Wie den Schoß unfruchtbar machen – über das Versagen im Umgang mit Rechten

Die Diskussion um den Umgang mit Rechtsradikalen ist insbesondere seit dem Aufkommen und wachsenden Erfolg der AfD recht prominent im gesellschaftlichen Diskurs. „Mit Rechten reden“ – oder nicht – ist ein allseits bekanntes Schlagwort geworden. Wie man jetzt mit der AfD und Einzelpersonen genau verfährt ist eine nicht immer einfach zu beantwortende Frage. Die Frage stellt sich allerdings schon etwas länger, Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ kann als Türöffner für den heute noch aktuellen Diskurs bezeichnet werden. Hierbei spielt die SPD-Mitgliedschaft Sarrazins die entscheidende Rolle. Wäre sein Buch von einem NPD-Funktionär oder beim Kopp Verlag erschienen, es hätte niemanden außerhalb kleiner rechtsradikaler Kreise interessiert. Wenn ein Rechter ein rechtes Buch schreibt, dann ist der Inhalt erwartbar. Mit dem Parteibuch der SPD und der Vergangenheit als Finanzsenator in Berlin war Sarrazin aber mit dem Gütesiegel der bürgerlichen „Mitte“ versehen und theoretisch ja sogar so was wie ein Linker.

Allein durch diesen Umstand konnte das Buch bei einem renommierten Verlagshaus erscheinen, welches mehr Mittel und Wege für das Marketing zur Verfügung hat. Außerdem konnte man „Deutschland schafft sich ab“ als Skandalbuch eines Politikers verkaufen, der jetzt endlich mal die Wahrheit auftischt, auch wenn das Establishment diese nicht hören will. Gegen diese Kombination aus gefühlten Wahrheiten und Rebellenpose konnte man anschreiben wie man wollte, mit Logik und Argumenten kam man dem nicht bei. Wer liest denn schon ernsthaft ein Buch und prüft dann selbstständig die Argumente und Fakten nach, um sich dann ein fundiertes Urteil über den Inhalt zu erlauben? Eben. Mit „Deutschland schafft sich ab“ wurde eine für die breite Öffentlichkeit neue Sprache in den Mainstream eingeführt. Der Historiker Volker Weiß hat dazu geschrieben und das genau analysiert. Wer mehr dazu wissen möchte, kann dies in seinem Buch „Deutschlands Neue Rechte. Angriff der Eliten – Von Spengler bis Sarrazin“ nachlesen.

Worum geht es, was läuft falsch?

 

In der Wochenzeitung Die Zeit ist vergangene Woche in der Reihe 10 nach 8 ein Text von Verena Weidenbach erschienen, der sich auch mit dem Thema des Umgangs mit der AfD beschäftigt. Vorweg: Der Artikel ist sehr gut und eine unbedingte Leseempfehlung. Er unterscheidet sich wohltuend von anderen Artikeln, da er eine klare Position vertritt und zu erkennen gibt, dass Weidenbach tatsächlich Ahnung von der Materie hat. Sehr oft hat es nämlich den Anschein, dass Personen über Antifaschismus (hier im Sinne des allgemeinen Kampfes gegen Rechtsradikale in allen Betätigungsfeldern zu verstehen) und die politische Rechte schreiben, die keine oder nur sehr rudimentäre Erfahrung und Sachkenntnis in dem Bereich haben. Es ist ja erst einmal nicht verwerflich, wenn Personen sich nicht auskennen. Zum Problem wird es dann, wenn man sich ohne Kenntnis des konkreten Gegenstandes ein Urteil erlaubt und dieses dann auch noch der breiten Öffentlichkeit präsentieren kann.

Viele der Diskussionsbeiträge zum Thema „Mit Rechten reden“ und „Umgang mit Rechten/der AfD“ lesen sich sich so, als ob die für den Beiträge verantwortlichen Person nichts über konkrete antifaschistischer Arbeit und die dazugehörenden Probleme wissen. Auch eine Kenntnis rechter und rechtsradikaler sowie politikwissenschaftlicher Theorien und Begriffe allgemein ist oft schmerzlich zu vermissen. Das trifft nicht nur auf Journalist*innen zu, wiegt hier aber schwerwiegender. Dies soll an drei Beispielen genauer ausgeführt werden. Als erstes dient ein relativ bekanntes Zitat Bernd Höckes aus einer Rede im Jahr 2018:

«Wir werden die Macht bekommen – und dann werden wir das durchsetzen, dann werden wir das durchsetzen, was notwendig ist, damit wir auch in Zukunft noch unser freies Leben leben können. Dann werden wir nämlich die Direktive ausgeben, dass am Bosporus mit den drei großen M – Mohammed, Muezzin und Minarett – Schluss ist.»

Wessen Theorie ich nicht kenn…

 

In Bento, dem Portal des Spiegels für Jüngere, wird daraus dann, dass „er nach einer Machtübernahme der AfD in Deutschland auch vor der Türkei nicht haltmachen will. Den Islam wolle er dem Land dann verbieten.“  In der Welt wird fabuliert, dass „ihn auch Muslime am Bosporus fürchten“ müssen. Was beiden Autoren hier fehlt, ist die Kenntnis von Carl Schmitts Begriff des Politischen. Dieser ist einer der wichtigsten Einflüsse auf das politische Denken der Rechten und bildet die Grundlage für den Ethnopluralismus. Kurz gesagt, es geht um die räumliche Trennung von in sich geschlossenen politischen Einheiten. Höcke will also nicht der Türkei den Islam verbieten, er will den Islam und seine Anhänger*innen bis zum Bosporus räumlich begrenzen. Für ihn stellt der europäische Kontinent eine christliche Einheit dar, die man in dieser Form auch erhalten muss. Die Konsequenzen für den bereits historisch Jahrhunderten inklusive Islam multikonfessionellen Balkan sind interessanterweise niemandem eine Erwähnung wert.

Die fehlende Kenntnis der ideologischen und weltanschaulichen Grundlage führt dann zu einer inhaltlichen Verfälschung und wird an die Lesenden weitergegeben. Die Funktion der Journalistin, das Gesagte möglichst korrekt einzuordnen und kontextuell dem möglicherweise unwissenden Publikum aufzubereiten, ist hier vollständig abhanden gekommen und wird sogar in das Gegenteil verkehrt, da man Ver- statt Aufklärung liefert. Fehler wie diese sind symptomatisch für den deutschen Journalismus und demzufolge auch für den öffentlichen Diskurs.

Es ist erstaunlich, wie unpräzise mit Begriffen aus den Sozialwissenschaften und der politischen Ideengeschichte umgegangen wird. Ein prominentes Beispiel ist Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt-Gruppe. Seit fast 30 Jahren ist er in journalistischen Toppositionen beschäftigt und versagt regelmäßig an simpelsten Themen. Die G20-Proteste waren für ihn „Faschismus von links“ und Hamburg wurde zum „Bürgerkriegsgebiet“. Beides ist so offenkundig hirnrissig, dass man sich gar nicht erst zu einer Erwiderung herablassen möchte. Es gibt nur zwei Erklärungsmöglichkeiten:

1. Poschardt weiß, dass er die Begriffe falsch benutzt und insbesondere den Faschismusbegriff gegen jedwede halbwegs vernünftige Faschismustheorie einsetzt. Er entscheidet sich bewusst dagegen, verfälscht und lügt.

2. Er hat keine Ahnung, was diese Begriffe bedeuten.

Beide Optionen sind für eine Person in seiner Position eigentlich untragbar und zeugen in jedem Fall davon, dass ihm die fachliche Kompetenz fehlt, die sein Posten eigentlich erfordern sollte. Da wir von der Welt-Gruppe reden, ist diese Art von Hufeisenverfälschung hingegen sogar exakt die Art von Qualifikation, die es für den Job braucht.

Handzahme Uninformiertheit – leichtes Spiel für Rechtsradikale

 

Ein Beispiel, bei dem sich sowohl fachliche Inkompetenz und völliges Unvermögen im Umgang mit Rechtsradikalen finden, ist das Interview mit im ZDF Morgenmagazin mit Jörg Meuthen nach dem Terroranschlag von Halle. Mit zahnlosen Fragen über bestimmte Formulierungen Höckes versuchte man Meuthen beizukommen, der diese weitestgehend ignorierte und die bekannte Opferrolle darbot. Scharfe Nachfragen gab es nicht, die fünf Minuten ließen eh keine Zeit um Meuthen ernsthaft in eine Ecke zu drängen. Aus journalistischer Sicht war dieses Interview eine Vollkatastrophe und Blamage. Dabei hätte man, wenn man schon einem rechtsradikalen Spitzenpolitiker Sendezeit einräumt, ihn mit seinen eigenen Aussagen konfrontieren können.

Dem ZDF Morgenmagazin lagen garantiert die Aussagen des Halleattentäters aus dem Video und dem Manifest vor, waren diese doch schon am selben Abend mit ein wenig Recherche zu finden. Wenn wir das schaffen, dann auch ein Großbetrieb wie das ZDF. Es war bekannt, dass der Attentäter an die jüdische Weltverschwörung und den gesteuerten Bevölkerungsaustausch glaubt. Nicht nur gibt es dazu aus den Reihen der AfD unzählige zustimmende Aussagen, Meuthen selber hat sich diesbezüglich mehrfach selber geäußert. In einem Facebookpost führte er aus, wie George Soros die Flüchtlingsströme nach Europa lenken würde und was die SPD damit zu tun hat. Der sonst üblicherweise lautstark von AfD-Mitgliedern verbreitete Verschwörungsmythos des gesteuerten Bevölkerungsaustauschs wurde hier rot angepinselt und somit zur jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung light.

Man konnte also wissen, mit wem man es zu tun hat und das Meuthen selbst ideologischer Wegbereiter der Weltsicht ist, die zwei Menschen in Halle das Leben kostete und fast zu einem Massaker in der Synagoge führte. Und da wir vom ZDF Morgenmagazin reden, kann man dieses Wissen erwarten. Es handelt sich schließlich nicht um einen alleine betriebenen Youtube-Channel, sondern um eine der Flagschiffsendungen eines Senders mit einem Umsatz von über 2 Milliarden Euro jährlich. Für gute Rechercheleute bleibt aber wohl nicht viel übrig. Meuthen konnte sich relativ gefahrenfrei durch ein zahnloses Kurzinterview navigieren. Erkenntnisgewinn: Null

Die journalistischen Versäumnisse im Umgang mit Rechten haben dazu geführt, dass dieses Jahr die ARD-Talkshows „hart aber fair“ mit Frank Plasberg, „Maischberger“ und „Anne Will“ sowie die ZDF-Sendung “ Maybrit Illner“ den Negativpreis „Die goldene Kartoffel“ erhalten haben. Wohl verdient, wie nicht nur das (nicht mit dem Preis bedachte) Morgenmagazin mit dem Meuthen-Interview zeigte. Sandra Maischberger lädt anlässlich des AfD-Parteitags in Braunschweig Meuthen als Gast ein, um über den Kampf von „Moderaten“ und „Radikalen“ in der Partei zu sprechen. Ohne die Sendung gesehen zu haben, lässt schon die Ankündigung Schlimmstes befürchten.

Keinen Plan, aber Hauptsache irgendwas mit Populismus und Extremismus

 

Ein wirklich eklatantes Problem stellt die offenkundige Begriffslosigkeit dar. Man versteckt diese hinter der Nutzung einiger Schlagwörter, mit denen man meint den Gegenstand korrekt erfasst zu haben und muss sich nicht mit lästigen Fragen über die korrekte Begriffsverwendung rumschlagen. Die am häufigsten benutzten Begriffe sind dabei rechtspopulistisch und rechtsextrem. Was genau diese Begriffe jetzt inhaltlich bedeuten, wird dabei selten klar und eigentlich auch nie erklärt. Man geht davon aus, alle wüssten schon, was gemeint ist. Nun handelt es sich dabei aber um Begrifflichkeiten, die man tunlichst unterlassen (rechtsextrem) oder nur sehr begrenzt (rechtspopulistisch) verwenden sollte.

