der taz aufgedeckt wurde. Sie stellt eine Art Deep State innerhalb der Bundeswehr und angeschlossener Behörden da und zählt aktive Soldat*innen und Reservist*innen zu ihren Mitgliedern, unter anderem aus dem KSK. Franco A. war Mitglied in einer regionalen Chatgruppe der Organisation. Ob es nun Hannibal, Franco A., Revolution Chemnitz oder die rechtsradikalen Prepper aus Mecklenburg-Vorpommern waren, überall wurden Namenslisten gefunden. Diese Listen dienen zur Identifizierung möglicher Anschlagsziele. Insbesondere im Fall der Organisation Hannibal sollen konkrete Pläne für einen Tag X bestanden haben, an dem Mitglieder unabhängig organisiert in Kleingruppen einflussreiche Linke entführen und exekutieren sollen.

Diese Nachrichten sind zutiefst beunruhigend und bekommen aktuell durch die rechtsradikalen Polizisten in Hessen, die mit „NSU 2.0“ gekennzeichnete Drohbriefe verschicken, oder durch Bombendrohungen im Namen eines „Nationalistischen Widerstands“ erneute Dringlichkeit. Offenbar gibt es im rechtsradikalen Milieu eine sich aktiv vernetzende und organisierende rechtsterroristische Szene. Als Linke kann man sich auf den Staat nicht verlassen, schließlich kommen diese Vorfälle zum Teil mitten aus den Sicherheitsbehörden. Es ist potentiell lebensgefährlich diese Vorgänge herunterzuspielen. Wenn man als Linke irgendwie die gesamtgesellschaftliche Gestaltungsmacht innehaben möchte, muss mit dieses Problem bedacht werden. Personen mit vulgärpazifistischer Einstellung können mit diesem Problem nicht umgehen, da ihnen allein schon die Fähigkeit fehlen dürfte sich gedanklich umfassend mit bewaffneten KSK-Einheiten plus Unterstützungsnetzwerk im Untergrund beschäftigen zu können. Es ist daher unabdingbar, dass man einen pragmatischen und praxisorientierten Ansatz zum Umgang mit Gewalt findet. Und zwar aus purem Selbstschutz.