Mit dem Begriff des Rechtsextremismus verwendet man einen Begriff des Verfassungsschutzes, gegründet von Exnazis und Antikommunisten, welcher der Extremismustheorie entstammt. Diese ist in den Sozial- und Politikwissenschaften aus gutem Grund kaum in Verwendung, der ihr Erklärungsgehalt sehr marginal ist und zudem eine ideologische Ordnung der politischen Landschaft vornimmt, welche statt auf Inhalte auf (vermeintliche) Äußerungsformen zurückgreift. Mehr dazu kann man hier nachlesen: https://rambazamba.blackblogs.org/2018/02/15/die-extremismustheorie-urspruenge-inhalt-und-konsequenzen/. Wer das Denken des Verfassungsschutzes nicht reproduzieren will, sollte daher diesen Begriff aus dem Wortschatz streichen. Beim Begriff des Populismus handelt es sich nicht direkt um einen extremismustheoretischen Ausdruck. Er wird in den Sozialwissenschaften häufiger verwendet, konzentriert sich aber ebenso wie der Extremismusbegriff vor allem auf die Form, nicht auf den Inhalt. So kommt es dann zustande, dass Rechts- und Linkspopulismus und -extremismus häufig im selben Atemzug genannt und gedacht werden, ohne das es um konkrete Inhalte ginge. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der ständige Vergleich von den Aussagen einer AfD-Person und gleichklingenden Formulierungen Hitlers oder einer anderen Nazigröße, wobei es den Vergleichen in der Regel ausschließlich um die Form, also die Formulierung, geht, und eher selten um das inhaltlich damit Ausgedrückte. Wie man den Populismusbegriff mit Bedacht auf seinen beschränkten Erklärungsgehalt einsetzt, kann man in einem Artikel von Floris Biskamp im Katapult Magazin sehen.

Form vs. Inhaltslosigkeit und Sachunkenntnis

 

Dieses Konzentrieren auf die Form ist dann auch einer der großen Schwachpunkte im Umgang vieler Medien mit Rechten, sowie allgemein im öffentlichen Diskurs. Wenn man vorrangig auf das wie achtet, und nur rudimentäre Kenntnisse über rechte Weltanschauungen und Theoriegebilde hat, kommen solche eklatanten Fehler wie bei der eingangs aufgezeigten Fehlinterpretation Höckes raus. Wie soll man denn argumentativ etwas entgegensetzen, wenn man das Gesagte kaum verstehen und ideengeschichtlich einordnen kann? Selbstverständlich ist es zu viel verlangt, von allen Journalist*innen eine umfangreiches Kenntnis rechter Ideologien zu erwarten. Man darf aber erwarten, dass etablierte Medien mit entsprechender Vernetzung und Budget über Kontakte verfügen, die sich wirklich mit dem Thema auskennen. Warum hat das ZDF kein zentrales Rechercheteam zur radikalen Rechten? Mit nur fünf Personen hätte man ein ausreichend großes Team, um eine Datenbank zu erstellen und aktuelle Entwicklungen im Auge zu behalten, so dass sämtliche Sendungen darauf zurückgreifen könnten. Bei der gesellschaftlichen Relevanz des Themas sind fünf Festanstellungen bei einem Jahresbudget von zwei Milliarden sicherlich drin.

Neben dem Fokus auf das Formale fällt zudem eine oftmals schlechte Kenntnis von Äußerungen jenseits prominenter Reden oder Aussagen auf. Gaulands Vogelschiss und seine Boatengäußerungen sind bekannt, seine Rede in Schnellroda dagegen findet keine Beachtung. Dabei stellt er dort in der Keynote Winterakademie 2019 des IfS ganz klar sein antisemitisches Weltbild unter Beweis und aktualisiert die antisemitische Chiffre des wurzellosen Kosmopoliten in die Jetztzeit. Auch Meuthen und Weidel haben dort geredet und rechtsradikaler als in dieser sich als Kaderschmiede des Rechtsradikalismus verstehenden Institution geht es in Deutschland kaum.

Süßer die Schellen nie klingen

 

Was den Artikel in der Zeit von ganz vielen anderen Artikeln abhebt, ist die Detailkenntnis des rechtsradikalen Spektrums. Hier ist eine Person, namentlich Verena Weidenbach, die sich mit den Originalquellen beschäftigt hat und somit nicht auf die üblichen Diskursmanöver der Rechten hereinfällt. Wie so etwas aussehen kann, hat der bereits erwähnte Volker Weiß vorgemacht. Bei einer Fachtagung in Halle ist auch der Faschist Tillschneider von der AfD anwesend und versucht nach Ende von Weiß‘ Eröffnungsvortrag, diesem ans Bein zu pinkeln. Tillschneider stellt sich in eine angeblich demokratische Tradition der „Konservativen Revolution“ aus Weimarer Zeiten bis heute. Weiß ist Historiker und kennt daher vermutlich die Publikationen der 20er besser als Tillschneider selber und zerlegt diesen dementsprechend mit seiner Replik:

„Die Autoren, auf die man sich in Schnellroda [dort sitzt das Institut für Staatspolitik, Anm. d. V] beruft, haben die Demokratie, die Weimarer Demokratie, verachtet. Und das haben sie immer wieder gesagt, geschrieben und betont. Die können Sie jetzt nicht plötzlich demokratisch vereinnahmen. Dafür hätte Sie Ernst Jünger ausgelacht, Oswald Spengler hätte Sie ausgelacht, Moeller van den Bruck hätte Sie ausgelacht.“

Tillschneider, Faschist und einflussreicher Politiker in der Landes-AfD, kann dem nichts entgegensetzen. Er weiß ja selber, was diese Leute geschrieben haben. Und er weiß auch, dass Volker Weiß ihm das jederzeit nachweisen kann. Dieses mag Störmanöver bei Anne Will oder Frank Plasberg funktionieren, die vermutlich noch nie den Namen Moeller van den Bruck gehört haben und auch inhaltlich wenig zum Thema sagen können. So wie Weiß hier Tillschneider zerlegt hat, so kann man dann auch tatsächlich mit Rechten reden. Man darf ihnen nur nicht die Initiative überlassen und muss sich fachlich gut auskennen. Und vor allem kommt es auf das Setting an.

Mit Rechten kann man nicht reden – Frankfurter Buchmesse 2017

 

Negativbeispiele dafür, wie man es nicht tun sollte, lieferte die Frankfurter Buchmesse. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, 2017 den Antaios Verlag von Kubitschek direkt neben die Amadeu-Antonio-Stiftung und die Bildungsstätte Anne Frank zu platzieren, muss ordentlich am Klebstoff geschnüffelt haben. Der Gedanke war vermutlich, dass man die Rechtsradikalen durch das Fachpersonal direkt nebenan entschärfen könne. Wer sich auch nur ein wenig mit dem Konglomorat von Götz Kubitschek auskennt (Antaios, Sezession, IfS, Ein Prozent) und seinem Umfeld auskennt, weiß, dass das keine gute Idee ist. Dem geistigen Ziehvater der Identitären geht es ja nach eigenem Bekunden nicht um Dialog und Diskurs, sondern um deren Zerstörung. Worauf Weidenbach in ihrem Zeit-Artikel auch verweist. Folgerichtig machten verurteilte rechtsradikale Gewalttäter Stress und es kam zu Tumulten, bei denen sich die Rechten fast nach Belieben selber in Szene setzen konnten. All das wäre vermeidbar gewesen. Man hätte nur mal die Leute fragen müssen, die sich mit Kubitschek auskennen.

Auf ganz grandiose Art und Weise ist dann auch Daniel-Pascal Zorn gescheitert. Dieser ist Autor des programmatischen Buches „Mit Rechten reden“. Genau das hatte er vor und begab sich auf der Buchmesse in eine Diskussion mit Martin „Lichtmesz“ Semlitsch, Autor bei der Sezession und ebenfalls ideologischer Vordenker der Identitären. Man weiß nicht genau, um was es in dem Gespräch ging. Was man aber weiß, ist die publikumswirksame Inszenierung dieses Gesprächs von Seiten Semlitschs. Dieser veröffentlichte schlicht ein Bild in den sozialen Netzwerken, welches ihn im Gespräch mit einem Autor zeigt, der gerade in allen Feuilletons besprochen wird. Was hat dieses Reden mit einem Rechten also gebracht? Eine willkommene Möglichkeit der Selbstinszenierung als akzeptabler Gesprächspartner. Was hat es nicht gebracht? Irgendwas im Kampf gegen rechts. Da kann man schon mal klatschen für das selbsternannte Fachpersonal für reden mit rechts.

Unkenntnis und Professuren schließen sich nicht aus

 

Aktuell macht ein Buch von Cornelia Koppetsch die Runde, populärwissenschaftlich aufbereitete Soziologie liegt im Trend. In ihrem Buch versucht sie zu erklären, warum die AfD gewählt wird. Den großen Aufschrei gibt es jetzt darüber, dass sie fachlich unsauber gearbeitet hat und Quellenangaben nicht oder nur lückenhaft liefert. Eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Buch findet kaum statt, obwohl oder gerade weil es durch die Feuilletons gejagt wird. Man muss sich nämlich schon mit rechter Theorie und Ideengeschichte auskennen, um so ein Buch inhaltlich bewerten zu können. Eine Fachkenntnis über rechte Akteur*innen und Orgas wäre auch nicht schlecht, ebenso wie eine gewisse Vorbildung in den Sozialwissenschaften. Anderweitig gerät man in die Gefahr, das Buch einfach nur zu paraphrasieren und keiner kritischen Überprüfung zu unterziehen. Wie soll das auch gehen, ohne Fachkenntnis? Nur weil eine Person einen akademischen Titel hat, muss sie noch lange nicht richtig liegen. So ist das auch bei Koppetsch der Fall. Ihr Anspruch einer „theoriegeleiteten Empathie“ kippt vom sozialwissenschaftlichen Erklären und Verstehen ins Verständnis ab. Koppetsch übernimmt die Feindbilder der Rechten und macht die dann für den Aufstieg der Rechten verantwortlich. Dass es sich dabei um eine kaum kaschierte antisemitische Chiffre (kulturkosmopolitische Elite) handelt, merkt sie wohl selbst überhaupt nicht mehr. Koppetsch hat null Ahnung von Rechtsextremismusforschung. Sie rezipiert zwar zum Beispiel Weiß und Julian Bruhns, das war es dann aber auch schon. Keine Rechercheseiten, keine Betroffenen kommen zu Wort, es ist eine bloße Wiedergabe des AfD-Sprechs mit gelegentlich halbherzigen Distanzierungen.

Exemplarisch für völlige Inkompetenz mit großem Titel steht auch Ulrike Guérot, Professorin für europäische Politik und Demokratieforschung. Die behauptete in Bezug auf den AfD-Hardliner Kalbitz, dass nur demokratische Parteien und Personen zu Wahlen in Deutschland zugelassen würden. Diese Professorin! für Demokratieforschung kennt offenbar ihr eigenes Fachgebiet nicht und hat vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbotsantrag bezüglich der NPD noch nichts gehört. Das höchste Gericht hat der NPD attestiert, im Wesenszug nationalsozialistisch zu sein. Verboten wird sie nicht, weil sie so marginal ist, dass sie keine ernsthafte Gefahr für die demokratische Grundordnung darstellt.

Gern genommene Entschuldungsmodelle

 

Wenn man den öffentlichen Diskurs verfolgt, dann hat man oft den Eindruck, man ist eher darum bedacht die Probleme und Ursachen woanders zu verorten, als sich und das eigene (auch weltanschauliche) Umfeld kritisch zu betrachten. Vielleicht haben gerade deshalb populär-soziologische Bücher aktuell Konjunktur. Sie liefern Erklärungsmodelle, die oftmals sogenannte Theorien mittlerer Reichweite sind. Dabei wird nicht das gesamte Gesellschaftsmodell untersucht und erklärt, stattdessen nimmt man sich bestimmte Teilaspekte vor. Koppetsch zum Beispiel arbeitet genau in diesem Feld. Sie will nicht die gesamte Gesellschaft und politische Landschaft (v)erklären, sie will den Erfolg der AfD erläutern. Praktischerweise ist eine Theorie mittlerer Reichweite aber immer noch so abstrakt, dass sich Individuen nicht unmittelbar davon angesprochen fühlen müssen. Was kann man als einzelner Mensch denn schon gegen gesellschaftliche Prozesse tun? Und so drängt sich der Eindruck auf, dass solche Theorien vorrangig deshalb prominent aufgegriffen werden, weil sie eine Entschuldungsmöglichkeit liefern.

Außerdem bieten diese Theorien den Vorteil, dass man sich nicht im Bereich der konkreten Bekämpfung von Rechtsradikalen die Hände schmutzig machen muss. Ja, diese Schicht der Kosmopoliten (hallo antisemitische Trope) ist bei Koppetsch halt in seiner Gesamtheit Schuld. Da muss man nicht in Güstrow oder Halle nachfragen, was denn die konkreten Probleme mit Rechtsradikalen vor Ort sind, und welche konkreten Maßnahmen denn helfen, welche nicht und was für Hilfe man leisten sollte. Man kann die Problematiken fein säuberlich von sich wegschieben und in die abstrakte Ebende der gesellschaftllichen Prozesse auslagern. Denn auch das zeichnet den öffentlichen Diskurs sehr oft aus: Diejenigen, die aktiv gegen Faschos, Nazis, Hools und Rechtsradikale aktiv sind, bekommen kaum Gehör. Sie könnten das betrügerische Selbstbild der Mehrheitsgesellschaft zerstören, dass man ja mit Rassismus, Antisemitismus und dergleichen nichts zu tun hat. Antisemit*innen sind immer die anderen, aber nie ein Augstein, ein Blüm, ein Todenhöfer, ein Dehm oder ein Gauland. Es ist nie das eigene Umfeld, welches die Probleme bereitet. Und vor allem sind es nie die eigenen Positionen und das eigene Verhalten, welche mitunter ursächlich für bestimmte Probleme sind. Ein Plasberg oder eine Maischberger werden von sich ganz sicher behaupten, entschieden gegen rechts agiert zu haben und mit dem Aufstieg und der Normalisierung Rechtsradikaler nichts zu tun zu haben.

#dankeantifa und militant – so geht guter Widerstand

Würde man Antifaschist*innen und Initiativen gegen rechts denn mal zuhören, müsste man auch das hohe Ross des Pazifismus verlassen und seine eigene moralische Überlegenheit der Frage der Effektivität unterordnen. (Mehr zur Gewaltfrage hier: https://rambazamba.blackblogs.org/2019/01/17/die-gewaltfrage/) Es urteilen sehr oft Leute über Antifaschismus, die sich mit dem Feld inhaltlich gar nicht auskennen. Konkrete Vorschläge werden nie unterbreitet, Sitzblockaden dagegen sind dann fast schon der neue Faschismus von links. Wer sich in der Antinaziarbeit auskennt weiß, dass man mit Rechten nicht redet. Dabei ist ja auch nicht gemeint, dass man sich nie mit Einzelpersonen unterhält oder Bildungsarbeit mit gefährdeten Person betriebt, man kann durchaus Individuen durch einen längeren Diskussionsprozess in ihren Ansichten entschärfen oder auch ganz aus der rechten Szene rausholen. Nur passiert so was nicht in der Öffentlichkeit und nicht bei Personen und Gruppen, die ein gefestigtes rechtes Weltbild aufweisen. Mit einem Semlitsch braucht man nicht reden, der ist durch und durch Faschist, lebt ganz gut davon und wird sich auch nicht in seinen Ansichten ändern. Sobald es sich um Situationen handelt, in denen Rechte im Diskurs normalisiert werden – egal ob öffentlich, politisch oder privat – wird nicht mit ihnen geredet. Sie sind raumgreifend und wenn man ihnen die Möglichkeit zur Raumnahme bietet, dann werden sie diese ergreifen. Also muss man ihnen so konsequent es geht alle Räume versagen. Und zwar mit allen erforderlichen Mitteln.

Wer sich die Geschichte faschistischer Gruppen und Bewegungen anschaut, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass es zwangsläufig zu einer Form der potentiell gewalttätigen Konfrontation kommen muss. Nur massiver Gegendruck und aktive Gegenraumnahme schaffen es, faschistische Bewegungen kleinzubekommen. Und zwar auf allen Ebenen. Wenn man sich das Viersäulenkozept der NPD anschaut, dann findet man dort den Kampf um die Parlamente, die Köpfe, die Straße und den organisierten Willen. Und in allen Bereichen muss der Faschismus bekämpft werden: Als Partei, im Weltanschaulichen und im Diskurs, auf der Straße und organisatorisch. Wenn Staat und das, was man als Zivilgesellschaft bezeichnet, dies nicht oder nur unzureichend leisten, muss der Antifaschismus notwendigerweise eigenständig so gut es geht diese Schwachstellen ausfüllen. Auf den Staat ist dabei nie Verlass, im Zweifelsfall muss man gegen ihn arbeiten. Und insbesondere das konservative Bürgertum hat sich in den letzten 100 Jahren regelmäßig zum Steigbügelhalter rechtsradikaler Bewegungen und Diktaturen gemacht. Die Diskussion in Thüringen zeigt aktuell wieder deutlich, dass diese Gefahr nicht historisiert werden kann, sie ist aktuell wie eh und je.

Was den Artikel von Verena Weidenbach auszeichnet ist, dass sie das weiß. Sie spricht zwar nicht dafür aus, Nazis so lange zu Kantholzen, bis sie keine Lust mehr aufs Nazisein haben. Aber sie weiß, dass man Rechtsradikale politisch und gesellschaftlich niemals in einen Dialog oder in einen Diskurs einbinden darf. Würden Staat und Zivilgesellschaft dies konsequent schaffen, es wäre viel weniger militanter Antifaschismus notwendig.

25.11. – Heute ist der Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen

Gewalt gegen Frauen ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und trotzdem ist sie weltweit verbreitet und seit Jahrtausenden Normalität in fast allen Gesellschaften. In der Wahrnehmung der meisten Menschen entspricht es ihrer Normalität, Frauen zu belästigen, zu schlagen, sie zu konsumieren und ihnen Gewalt anzutun. Warum? Weil sie als Gegenstände wahrgenommen und so behandelt werden: Als Gebärmaschinen für die Nation, als Sexobjekte für männliche Lust und als Besitz ihrer Partner. Ausgebeutet wird, was ausgebeutet werden kann, nämlich sowohl die Sexualität wie auch die Reproduktivität, mit der in Leihmutterschaftskonstellationen Geschäfte gemacht werden. 
Deshalb: Frauenrechte sind Menschenrechte!
 
 
Seit 1981 organisieren Organisationen wie Terre des Femmes Aktionen und Veranstaltungen an diesem Tag. Im Dezember 1999 erklärte die UN-Generalversammlung dann in einer Resolution den 25. November zum festen Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen, denn sie zeigte sich „beunruhigt darüber, dass Frauen nicht in den vollen Genuss ihrer Menschenrechte und Grundfreiheiten kommen, und besorgt darüber, dass es nach wie vor nicht gelungen ist, diese Rechte und Freiheiten im Falle von Gewalt gegen Frauen zu schützen und zu fördern. (1) Die Initiierung dieses Aktionstages ist auf die Entführung, Vergewaltigung und Ermordung der Mirabel-Schwestern von 1960 zurückzuführen, Regimegegnerinnen des damaligen Diktators der Dominikanischen Republik Diktators Rafael Trujillo. Seither wird an diesem Tag aufgezeigt, was bereits erreicht worden ist, aber ebenso der Blickt auf die Handlungsdefizite bei der Intervention gegen Gewalt an Frauen gerichtet werden. Nicht vergessen werden sollte aber, dass die UNO selbst es nicht ganz so genau mit konsequentem Einsatz für Frauenrechte und gegen Gewalt an Frauen nimmt. So wurde 2017 Saudi Arabien in die UN-Kommission für Frauenrechte gewählt, obwohl dieses Land Gewalt gegen Frauen institutionalisiert hat.
 
Die Dimensionen, Formen und Ausprägungen von Gewalt gegen Frauen manifestieren sich auf vielfältigste Weise, beginnend bei der strukturellen Gewalt u. a. von sozialer Armut, die sich v. a. auf das Leben im Alter auswirkt, über die der Objektifizierung und Verwertung des weiblichen Körpers für den kapitalistischen Markt in Werbung, Pornografie und Prostitution bis hin zu Zwangsheirat, Genitalverstümmelung und schließlich Femiziden, die noch immer nicht als solche benannt werden, geschweige denn dass es sie als juristische Kategorie überhaupt gäbe.
Mehr noch: Den bürgerlichen Staat interessieren Frauenrechte kaum, sodass Frauen eben für das Grundlegendste ihrer Menschenrechte demonstrieren müssen: Ihre körperliche Unversehrtheit.
 
Es gibt keine Schutzmechanismen, keine Rückzugsorte, Hilfe vom Staat schon gar nicht. Besonders anschaulich und grausam zeigt das der Fall von Julie Douib, die obwohl sie sich Hilfe suchte, sogar zur Polizei ging, schließlich durch die Hand ihres Partners ermordet wurde. Wo noch nichts passiert ist, kann man schließlich nichts machen.
            Julie avait interpellé les gendarmes notamment au sujet de l’arme que gardait son exconjoint: „J’ai peur, il va me tuer“, leur avait-elle confié à l’époque, comme le rappelle une de ses amies sur Facebook. „Madame, tant qu’il ne s’en sert pas, nous ne pouvons rien faire!“, lui aurait répondu un gendarme. „Alors vous allez faire quelque chose une fois que je serais morte?“, avait rétorqué Julie. (2)
 
            [Julie verständigte unter Anderem wegen der Waffe, die ihr Ex-Partner besaß die Gendarmerie. „Ich habe Angst, er wird mich umbringen.“ warnte sie damals die Gendarmerie, wie eine Freundin auf Facebook angibt. „Gute Frau, solange er davon keinen Gebrauch macht, können wir nichts machen!“ sei darauf die Antwort eines Gendarmen gewesen. „Also werden sie erst etwas tun wenn ich tot bin?“ war Julie’s Entgegnung.] 
 
 
Die Wahrnehmung von Frauen als Gegenständen wird befeuert, indem sie als solche dargestellt werden in Pornografie und Prostitution. Die Bandbreite des Angebots lässt nur den Schluss auf eine enorm hohe Zahl Konsumenten schließen. Darstellungen, in denen Haushaltsgegenstände zu Waffen werden, Frauen beleidigt, gewürgt, geschlagen bespuckt werden und Schlimmeres sind frei für alle zugänglich, sogar für Kinder, die sich sicher nicht von einem Verweis auf einen roten Button mit der Aufschrift „Ich bin keine 18“ den Zugang zu derlei Bildmaterial verwehren lassen. Die Sexualität von Frauen wird zugerichtet, zerstört von Kindesbeinen an ihre Selbstwahrnehmung und ein gesundes Bewusstsein ihrer selbst. Es wird ihnen als Normalität eingeimpft. Und das Fatale daran ist, dass sich der Kampf um Frauenrechte in Punkten wie diesem so uneinig ist. Das Fatale ist, dass vermeintliche KämpferInnen für Frauenrechte, sich zu TrägerInnen eben dieses Systems machen lassen und eine Freiwilligkeit sehen, wo keine sein kann.
 
 
Schon 1995 in Peking bei der 4. Weltfrauenkonferenz wurde erläutert, dass in erster Linie „Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden Mechanismen ist, durch den Frauen in eine im Vergleich zu Männern untergeordnete Stellung gezwungen werden.“ (3) Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Pekinger Aktionsplattform gilt gemeinsam mit der Frauenrechtskonvention als eines der zentralen internationalen Bezugsdokumente. Sie ist die Grundlage für diverse Initiativen der Gleichstellungspolitik und beinhaltet konkrete Maßnahmen zur Förderung der geschlechtsspezifischen Gleichstellung ausgedehnt auf zwölf Schwerpunkte. 189 Staaten, Deutschland inklusive, haben diese in der sogenannten Pekinger Erklärung einstimmig beschlossen und sich damit zur Umsetzung verpflichtet. Nichtsdestotrotz liegt Deutschland mit 66,9 von 100 möglichen Punkten im EU-Gleichstellungsranking auf Platz 12. Das zeigt der im Oktober veröffentlichte Gleichstellungsindex des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen. (4)
 
Es werden jährlich etwa 12 Millionen Mädchen und 18 Jahren verheiratet. Es folgen i. d. R.  zeitnah Schwangerschaften und eine abgebrochene Berufsausbildung, sofern denn überhaupt eine begonnen wurde. 
Es werden jährlich um die 200 Millionen Frauen und Mädchen mit Genitalverstümmelung gequält, die es nach wie vor in über 30 Ländern noch gibt und das einzig allein, damit sie ihre Sexualität nicht ausleben können.
Es werden hauptsächlich Frauen zu Opfern des Menschenhandels, die laut Eurostat insgesamt 80%  ausmachen. (5)
 
Bleiben wir weiterhin entschlossen und widerständig! Entschlossen, der Gewalt gegen Frauen und Mädchen ein Ende zu setzen und widerständig gegen ein System, das diese Gewalt beabsichtigt, hervorbringt, reproduziert und vermarktet.
 
 
 
Sofie Rot

Buchrezension „Extrem unbrauchbar – Über Gleichsetzungen von links und rechts“

Im Verbrecher Verlag ist vor ein paar Wochen ein Sammelband zum Thema Extremismustheorie erschienen. Dieser ist die zweite Veröffentlichung der „Edition Bildungsstätte Anne Frank“, welche von der namensgleichen Bildungseinrichtung aus Hessen verantwortet wird. Der Rahmen des Sammelbandes ist mit einigen Stichworten ganz gut umrissen: Extremismus-, Totalitarismus-, Hufeisentheorie und Zentrismus/Ideologie der Mitte. Die einzelnen Beiträge im Band behandeln einzelne Aspekte aus diesem Spektrum, vorsortiert in fünf Kategorien: 
 
    (1) Eine Theorie, die keine ist
    (2) Im Dickicht der Institutionen
    (3) Das Recht des Stärkeren 
    (4) Mythos Mitte und 
    (5) Nachtritt. 
 
Die Beiträge stammen unter anderem von Politikwissenschaftler*nnen wie Wolfgang Wippermann und Dana Ionescu. Es gibt ein Interview mit den Leitern der Bildungsstätte Anne Frank, Artikel von Mitarbeiter*nnen der Bildungsstätte wie Eva Berendsen und Tom Uhlig, politsch-satirisch Aktiven wie Paula Irmschler und Leo Fischer und ein Interview mit der Facebook-Seite Das goldene Hufeisen.
 
 
Vorweg gibt es gleich das Fazit, unter dessen Berücksichtigung die Detailkritik zu lesen ist: Es ist ein empfehlenswerter Sammelband mit teilweise hervorragenden Beiträgen. Man merkt dem Band an, dass er von einer demokratischen Bildungsstätte herausgegeben wurde – einige Beiträge beziehen sich explizit auf den Bereich der politischen Bildung und der dort aktiven Vereine und Träger*nnen. Wer mit diesem Bereich nicht viel zu hat und sich politisch auch nicht in der „Mitte“, in der Mehrheitsgesellschaft oder im bürgerlichen Bereich verortet, wird nicht alle Artikel hochgradig spannend finden oder sich in ihrer Intention wiederfinden. In der Summe bündelt das Buch aber Artikel mit größtenteils politikwissenschaftlichem Anspruch zum Themenbereich Extremismus und richtet sich klar gegen staatliche, behördliche und rechte Diskursbestimmung durch damit verbundene Konzepte und eine inhaltlichen Entkernung der politischen Debatte. Wer wissen will, was damit nicht stimmt, wird hier mit teils exzellentem Material versorgt. Und auch wer mit dem Thema vertraut ist, wird genügend interessante Details und Denkanstöße bekommen.
 
 
Empfehlenswerte Artikel, chronologisch:
 
Rechts von uns ist das Land – Eva Berendsen, Katharina Rhein, Tom Uhlig
– Politik(wissenschaft) als Mythos; Die Extremismustheorie und das Hufeisen – Daniel Keil
– Eine Totalitarismustheorie, die eigentlich keine ist; Die deutschsprachige Rezeption von Hannah Arendts Theorie der totalen Herrschaft – Dana Ionescu
– Politische Bildung als Verfassungsschutz? Über ein deprimierendes Demokratieverständnis – Katharina Rhein
– Extremismus – Ein Konzept zur Lähmung des Kampfes gegen rechts – Ingolf Seidel
– Im Recht; Der Extremismusbegriff schützt vor allem eins: Die Verfasstheit der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung gegen emanzipatorische Politik – Maximilian Pichl
– „Wehrhafte Demokratie“ oder wie ein Inlandsgeheimdienst zum Demokratieschützer wird – Sarah Schulz
– Deutschlands Platz an der Arktis; Wie sich die Volksgemeinschaft an Kälte wärmt– Tom Uhlig
– Antisemitsm – Connecting People – Katharina Rhein, David Uhlig
– Interview mit Das goldene Hufeisen – David Uhlig
 

Rein ins Extreme

 
Die drei Herausgeber*innen lassen sich nicht lumpen und eröffnen den Band mit einer standesgemäßen Einleitung, die den politischen Zeitgeist in den Jahren der Chemnitzer Ausschreitungen, des Mordes an Lübcke, des Endes der juristischen Aufarbeitung des NSU-Komplexes und der Etablierung der rechtsradikalen AfD in allen Landes- und Bundesparlamenten themenspezifisch seziert und den Finger auf die offenen Widersprüche und Fehlentwicklungen der letzten Jahre legt. Die größte Enttäuschung folgt direkt auf dem Fuße, liefert Wolfgang Wippermann doch einen sehr schwachen Beitrag ab. Es wird viel angeschnitten, wenig untermauert und noch weniger zum Abschluss gebracht.
 
 
Doch davon sollte man sich nicht entmutigen lassen. Denn die drei folgenden Beträge enthalten Schellen für Verfassungsschutz, Extremismustheorie und die jeweiligen Vertreter*innen, die es in sich haben.  Wer weiß schon, dass die Bundeszentrale für politische Bildung in den ersten Jahren Bundeszentrale für Heimatdienst (ja, Heimatdienst) hieß und maßgeblich von antikommunistischen Altnazis aufgebaut wurde, die stellenweise das seit Jahrzehnten als ungerechtfertigt angesehene KPD-Verbot angestrengt haben? Wer weiß schon, dass die Hufeisentheorie eine Selbstverortung rechtsradikaler Kräfte zu Beginn der 30er war, mit der man sich als wahre Vertreter des Volkes im Sinne der Volksgemeinschaft zu positionieren suchte, während die Linken mit ihrem Klassenkampf dies nicht seien und zu viel Klassenkampf dem Volk nicht gut täte, was von Backes in seiner Übernahme des Modells aber geflissentlich unter den Tisch fallen gelassen wird? Wer weiß schon, dass führende Extremismustheoretiker wie Jesse, Backes, Patzelt, Pfahl-Traughber und andere teils offiziell, teils inoffiziell für den Verfassungsschutz gearbeitet haben und heute trotzdem als unabhängige wissenschaftliche Experten für die Medien gelten und bei der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen? Wer weiß, dass Hannah Arendt mit ihren Arbeiten zur totalen Herrschaft explizit nicht die DDR gemeint hat und auch die Sowjetunion nur unter Stalin als totale Herrschaft ansah, heute aber entgegen ihrer Aussagen als Säulenheilige der Totalitarismustheorien und als Namensgeberin eines solchen Instituts herhalten muss, dessen außerordentlicher Professor Lothar Fritze sogar in Schnellroda beim rechtsradikalen Institut für Staatspolitik referiert hat? 
 

Mehr davon

 
Die große Stärke des Sammelbands liegt genau in solchen Details und Ausführungen, die die politische Ideengeschichte des Extremismusbegriffs nachzeichnen, seine Entstehung erläutern und einordnen und den sehr begrenzten Rahmen dieses Modells anschaulich darlegen. Und so bekommt die Selbstdarstellung der BRD und ihrer Sicherheitsorgane sehr viel Kritik ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten Nazis ihren Antikommunismus in den Behörden, die sie oft selber aufgebaut haben, weiter ausleben und Opfer des Nationalsozialismus in der BRD ein zweites Mal staatlich verfolgen, während sie selber unbehelligt von ihren Verbrechen der Nazizeit blieben. Interessant sind auch die Passagen, in denen der Extremismusbegriff staats- und verfassungstheoretisch eingeordnet wird. So ist es ein Zynismus, dass politische Bildung in Form der Bundeszentrale für politische Bildung genauso wie der Verfassungsschutz dem Innenministerium unterstellt ist und somit als staatliche Behörde einen Extremismusbegriff verbreitet, der den staatlichen Bereich explizit ausklammert und keiner Kritik unterzieht. Demokratieförderung dient hier also nicht dem Fördern eines kritischen Denkens auch gegenüber staatlichen Institutionen, sondern allein der Verbreitung der Mär, die „Ränder“ der Gesellschaft seien problematisch. Das man Menschen- und Bürgerrechte in der Regel GEGEN staatliche Institutionen erkämpfen musste, spielt keine Rolle. Der Staat und die Behörden gelten nicht als Instrumente zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen, die sich zudem ändern können. 
 
 
Ebenfalls hervorzuheben ist der Verweis auf die Verengung des Rahmens, den man von behördlicher Seite als nicht-extremistisch ansieht. So wird entgegen der Konzeption des Grundgesetzes, in dem mit voller Absicht keine Wirtschaftsordnung festgelegt ist, der antikapitalistische Kampf sehr oft als extremistisch und somit verfassungsfeindlich eingestuft. Staatliche Behörden sorgen damit aktiv für eine Auslegung des Grundgesetzes, welche die aktuelle Verfasstheit von Staat und Wirtschaft schützt – und nicht was verfassungsrechtlich im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichköglichkeiten läge. Das Grundgesetz schützt eben nicht zwangsläufig den Kapitalismus und auch nicht die Behördenstruktur der BRD, ebensowenig ist Demokratie an die aktuelle Verfasstheit der BRD geknüpft. Gerade in Anbetracht der aktuell laufenden Militarisierung der Polizei und der Befugniserweiterungen Richtung Autoritarismus steht man schnell als potentiell extremistisch dar, obwohl man sich eigentlich im Rahmen der Grundgesetzintention befindet und die eigenen Rechte gegen den Staat verteidigen will.
 
 
Weniger spannend sind Teile der Artikel bezüglich der Bildungspolitik und wie man mit dem Extremismusbegriff versucht, Linke oder den Kampf gegen rechts zu be- und verhindern. Dies liegt nicht daran, dass dies nicht wichtig wäre. Man kennt die Leier und die Taktik nur eben seit Jahren und eine Aufarbeitung dieser Mechanismen ist nicht sonderlich anregend, dafür aber bitter nötig, wenn man die aktuellen Debatten um das Programm „Demokratie fördern“ anschaut und die Diskreditierungsversuche von Seiten der AfD und anderen rechtsradikalen Akteuren im Kopf hat. Die Diskursanalyse zum NSU-Komplex und der Beitrag zum Thema Islam und Extremismuskonzeption lesen sich ebenfalls wie Füllwerk und liefern leider keine spannenden Erkenntnisse oder neue Blickwinkel auf diese Bereiche. Etwas deplatziert wirkt der Beitrag über Feminismus, was vor allem daran liegt, dass die Autorinnen es nicht wirklich schaffen, die Verbindung zum Thema des Buches deutlich zu machen. Man fragt sich oft, was das denn jetzt hier soll und wie das mit der Extremismustheorie zu tun hat. 
 

Probleme mit der Mitte

 
Allein wegen der Form fällt der Beitrag „Deutschlands Platz an der Antarktis“ aus dem Rahmen. Kontrastiert durch die Erzählung einer deutschen Antarktisexpidition kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs wird hier mit deutlichem Einschlag der kritischen Sozialpsychologie versucht, dem Mythos der guten Mitte die notwendige Kälte der bürgerlichen Vergesellschaftung in der Moderne gegenüberzustellen, welche sich exemplarisch am Holocaust zeigt. Hier fragt man sich auch die ganze Zeit, wie das alles in den Rahmen des Buches passen soll, wird dann aber kurz vor Schluss vollumfänglich abgeholt und man versteht, was das mit dem Mythos der Mitte zu tun haben soll. Die Entzauberung dieses Mythos fällt leider etwas ungenügend aus. Vollkommen richtig wird auf Antisemitismus als ein alle politischen Spektren durchdringendes Welterklärungskonstrukt verwiesen, allerdings hätten hier konkrete Namensnennungen nicht geschadet. Dabei liefert auch die „Mitte“ genügend Personen, um die Behauptung, Antisemitismus gäbe es nur an den „Rändern“, Lügen zu strafen. Personen wie Möllemann, Blüm oder Kohl gelten nicht als extremistisch, die Außenpolitik der Bundesregierung mit antisemitischen Regimen hat ebenfalls nichts mit einem linksradikalen Antizionismus zu tun und ist in der Mehrheitsgesellschaft zu verorten. 
 
 
Vielleicht krankt die Entzauberung der Mitte auch ein wenig daran, dass wichtige Aspekte schon in den vorangehenden Beiträgen aufgegriffen wurden. Hier hätte ein frischer Blick oder eine ungewohnte Perspektive sicher gut getan. Im Interview mit dem goldenen Hufeisen findet man dazu passende Ansätze: Insbesondere im amerikanischen Raum hat Zentrismus bzw. centrism eine relativ prominente Rolle innerhalb politischer Diskussionen, da hier seit 200 Jahren zwei Parteien das Land regieren. Der internationale Blick kann zudem die „Mitte“ in Perspektive rücken, da jedes Land eine andere politische Mitte hat und konkrete Gesetze und Konzepte anders verortet werden. Auch ist Mitte immer relativ, wenn man sich nur einmal vor Augen führt, was 1950 so als Mitte angesehen wurde und was heute im Kontrast dazu als selbstverständlich gilt. Mit Ansätzen dieser Art hätte man dem Mythos Mitte in ausgearbeiteten Beiträge sicher noch mehr Schaden zufügen können. So bleibt dieser Abschnitt hinter seinen Möglichkeiten zurück.
 
 
Wie bereits zu Beginn deutlich gemacht, ist der Sammelband klar zu empfehlen, die Kritik findet hier auf einem hohen Niveau statt und man bekommt kompakt eine gute Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex und ausreichend Gründe genannt, warum man auf den Extremismusbegriff am Besten vollkommen verzichten sollte.

Die Novemberpogrome 1938 und notwendige Konsequenzen für den Aktivismus

Heute jährt sich die Reichspogromnacht, auch bekannt als Reichskristallnacht. Vor 81 Jahren gipfelte der Judenhass im Deutschen Reich in dem vorläufigen Höhepunkt der Novemberpogrome, welche sich vom 7. bis zum 13. November ereigneten. Hunderte Tote, 30.000 ins KZ Deportierte, tausende zerstörte Synagogen, jüdische Einrichtungen und Geschäfte – der Tod war ein Meister in Deutschland. Über die Details will ich mich an dieser Stelle aber gar nicht groß auslassen, dazu kann man sich mit wenigen Klicks genügend Informationen zusammensuchen. In den letzten Jahren sind hier auch eigene Beiträge zum 9. November erschienen und es braucht wirklich nicht noch einen weiteren Text, der sich ähnlich liest wie dutzende andere da draußen. Vor allem sollte so ein Text keine Pflicht sein, die man abarbeiten muss. Auch wenn man leider immer wieder in der Pflicht steht, sich gegen Antisemitismus zu positionieren.

In den letzten Jahren ist ein Anstieg antisemitischer Vorfälle zu verzeichnen. Dieser liegt zum einen an einer verbesserten Meldestruktur. Organisationen wie RIAS, JFDA und das Register Berlin sind hier Beispiele für gute Arbeit, bei der Vorfälle dokumentiert und aufgeklärt werden. Von unserer Seite aus ein aufrichtiger Dank dafür. Durch eine verbesserte Meldestruktur werden mehr der Vorfälle erfasst, die es gibt, das Abbild wird realistischer. Zusätzlich nimmt aber auch die tatsächliche Quantität des Antisemitismus zu. Mit der AfD ist der klassische deutsche Antisemitismus wieder in die Parlamente eingezogen, sei es in Form von Geschichtsrevisionismus, Gedeon, jüdisch-bolschewistischer Weltverschwörung und antisemitischen Verschwörungstheorien. Auf den Straßen werden immer mehr als jüdisch angesehene Personen angegriffen. Der Jugendwiderstand will Neukölln davidsternfrei prügeln, die Angriffe im Prenzlauer Berg, in Chemnitz und auf das Restaurant Feinbergs machten international Schlagzeilen.

Als bekanntgegeben wurde, dass die USA ihre Botschaft nach Jerusalem verlegen, gab es Demonstrationen mit teilweise tausenden Antisemit*innen, einige radikale Linke wie Revo und der Jugendwiderstand marschierten Seite an Seite mit Islamist*innen auf. Auf Nazidemos wird wieder lautstark „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ gebrüllt. In der Linken sieht es zwar besser aus als vor 25 Jahren, vor allem der als Antizionismus gekleidete Antisemitismus ist immer noch stark vertreten. Auch international gibt es wenig Gutes zu berichten. Mit Jeremy Corbyn ist ein Antisemit Chef der britischen Labourpartei, in Frankreich verlassen immer mehr jüdische Personen das Land und in den USA gab es erst ein Massaker und dann eine Anschlagsserie.

Es ist notwendig, zu erkennen, dass Antisemitismus nicht der Vergangenheit angehört. Es ist kein Problem des 19. Jahrhunderts, wie es Gauland in einer Rede sagte. Im Gegenteil, der Antisemitismus ist virulent und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen quicklebendig. Die Gefahr für jüdische Personen ist immer vorhanden und man hat das Gefühl, es braucht nur den richtigen Anlass und der Judenhass bricht sich in einigen Bevölkerungsschichten wieder offen und unverhohlen Bahn. Es ist gut und richtig, an den schlimmsten Judenhass zu erinnern, an das unbeschreibliche Verbrechen, welches von breiten Teilen der deutschen Bevölkerung mitgetragen wurde. Aber der Antisemitismus ist 1945 nicht verschwunden. „Kauft nicht bei Juden!“ heißt heute BDS, man ist jetzt antizionistisch und Araber sind ja auch Semiten, also könne man gar kein Antisemit sein. Globalisten sind eine Gefahr und George Soros will ganze Nationen zersetzen, da ist man sich inzwischen weit über den rechten Verschwörungssumpf einig.

Es ist heute vergleichsweise einfach, am 9. November der Opfer zu gedenken und die Erinnerung ist ein wichtiger Bestandteil antifaschistischer Praxis. Nach dem Krieg war das anders, vor allem die westdeutsche Bevölkerung übte sich in Verdrängung und Selbstmitleid. Hitler war ja schlimm und man mochte die Nazis trotz Perteibuch ja nie so wirklich, aber wenigstens war man selbst anständig geblieben. Als die Jüdiinen und Juden zum Deportationsbahnhof getrieben wurden, hat man immer die Fenster geschlossen, man wollte ja schließlich nicht gaffen. Heute ist die Erinnerungskultur zum Glück fest verankert, auch wenn Rechte immer wieder provozieren und die AfD sie staatlich abschwächen will. Nur das Erinnern fällt einfach, den Kampf gegen den Antisemitismus selber zu führen, umso schwerer. Vor allem wenn man konsequent ist und sich eingestehen muss, dass sowohl Familie, Bekannte als bedeutende Teile der radikalen Linken antisemitische Positionen vertreten.

Aber die Zeiten sind andere als 1938. Mit der Mahnung von Auschwitz im Hinterkopf gibt es inzwischen viel mehr Leute, die bereit sind, sich mit ihrem eigenen Leben gegen Antisemitismus zu stellen und das Leben von Jüdinnen und Juden mit ihrem eigenen zu verteidigen. Da das Schlimmstmögliche bereits geschehen ist, hat sich die Hoffnung, dass es schon nicht so schlimm kommen kann, erübrigt. Und eine Sache habe ich im Laufe der Jahre gelernt: Die Jüdinnen und Juden haben inzwischen ihren Selbstschutz organisiert. Freund*innen, die von der Linken in Berlin und ihrer Unfähigkeit, sich dem Antisemitismus in den eigenen Reihen entgegenzustellen, völlig desillusioniert sind, haben immer noch einen Notfallplan in Hinterhand: Israel. Konnte man früher einer Bedrohung nichts entgegensetzen und war auf andere Staaten angewiesen (wie das funktioniert wissen wir alle), ist man inzwischen in der Lage, jüdische Personen zu schützen. Die beste Absicherung gegen einen zweiten Holocaust ist und bleibt dieser Schutzraum. Denn eines hat man im Laufe der Jahrhunderte gelernt: Auf Andere kann man sich nicht verlassen. So unangenehm dieses Eingeständnis ist, der Schutzraum Israel ist die letzte Verteidigungslinie gegen Vernichtungsantisemitismus. Und nicht die radikale Linke. Genau dieser Umstand sollte uns allen Mahnung und Antrieb sein.

Der Satz, der mir am meisten zu denken gegeben hat, ist folgender: „Für dich würde ich eine Woche vor der Gesa stehen, aber auf die Linke kann ich mich nicht verlassen wenn es alles den Bach runtergeht.“ Lasst uns alle daran arbeiten, dass dieser Satz seine Gültigkeit verliert.

Laura Stern

Extinction Rebellion – Kritik Teil 2

Der folgende Text soll an den ersten von Erich zu Extinction Rebellion anschließen (https://www.facebook.com/antifakampfausbildung/photos/a.937275142984982/2498384816873999/?type=3&theater) und ist als Antwort auf diese beiden zu verstehen:

 

1. Extinction Rebellion – eine Massenbewegung?

 

ExtinctionRebellion ist eine Massenbewegung und als solche offen für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft bis weit nach links. Ja, wir sind eine bürgerliche Klimabewegung. Das bestimmt unsere strategischen Entscheidungen, wie z.B. die strikte Gewaltfreiheit.“

Eine Massenbewegung gilt als eine besondere Form der sozialen Bewegung. Ein kollektiver Akteur, in dem sich konstitutive Organisationsstrukturen, Aktionsformen und –strategien subsumieren. Ziel einer solchen ist es, tief greifend die öffentliche Meinung einer Gesellschaft zu prägen, politisch richtungsweisend zu sein und so einen gesellschaftlichen Wandel zu initiieren.

Von Extinction Rebellion gibt es zwar weltweit Ableger und diese erlangen auch mediale Aufmerksamkeit, doch war es nicht XR, die einen oben genannten gesellschaftlichen Wandel im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz angestoßen hat.

Linksradikalen Projekten wie z. B. den Protesten um den Hambacher Wald oder den Aktionen von Ende Gelände kommt diesbezüglich in Deutschland eine zentrale Bedeutung zu. Über 50000 Menschen, zu weiten Teilen aus dem bürgerlichen Spektrum, aus dem XR nach eigener Aussage AnhängerInnen rekrutieren möchte, fanden sich im Oktober 2018 im Hambacher Forst ein. Schon zuvor gab es große Demos im Hambi bzw. Räumungsversuche und entsprechende Gegenwehr, die große mediale Aufmerksamkeit erzielt haben. Die Waldspaziergänge waren regelmäßig von vierstelligen, z. T. fünfstelligen TeilnehmerInnenzahlen besucht. Begegnungen zwischen den BesetzerInnen innerhalb und außerhalb der radikalen Linken wurden geschaffen. Begegnungen mit AkteurInnen, die mittels unterschiedlicher Aktionsformen für ihre Interessen eintraten. Und auch Aktionsformen, die man für sich selbst nicht wählte, wurden zumindest bei anderen toleriert anstatt deren Beteiligung abzulehnen und die Solidarität zu verweigern. Der Hambacher Wald ist zwar immer noch gefährdet, doch ein Rodungsstopp wurde erwirkt und mediale Aufmerksamkeit generiert – angestoßen durch ein paar Einzelpersonen, die in den Bäumen wohnen und dies geschafft haben, ohne sich bei den Staatsbütteln anzubiedern. Die AktivistInnen positionieren sich zudem klar antikapitalistisch und antifaschistisch.

Die radikalen Aktionen des Bündnisses Ende Gelände, die regelmäßig an verschiedenen Orten stattfinden, in den letzten Jahren einmal jährlich im rheinischen Braunkohlerevier, haben auch eine mediale Wirkmacht entfaltet, indem diese letztlich dazu beigetragen haben, dass sich eine Kohlekommission endlich mal konkret mit dem Kohleausstieg in Deutschland befasst. Zwar ist das Ergebnis noch ausbaufähig, aber es wurden erste Schritte gegangen – auch ohne Copkuschelei. Das Thema Klimawandel in Verbindung mit dem Kohleausstieg wurde in sämtliche Medien gebracht. Bei der diesjährigen Aktion im Juni hatte die am gleichen Tag wie die Massenaktion stattfindende Fridays For Future – Demo den Vorstoß in die Grube für die AktivistInnen von Ende Gelände unterstützt, indem sie eine Demoroute wählte, die partiell nahe der Abbruchkante lag. Fridays For Future – sicher (noch) nicht in weiten Teilen als linksradikal zu bezeichnen – solidarisierte sich ebenfalls und zeigte sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten kooperativ mit einem linksradikalen Bündnis.

Im März 2019 verfassten diverse linksradikale Gruppierungen, Bündnisse und Initiativen aus Großbritannien und Deutschland einen offenen Brief an Extinction Rebellion, in dem sie eine weitreichendere Positionierung einforderten. (1) XR sollte insbesondere antikapitalistische und soziale Lösungen wie beispielsweise kostenlosen ÖPNV und kostenloses Wohnen einfordern, die wirtschaftliche Instanzen verstärkt für ihre Handlungen haftbar machen, z. B. einen Schuldenerlass für wirtschaftlich schwächere Länder, deren prekäre wirtschaftliche Situation auf die Ausnutzung von Großbritannien zurückzuführen sei. Am 10. Oktober bekräftigen die Gruppen in einem weiteren offenen Brief ihre Forderungen, weil eine Antwort von XR ausblieb. (5)

Extinction Rebellion ist auf maximales Wachstum ausgerichtet (wodurch genau das Wachstum erreicht werden soll, dazu mehr unter Punkt 3 und 4), eben darauf, Massen zu mobilisieren. Die Klimaproblematik ist zum einen jedoch längst in der Gesellschaft angekommen, zum anderen ist XR ziellos und mobilisiert AnhängerInnen für nichts Konkretes. Ist XR also eine Massenbewegung? XR könnte darin erfolgreich sein, Massen zu mobilisieren, doch sie initiiert keinen gesellschaftlichen und politischen Wandel, da dies bereits passiert ist (mag er aus linksradikaler Sicht bisher auch noch nicht konsequent genug vollzogen sein) und kann dies ohne Forderungen und Analyse auch gar nicht leisten. Aus diesem Grund ist XR erst einmal redundant. Selbst die geforderten und zum Teil auch durchgeführten BürgerInnenversammlungen führen nicht dazu, dass von XR-Gruppen weitergehende Forderungen gestellt werden. So sehr sich XR in Teilen auch als Initialzündung verkaufen will, so sehr ist diese Bewegung doch nur ein Symptom der Zeit.

 
 

2. Rechts? Links? Uns doch egal.

 

Wir sind offen für alle. Das Risiko des Einflusses rechter Ideologeme dabei ist gleichzeitig auch die Chance für einen stabilen linken Konsens. Es hängt eben daran, wer mitmacht.  …  Wer nicht da ist, fehlt.“

XR will für alle zugänglich sein „bis weit nach links“ – offensichtlich auch bis weit nach rechts. Perfiderweise wird in der obigen Aussage auch gleich noch Linken die Schuld gegeben, sollten Rechte bei XR das Ruder übernehmen. Ganz so, als könnte man von sich aus gar nichts dagegen machen. Aber XR selber äußert sich im XR-Handbuch ganz offen zum Thema Querfront:

„We need everyone to unite – from the left, the right, and every shade in between, and especially young people, many of whom are too disillusioned to vote or are excluded because they are only 16.“ (3)

„But we can’t get there if we work in silos and factions. We need a ‘movement of movements’ to model the unity and urgency we need right now.“ (3)

„Fourth, as we contemplate endings, our thoughts turn towards reconciliation: with our mistakes, with death and, some would add, with God. We can also seek to be part of reconciliations between peoples with different political persuasions, religions, nations, genders, classes and generations. Without this inner deep adaptation to climate collapse, we risk tearing societies apart.“ (4)

Damit hat man im zentralen Textdokument der Bewegung klargemacht, dass man hier eine spektrenübergreifende Einheitsfront schaffen will, unabhängig der politischen Ausrichtung. Auch an anderen Stellen im Handbuch lassen sich dahingehende Aussagen finden. Man will ganz unmissverständlich keine strikte Abgrenzung gegen Rechte vollziehen und gleichzeitig alle Personen in einen Diskurs über die zukünftige Gestaltung der Gesellschaft einbinden. Richtlinien gegen bestimmte Ansichten gibt es nicht und somit auch keine wirkliche Handhabe gegen Personen, die menschenverachtende Ideologien vertreten. Dies variiert allerdings von Gruppe zu Gruppe, dazu später mehr. Ein Blick in die Tierrechts- und Veganismusszene zeigt, wohin so etwas führen kann. Rassismus, Antisemitismus, Querfront und Menschenverachtung werden dort in weiten Teilen geduldet, geteilt und gefördert. Auch in Berlin zeigten sich während der Protestwoche im Oktober erste Resultate dieser angekündigten Querfront. Am Potsdamer Platz gab es „Heimatschutz“-Rufe aus der Blockade raus, was spätestens seit dem NPD-Slogan „Umweltschutz = Heimatschutz“ rechtsradikal besetzt ist. Auch ein Ex-NPDler und Bärgida-Demonstrant wurde gesichtet, ohne das er entschieden herausgedrängt wurde. (5) Der Teilnahme einer einzigen Person sollte man nicht übermäßige Bedeutung beimessen, allerdings gehören solche Vorfälle dokumentiert und den Verantwortlichen zur Kenntnis gebracht. Reaktionen darauf und mögliche weitere Vorfälle dieser Art liefern dann nach einer gewissen Zeit ein Gesamtbild ab, ob es sich um eine reale Querfront handelt und wie rechtsoffen XR dann tatsächlich ist.

XR hat auch nicht das geringste Interesse daran, sich gegen Nazis zu positionieren, nicht mal dann, wenn unmittelbar neben dem Camp eine rechte Veranstaltung von „Merkel-muss-weg“ stattfindet, die XR-Orga explizit darauf hingewiesen wird und darauf entgegnet, man sie würde zu „keinen anderen Aktionen aufrufen“. Da lässt man die Faschos lieber in Ruhe. Nicht, dass man sich aus Versehen noch zu weit links positioniert und dann nicht mehr „offen für alle“ sein könnte. (6)

 

3. Ideologische Schnittmengen mit rechtsradikalen Ideologien 

 

Die Abgrenzung zu allerlei Kackscheiße ist im Prinzip 6 formuliert. D.h. ganz klar: Rassisten u.ä. sind bei uns nicht willkommen, weil sie andere ausgrenzen und angreifen.“

Für eine gelungene Imagekonstruktion ein paar Sätze als Prinzip zusammenzufassen, reicht nicht, um sich von Rechten abzugrenzen. Eine Distanzierung darf sich nicht nur auf die Ablehnung rechter TeilnehmerInnen bei Veranstaltungen beschränken, sondern sollte das gesamte Selbstverständnis durchdringen. XR ist jedoch eine Struktur, die es geradezu anbietet, sie zu unterwandern, weil sie nur subtil und halbherzig das betreibt, was sie Abgrenzung nennt und stattdessen von namhaften Personen der Organisation, wie z. B. dem Co – Gründer Roger Hallam, in Bezug auf den Aktivismus seiner AnhängerInnen Äußerungen getätigt werden, die offen zur Querfront aufrufen. Wie bereits nachgewiesen, passiert dies auch im Handbuch von XR. Aber nicht nur personell, auch ideologisch gibt es bei XR programmatisch festgelegte Punkte, die die Bewegung für Rechte, insbesondere solche mit faschistischer Ideologie, attraktiv machen. Wichtig ist hierbei, dass es sich bei XR nicht um eine von sich aus rechtsradikale Bewegung handelt. Es geht hierbei um einige ideologische Schnittstellen, die die Bewegung für eine bestimmte Klientel interessant machen und dann mittel- bis langfristig durch die mangelnden Abgrenzungsmechanismen einen spürbaren Rechtsrutsch in einigen Gruppen und letztendlich der ganzen Bewegung verursachen können.

XR ist von Beginn auf einen maximalen Bewegungsfokus hin konzipiert worden. Vor dem Hintergrund, möglichst schnell wachsen zu wollen, wird betont, dass eine umfassende Analyse nicht notwendig sei. Ziel ist die Bewegung um der Bewegung willen. Dies wird mitunter als das Wichtigste bezeichnet. Eine mit wenigen bis gar keinen konkreten Inhalten versehene Bewegung um der Bewegung willen ist nicht neu. Im Gegenteil, dieser auf maximale Massenbewegung ausgelegte Charakter eines politischen Aktivismus, der das Alte hinwegfegen sollte, stellt eines der ideologischen Grundelemente des Faschismus dar. Genauer ausgeführt wird das unter anderem in Zveev Sternhells „Faschistische Ideologie“ (7), die Attraktivität des Faschismus lag aber unter anderem in seinem unbedingten Willen zum Handeln begründet. Aktion und Handeln werden der Analyse vorgezogen. Verdeutlicht wird dies gut durch die Worte Roger Hallems:

„To act and then come back and act again.
Again and again and again
Every day
Nothing is more important now than this
Nothing will be more important from now on“ (8)

Ebenfalls zentral in der von XR vertretenen Ideologie ist der Fatalismus, die apokalyptische Sicht auf die Welt und die Zukunft. XR propagiert Szenarien für die nahe Zukunft, die nicht wissenschaftlich fundiert sind und zum Beispiel den Zusammenbruch vieler Gesellschaften innerhalb der nächsten zehn Jahre vorhersagt. Dazu ein paar Zitate aus dem Handbuch:

„It’s only recently that voices such as that of British broadcaster Sir David Attenborough have talked of the collapse of civilizations and societies, or what food insecurity will mean for us, and for generations to come. In February 2019, Extinction Rebellion’s Roger Hallam put it bluntly: ‘War, mass mental breakdown, mass torture, mass rape.’“ (9)

„It is time to prepare, both emotionally and practically, for a disaster.“ (10)

„We should be preparing for a social collapse. By that I mean an uneven ending of our normal modes of sustenance, security, pleasure, identity, meaning and hope.“ (11)

„My guess is that, within ten years from now, a social collapse of some form will have occurred in the majority of countries around the world.“ (11)

Mehrfach spricht XR zudem davon, dass Milliarden Menschen sterben werden. Weder wird dafür ein konkreter Zeitraum genannt, noch stützen sich diese Zahlen auf seriöse Studien und Prognosen. XR selber argumentiert jedoch selten über das Jahr 2100 hinaus, in der Regel wird das Zeitfenster bis 2050 in den Veröffentlichungen zu verschiedenen Themen genannt. Wie genau man auf Milliarden Tote durch den Klimawandel innerhalb dieses Zeitfensters kommen will, wird nirgends ausgeführt und nachprüfbar aufgeschlüsselt. Stattdessen werden Szenarien aufgemacht, dass wir nur wenige Jahre haben, um den Untergang und die größtmögliche Katastrophe abzuwenden. Hier muss ganz klar unterschieden werden: Durch den Klimawandel gibt es die Möglichkeit, dass in 200 Jahren keine oder nur sehr wenige Menschen leben werden und sehr viele Tier- und Pflanzenarten ausgestorben sind. Darauf wird seit Jahrzehnten hingewiesen und XR liegt richtig damit, dass es bisher effektiv keine allumfassende Anstrengung gegeben hat, diese Möglichkeit zu bekämpfen. In der Art und Weise, wie XR dies allerdings propagiert, entbiert es zum einen bei aller gegebener Dringlichkeit der wissenschaftlichen Basis, zum anderen wird der Fatalismus der schrecklichen Zukunft als Gewissheit ins Zentrum des Denkens gestellt. Insebsondere Letzteres ist wissenschaftlich kein Konsens. Die fehlende Grundlage für diese Aussagen und Annahmen wird exemplarisch in einem Interview der BBC deutlich. Andrew Neil konfrontiert die XR-Aktivistin Zion Lights mit der Diskrepanz von XRs Angaben und der wissenschaftlichen Basis der Grundlagen, worauf Lights keine wirklichen Antworten liefern kann. Nachzusehen ist das Interview hier: https://www.youtube.com/watch?v=H3kJwQBZOkM. Auch im Podcast Aufhebunga Bunga wird der Alarmismus XRs dem wissenschaftlichen Diskurs kritisch gegenüber gestellt, Interessierte können sich den Podcast hier anhören: https://aufhebungabunga.podbean.com/e/91-exhaustion-revealing-ft-leigh-phillips/

Der Fatalismus, der drohende Untergang und der Zerfall des guten Alten sind ebenso wie der Fokus auf den Bewegungscharakter um der Bewegung willen zentral im faschistischen Denken. Hier geht freilich nicht die Erde unter. Es sind Volk, Nation, Kultur, Familie und weitere anachronistische Modelle und Konzepte, die kurz vor dem Untergang stehen. Das deutsche Volk ist schon seit 200 Jahren ganz unmittelbar kurz vor seiner endgültigen Auslöschung und jedes Jahr taucht irgendwo irgendein Rechtsradikaler auf und verkündet den Untergang innerhalb der nächsten Jahre, wenn man nicht jetzt sofort mit radikalsten Mitteln das Ruder rumreiße und das fast schon sichere Ende durch eine nationale Wiedergeburt abwende. Man kennt die Leier, man sollte aber auch die Parallelen zu der Art und Weise erkennen, wie XR die planetare Apokalypse propagiert. Das Abwenden des drohenden Untergangs ist in beiden Ideologien vorhanden und ein zentrales Moment. Hier besteht die Gefahr eines Andockens Rechtsradikaler an XR durch inhaltliche Gemeinsamkeiten, insbesondere wenn Rechte ihre klassischen Thematiken einer Art Greenwashing unterziehen und sprachlich modifizieren.

Hinzu kommt hier ein heutzutage nicht weithin bekannter Umstand, und zwar der der rechtsradikalen Ursprünge ökologischer und ökoesoterischer Bewegungen. Im Zuge der 100 Jahre Waldorfschule kam auch ein wenig das Schlaglicht auf dessen rassistische Lehre. Aber auch die Lebensreformbewegung, FKK und der Naturschutz haben Vorläufer und Anfänge im rechtsradikalen Denken, welche Teilweise bis in die Gegenaufklärung Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. (12) Die ideengeschichtliche Traditionslinie ist nicht sehr stark und die einflussreichsten ökologischen Organisationen in Europa sind nicht dem rechten Spektrum zuzuordnen. Wie aber bereits angedeutet, gibt es über die Tierrechts-, Veganismus- und Antispeziesismusszene eine breit aufgestellte Querfront mit teils stark esoterischen Einflüssen, in der sich auch Rechtsradikale relativ kritikfrei tummeln. (13) Sollte die radikale Rechte das Thema Klimawandel für sich entdecken und nicht wie die prominenten Beispiele AfD und Donald Trump ignorieren, ist eine Orga wie XR schlecht aufgestellt, diesem ideologischen Input etwas entgegenzusetzen bzw. sich effektiv abzugrenzen.

In Großbritannien wurde XR bereits Rassismus vorgeworfen, weil die AktivistInnen bei einer ihrer Protestveranstaltungen im April in London die Polizei aufgefordert haben, sich anstatt um sie als friedliche Protestierende, lieber um die „Messerkriminalität“, ein klar rassistisches Narrativ, zu kümmern. (14) Auch „Farhana Yamin von XR in England sagt zum Beispiel, auch Rechte seien bei XR willkommen. Hallam redet davon, dass auch rassistische und sexistische Menschen mitarbeiten können.“ (15)

 

4. Emotionalisierung und Opferpflicht

 

Starten wir diesen Absatz mit einem Zitat von Roger Hallam: „I think there is some generality in the idea that going to prison is a deeply emotional and spiritual experience because it exposes you to a different side of life and what it means to sacrifice yourself to a greater cause, and that is a powerful experience.“ (16) Knast als tiefe spirituelle Erfahrung? Opfer für eine größere Sache? Wer zuvor noch der Ansicht war, XR in die Nähe einer Sekte zu rücken, sei unverhältnismäßig, falsch oder gar bewusst diskreditierend, sollte jetzt eines Besseren belehrt worden sein. Dass AktivistInnen in den Knast gehen, wird nicht nur billigend in Kauf genommen. Es ist gewollt. Roger Hallam möchte so viele von ihnen wie möglich als MärtyrerInnen dort sehen, denn das ist die Taktik, die XR nutzt, um zu wachsen. Das ist auch der Grund, warum angsteinflößende Inhalte und Hoffnungslosigkeit vermittelt werden, denn die Menschen sollen aus Verzweiflung heraus agieren. So sagt es Hallam: „People go out and act because they’re desperate or outraged, and through the sacrifice of their transgressive action—the visual optics and the emotionality of it—other people are inspired to join in. For instance, after our action in April, and the 1,200 arrests, some 50,000 people joined Extinction Rebellion in the U.K. in three weeks. There’s no mobilization strategy that enables you to double in size in three weeks other than mass sacrificial action though breaking the law and getting dragged off. Social change is basically an emotional process. It’s not a cognitive process.“ (17) Auch das zeigt sich im Handbuch von XR immer wieder, wenn von „Widerstand durch Angst“ oder „Die Hoffnung stirbt“ die Rede ist. So sollen bei einem XR-Protest in GB junge DemonstrantInnen geweint haben, weil sie dachte, die gesamte Menschheit stirbt in den nächsten zehn Jahren. (18)

Auch in der Broschüre nimmt das Erspüren und Erfahren des Untergangs und der hilflosen Verzweiflung großen Raum ein:

Wir brauchen eine neue Sensibilität. Verlangt ist nämlich, dass wir die Katastrophe fühlen. Nur wer die Katastrophe fühlt, vermag sie zu erkennen. Das Problem ist jedoch, dass unser Fühlen mit der tödlichen Bedrohung nicht Schritt halten kann.“ (19)

Diese Sätze entstammen keinem Esoterik-Seminar, sondern der bereits erwähnten Broschüre von XR. Gefühle scheinen eine übergeordnete Funktion einzunehmen. Aus obiger Aussage, im Umkehrschluss betrachtet, ergibt sich die Logik, dass jemand, der nicht „die Katastrophe fühlt“, als TeilnehmerIn der öffentlichen Meinungsbildung exkludiert wird. Angesichts dessen, dass so oft von Gefühlen die Rede ist, diese in öffentlichen Massenmeditationen ausgedrückt und sogar als notwendige Bedingung für den Aktivismus vorausgesetzt werden, wird der Eindruck suggeriert, dass ausschließlich sie die Debatte und den Aktivismus bei XR bestimmen und dies auch so gewollt ist. Der Eindruck wird v. a. dadurch verstärkt, dass Argumente und Analysen wenig vorhanden sind. Gefühl ersetzt Argumentation. Emotionalität ersetzt Rationalität – und das im sogenannten postfaktischen Zeitalter in einer Welt voller gefühlter Wahrheiten. Insgesamt liest sich das Buch eher wie ein esoterischer Ratgeber. So wird auf der Hälfte von S. 30 über das Sterben sinniert, auf S. 36ff gibt es einen kleinen Exkurs zu Gandhi und Identität, in dem „Opferpflicht“ eine zentrale Bedingung ist, um den Kampf gegen den Klimawandel, wie er XR vorschwebt, anzuschließen. Auf S. 40f wird dies konkretisiert: „Gandhi vertrat die Ansicht, es sei immer der Drang nach Leben als Grundform des Eigeninteresses, der zu Gewalt und zum Tod anderer führe. Opferpflicht hingegen schütze Leben, eben weil sie es ignoriert.“ Gandhi  als Vorbild zeigt auch von einem mangelnden Verständnis dieser Person. Einen Rassisten, Antisemiten, Sexisten und jemand, der Hitler einen Freund nannte, als Leitfigur auszuwählen, ist für XR kein Problem. So scheint das sinnvolles Handeln von XR nur „möglich, wenn sie außerhalb der staatlichen Rhetorik von Rechten und Interessen die Rolle der Pflicht und des Opfers im gesellschaftlichen Leben ausweitet.“ (20) Auf Gandhi beruft XR nicht nur in Sachen Opferbereitschaft, er wird auch als Vorbild in Sachen gewaltfreier Widerstand immer wieder genannt. Warum man gerade auf Gandhi bei diesen Themen nicht hören sollte, verdeutlichen folgende Zitate:

„Hitler hat fünf Millionen Juden umgebracht. Er ist der größte Kriminelle unserer Zeit. Aber die Juden hätten sich der Gefahr ausliefern müssen. Sie hätten sich von allein ins Meer stürzen sollen, von einem Felsen runter… Das hätte die ganze Welt gegen das deutsche Volk aufgebracht… So sind – in jedem Fall – Millionen von ihnen zu Tode gekommen.“ (21)

„Ich halte Euch an, den Nazismus ohne Waffen zu bekämpfen. Oder um mich auf die Militärsprache zu beziehen: mit gewaltfreien Waffen. Legt die Waffen, die ihr tragt, nieder und laßt Euch davon überzeugen, daß Ihr selbst auf diese Art und Weise die Menschheit nicht retten könnt. Ladet Hitler und Mussolini ein, alles von Eurer schönen Insel zu nehmen, alles was immer sie wollen, alles Schöne und Großartige, was Eure Insel hergibt. Gebt ihnen das alles. Aber gebt Ihnen nie Eure Herzen und Eure Sinne. Wenn sie Eure Häuser besetzen wollen, verlaßt ihr die Häuser von alleine. Wenn sie Euch nicht rauslassen wollen, laßt Euch lieber zusammen mit Euren Freunden und Kindern umbringen, als Euch ihnen zu unterwerfen.“ (22)

Was will XR jetzt von Gandhi lernen? Sich per Massensuizid ins Meer stürzen, um so den Klimawandel zu stoppen und die ganze Welt aufzurütteln? Sich selbst gegen den schlimmsten Menschenfeind nicht zur Wehr setzen? Im Angesicht der härtesten Verbrechen keinen Finger zu krümmen, um auch ja friedlich zu bleiben? Machen wir es kurz: Wer Gandhi unkritisch als Vorbild in Sachen Protest nimmt, ist schlichtweg verantwortungslos und potentiell gefährlich für AktivistInnen. Auch das offizielle Handbuch liefert aussagekräftiges Material zum Thema Erfühlen des Untergangs:

„To come into knowing is to come into sorrow. A sorrow that arrives as a thud, deadening and fearful.

Sorrow is hard to bear. With sorrow comes grief and loss. Not easy feelings. Nor is guilt, nor fury, nor despair.

Climate sorrow, if I can call it that, opens up into wretched states of mind and heart. We can find it unbearable. Without even meaning to repress or split off our feelings, we do so. I am doing so now as I write. Staying with such feelings can be bruising and can make us feel helpless and despairing. It is hard, very hard, to stay with, and yet there is value in this if we can create contexts for doing so.

The feminist movement taught us that speaking with one another allows truths to enter in and be held together. In creating spaces to talk, we transformed our isolation and, although we have not focused our energy on issues of extinction, we need to do so now. We need to take that practice, to create spaces in which we can share how difficult this hurt is and how to deal with our despair and rage.“ (23)

Opferbereitschaft, gar Opferpflicht nehmen bei XR eine große Bedeutung ein. Der Begriff des Opfers, gar einer bedingungslosen Opferpflicht weckt keine Assoziationen an Klimaaktivimus, sondern eher mit der Selbstaufopferung für einen Gott oder ein Gesellschafts- und Politikkonstrukt, bei dem jenes in seiner Bedeutung priorisiert und dessen Interesse denen des Individuums rücksichtslos übergeordnet ist.

Neben dem offiziellen Handbuch „This is not a drill“, aus dem die meisten hier angeführten englischen Zitate stammen, gibt es ein von Extinction Rebellion Hannover herausgegebenes Buch namens „Hope Dies – Action Begins“. Diese Broschüre beginnt mit den Worten: „Dieses Buch ist ein XR-Buch! – Dieses Buch ist kein XR-Buch! In diesem Buch kommen vorwiegend XR-Aktivist*innen zu Wort, die XR-Forderungen, XR-Prinzipien & Werte und XR-Aktionen aus ihrer je eigenen Sichtweise deuten. Es ist also kein XR-Buch!“ (24) Natürlich ist es ein XR-Buch. Die Prinzipien von XR werden genannt und erläutert. Herausgegeben wurde das Buch von der Aktionsgruppe Hannover und natürlich hat diese als Herausgeberin Einfluss auf die Inhalte. Entsprechend muss sie sich die AutorInnenwahl und Zusammenstellung der Zitate zuschreiben lassen. Es können nicht einerseits Prinzipien und Ziele unter dem Gruppennamen publiziert werden und dann will die Gruppe damit nichts zu tun haben. Die Inhalte dieses Buches muss XR sich entsprechend zuschreiben lassen.

XR sieht sich und die Welt in einem Kriegszustand, „in einem Krieg gegen das Klima“, deshalb bleibe „schlicht keine Zeit mehr, demokratische Prozesse abzuwarten“ so Christina Marchand, XR-Aktivistin aus der Schweiz. (25) Extinction Rebellion propagiert zwar permanent Gewaltfreiheit, dafür werden jedoch in der Broschüre der Gruppe mit dem Titel „Wann wenn nicht wir*“ die Kernprinzipien der Gruppe in einer sehr martialischen Rhetorik ausgedrückt. Die „Ökonomie als Krieg gegen den Planeten“ ist es, die drastische Handlungsmaßnahmen erforderlich macht und der Opferpflicht zu einer der am höchsten priorisierten Handlungsmaximen macht. So soll man nicht vor „der heiligen Pflicht“ zurückschrecken, sich „körperlich in die Schusslinie zu begeben“ (26) Diese Rhetorik suggeriert, sogar den Tod, mindestens aber körperliche Verletzungen in Kauf zu nehmen.

Im XR-Handbuch steht zum Thema Opferbereitschaft: „Standing up for something infinitely bigger and more important than you. This is the self-sacrificial idea of arrest at the core of Extinction Rebellion’s strategy, and it gives you strength from within. Ancient values are overtly resurrected in this Easter rebellion in London: the values of chivalry and honour, faith in life and being in service to Our Lady, Notre Dame, Mother Earth, the mother on whom everything else depends. Everything. As both Notre Dames were burning.“ (27)

Der Pariser Ableger von XR nahm diese Handlungsanweisungen sehr ernst und zeigte sich bereit, diese wörtlich zu nehmen. Bei einer Demo am 12.10.2019 wurde ein Teil der DemonstrantInnen von der Polizei eingekesselt. Um den Kessel aufzulösen, drohten sie mit einem Sprung von der Brücke Pont de la Concorde in die Seine. Vielleicht wäre ein Sprung von der Brücke tödlich, vielleicht auch nicht. Sicher würde er Verletzungen nach sich ziehen, die u. U. irreparabel wären. (28) Ebenso  erklomm am 13.10.2019 ein XR-Aktivist die Spitze vom Louvre, als er ungesichert die Glaspyramide hochkletterte. (29)

Das Heroentum macht XR attraktiv in der postheroischen, pluralistischen Spaßgesellschaft, in der es vielen Menschen schwer fällt, ihrer Existenz einen Sinn zu geben. Man setzt seine Existenz für eine gemeinsame Sache ein, ist Teil einer großen Ganzen, hat ein gemeinsames Ziel, das verbindet. Heroentum und Opferbereitschaft sind reziprok zueinander, denn nur, wer bereit ist, Opfer zu bringen, kann zum/zur HeldIn werden, kann Bilder generieren, Bilder von Massenprotesten, Massenverhaftungen, vielleicht einem Massensuizid beim Sprung in den Fluss oder das ungesicherte Klettern in großen Höhen.

Bei XR und der Polizei als Gegenspieler, der sie zweifellos ist, wenn sie in der direkten Konfrontation bei Veranstaltungen auf der Straße das staatliche Gewaltmonopol durchsetzt, mag XR auch noch so oft beteuern, die Staatsmacht als Verbündeten zu sehen, verfügt eben über Befugnisse, denen den DemonstrantInnen gesetzlich nicht zustehen. Die vorliegende Asymmetrie an Befugnissen und Kompetenzen wird mittels Opferbereitschaft kompensiert. Diese ermöglicht XR „Maßnahmen“, wenn man so will, die die Polizei nicht hat. Die Bindekraft ethischer Normen und rechtlicher Regeln ist an symmetrische Konstellationen gebunden. Schwinden diese, löst sich die Bereitschaft zu Regel- und Normkonformität auf.

Einschub: Europäische Länder des Nordens, besonders Deutschland, haben nach zwei Weltkriegen postheroische Gesellschaften herausgebildet. Terrorismus stellt heute eine der größten Herausforderungen postheroischer Gesellschaften dar. Ein Mittel, mit dem AnhängerInnen terroristischer Gruppierungen arbeiten, ist die Selbstopferung, das Maximum, das jemand in einer heroischen Gemeinschaft von sich geben kann. (30)

Natürlich könnte man jetzt sagen, XR ist noch eine sehr junge Organisation. Welche Entwicklungen sie konkret durchläuft, sei noch nicht vollständig abzusehen. Die genannten Punkte sind jedoch so stark ausgeprägt und bilden die Grundsätze von XR, dass darauf zwangsläufig eine breite Querfront folgen muss.

 

 

5. Tiefenökologie und Ökoesoterik

 

„Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische.“

Der Fokus auf Fatalismus und Emotionalität kommt nicht von ungefähr. Von Beginn an durchziehen Veröffentlichungen von Extinction Rebellion esoterische Formulierungen und im Laufe der Recherche drängte sich immer weiter der Verdacht auf, dass XR auf tiefenökologischen Prinzipien fußt. Mehrfach wurden Workshops für Tiefenökologie angeboten (31) und es existieren in mehr oder weniger allen lokalen Ablegern Chatgruppen mit ökoesoterischem Fokus. Zur Verdeutlichung hier die Kurzbeschreibung der Seite www.tiefenoekologie.de:

„Den Herausforderungen dieser Zeit, wie Klimaveränderung, Artensterben, weltweite Ungerechtigkeit, Kriege, Hunger etc. fühlen sich zunehmend viele Menschen nicht gewachsen und reagieren mit Ohnmacht oder sich überfordernden Aktivismus. Tiefenökologie bietet einen Raum, diese Gefühle nicht zu verdrängen, sondern sie zu benennen, zu spüren und die Erfahrung zu machen, dass Du daran nicht zerbrichst, sondern Kraft gewinnst. Das Wichtigste an dieser Arbeit ist, dass unser Wissen erfahrbar wird, Herz und Verstand in Verbindung sind und wir so zum Handeln kommen, aus uns selbst heraus, mit einem neuen Bewusstsein, dem Bewusstsein für das Ganze! Das lässt uns die Verantwortung übernehmen, für uns selbst und für das, was in der Welt geschieht. Tiefenökologie kann von der Ohnmacht zum Handeln führen. Durch Übungen und ebenso durch kognitive Inhalte der Zusammenhänge wird dieser Prozess erfahrbar.“

Bei Tiefenökologie handelt es sich entgegen der Namensimplikation nicht um eine wissenschaftlich fundierte Methodik. Tiefenökologie ist dem Bereich der Esoterik zuzordnen, also dem Bereich der spirituellen Religionsideologien. So sehr man sich nach außen hin immer wieder auf die Wissenschaft beruft und auf sie verweist, so wenig hat Tiefenökologie mit Wissenschaftlichkeit zu tun – so wie sämtliche esoterischen Strömungen von Astrologie bis hin zu Anthroposophie. (32) Esoterik ist auch ein sehr querfrontanfälliges Feld, was von Holocaustleugnung über rechtsgerichteten Neopaganismus (prominentes Beispiel wäre hier der Terrordruide Burghard Bangert) bis hin zu Anarchoprimitivismus alles beinhalten kann. XR ist durchsetzt mit Ökoesoterik, also der Anbetung der Natur, des Natürlichen und der Mutter Erde.

Tiefenökologie ist zudem von sich aus schon eine Querfrontideologie, die streckenweise offen fremdenfeindlich und reaktionär daherkommt. Der Begründer Naess bezeichnete Migration als „ökologischen Stress“ und fokussierte sich stark auf Bevölkerungsreduktion als Mittel zur Rettung der Erde. Dabei handelt es sich um einen klassischen rechten Zugang zu Umweltfragen. So findet sich auch im Manifest des Christchurchattentäters ein Verweis auf die notwendige Reduktion der Bevölkerung zur Lösung der Klimafrage. Tiefenökologie wird auch detaillierter in Peter Bierls „Grüne Braune“ beschrieben. in diesem Buch wird auch auf Earth First verwiesen, eine mitunter offen menschenfeindliche Gruppierung im Bereich des Antispeziesismus. (33) Laut Aussage von XR entstammen einige der Gründungsmitglieder dem Earth First-Umfeld und Earth First hat in den 80ern tiefenökologisches Denken übernommen. (32) (34) Auch wird in der Tiefenökologie immer wieder ein Fokus auf angebliche Überbevölkerung und Bevölkerungsreduktion gelegt, wobei es sich um einen vor allem im rechten Spektrum populären Ansatz handelt, möglichen ökologischen Problemen zu begegnen. (35)

 
 

6. XR – eine Firmenstruktur

 

Unsere dezentrale Orgastruktur ist das Gegenteil davon. [..]Sowohl XR UK als auch International haben Maßnahmen ergriffen, um die Herausbildung von Führungspersonen zu hemmen. Wir sind und bleiben dezentral.“

XR war nie dezentral. Auch die Entwicklung als Graswurzelbewegung ist ein Märchen. XR ist vielmehr ähnlich einer Firma aufgebaut und wurde entsprechend einer PR-Kampagne aufgezogen. Auf älteren Webseiten wurde in ähnlichem Wortlaut schon vor Jahren der Versuch gemacht, XR ins Leben zu rufen. Logo und Designs sind mit einem Copyright belegt. (36) „In England wurde im Frühjahr „XR Business“ gegründet, eine enge offizielle Kooperation mit rund zwei Dutzend Firmen und Konzernen wie Unilever oder The Body Shop. Die Kooperation bekam das XR-Logo und hatte eine Website. Nach Protesten wurden Website und Logo zurückgezogen. Aber die führenden Leute betonten im gleichen Atemzug, dass sie mit diesen und weiteren Konzernen auch in Zukunft eng zusammenarbeiten wollen. Da geht es auch um die Modernisierung des Kapitalismus: wie macht man die Klimakatastrophe zur Geschäftsgrundlage? „Extinction Rebellion“ soll die dazu passende manipulierbare Bewegung werden, die die öffentliche Meinung gefühlig beeinflusst.“, so formulierte es Jutta Dittfurth. (37)

Alle Ortsgruppen arbeiten unter Rückkopplung auf die „Mutterorganisation“. Ein Starterkit soll neuen Gruppen helfen, sich so zu strukturieren, damit sie sich in das Gesamtkonstrukt der Organisation eingliedern können. Inzwischen gibt es jedoch merkliche Differenzen um die allgemeine Ausrichtung von XR allgemein und zu bestimmten Aktionen.

 

7. Aufbau und Kritikabwehr

 

XR verweist immer wieder darauf, dass die einzelnen Ortsgruppen relativ autonom voneinander sind und unabhängig voneinander arbeiten. Dies ist unseren Recherchen nach tatsächlich so. Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit verdeutlichen dies. Zum einen hat XR Scotland sich in einem längeren Statement gegen die Copkuschelei gestellt und offen Kritik an bestimmten Praktiken und Verlautbarungen anderer XR-Gruppen geäußert.(38) Zum anderen hat in London eine kleine Gruppe von Aktivist*innen den Berufsverkehr gestört und den U-Bahnverkehr blockiert Dies geschah entgegen des Ergebnisses einer Abstimmung innerhalb von XR und ohne Unterstützung anderer Gruppen. Die Aktion wurde später dann aber halb verteidigt und weitere Aktionen dieser Art als möglich dargestellt. Verantwortung übernehmen wollte aber niemand, man verwies auf die autonome Struktur. (39) Und dieses Muster ist eines, welches sich durch sämtliche Debatten über XR zieht. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass man ja selber nicht dafür verantwortlich sei, es eine Gruppe war und man das bloß nicht auf XR verallgemeinern solle.

Dabei handelt es sich unserer Ansicht nach um eine bewusste Diskurstaktik. Es gibt Videos, in denen Roger Hallam darüber referiert, wie man eine soziale Bewegung vor zu viel Kritik von links bewahrt und das Momentum nicht verlangsamt. (40) Dadurch, dass man die Verantwortlichkeit für XR Einzelpersonen und lokalen Gruppen zuschiebt, ohne als Gesamtheit Verantwortung zu übernehmen, versucht man Kritik ins Leere laufen zu lassen. Die Autonomie der einzelnen Gruppen ist aber nur teilweise gegeben. Mit den drei Forderungen und den zehn Regeln hat XR eine Form der abstrakten Herrschaft installiert. Man beruft sich auf diese Regeln, um unerwünschte Meinungen und Personen auf Linie zu bringen oder auszuschließen. Dabei ist das Kernteam von XR strategisch ziemlich klug vorgegangen, da man mit dem Corporate Design und den Regeln einen Blueprint geschaffen hat, der ziemlich inhaltsgleiche Gruppen an unterschiedlichsten Orten entstehen lässt. Insbesondere der Verweis auf absolute Gewaltfreiheit und gewaltfreie Kommunikation ermöglicht es, innerhalb von Gruppen Diskussionen zu unterbinden. Wie uns berichtet wurde, kann auch das Hinterfragen der Regeln zum Ausschluss führen. Bei der Blockadeaktion in Berlin ist das Orgateam herumgelaufen und hat Personen darauf hingewiesen, dass antikapitalistische Parolen nicht erwünscht wären und gegen den Konsens verstießen. Ebenso soll bei der Räumung einer Blockade ein „Wir sind friedlich, was seid ihr?“ unterbunden worden sein, da man dies als Aggression gegen die Polizei werte und es nicht dem Konsens entspricht. Die Verantwortung dafür übernimmt dann wieder niemand persönlich, da man – große Überraschung – die Regeln verschiebt. So schafft man ein sich selbst aufrechterhaltendes und reproduzierendes System der Kritikabwehr, welches XR als Ganzes nicht in Frage stellt und XR seinerseits als Gesamtes kaum Verantwortung für Einzelgruppen und Personen übernimmt, die im Namen von XR agieren.

 

8. Eine politische Wende, die keine ist

 

Wir müssen und wollen keine Rezepte vorlegen. Wir berufen uns auf die Erkenntnisse der Klimawissenschaft und erkennen an, dass bereits sehr diverse Lösungsideen existieren – technologische, wirtschaftliche und politische. […] D.h. wir setzen in der Tat auf eine Wende innerhalb des bestehenden parlamentarischen Systems. Wir fordern eine Ergänzung dieses Systems und auch, die nötigen Änderungen gemeinwohlorientiert umzusetzen. Das Wie bestimmen aber nicht wir, darüber sollen mehr Menschen entscheiden.“

Weder Rezepte vorzulegen, noch etwas zu fordern, unterstreicht einmal mehr die in Punkt 3 genannte Inhaltsleere, die als faschistisches Merkmal klassifiziert, dem blinden Aktivismus zugrunde liegt.

Anstelle von Forderungen sind bei den Veranstaltungen von XR Schilder zu lesen mit Aufschriften wie „Love the Planet“, „Jetzt handeln“, „This is an Emergency“ oder „Sagt die Wahrheit“. (41) (42) Letzterer Slogan ist auch in der XR-Broschüre wiederzufinden. Wahrheit ist ein normativer Begriff, der auch hier erst einmal mit Inhalt gefüllt werden muss. Hinzu kommt, dass eine Portion Skepsis mehr als angebracht wäre, wenn eine Gruppe nur sich selbst einen absoluten Wahrheitsanspruch zugesteht, was automatisch ein Schwarz-Weiß-Denken impliziert.

Die Forderung, falls man dies so nennen möchte, „eine von ExpertInnen beratene BürgerInnenversammlung, die von der Regierung legitimiert ist“, zu installieren, klingt zunächst ganz nett, klingt nach einer weiteren Partizipationsmöglichkeit in der repräsentativen Demokratie, ist aber bei näherer Betrachtung mit einem schalen Beigeschmack zu genießen:

Diese BürgerInnenversammlung wird nämlich eine Art Parallelparlament. Im parlamentarischen System stehen die Institutionen in einem interdependenten Verhältnis zueinander, kontrollieren und legitimieren sich wechselseitig. Das Parlament, hätte es die BürgerInnenversammlung einmal legitimiert, wäre zwangsläufig an deren Entscheidungen gebunden. Die Mitglieder dieser Instanz sollen repräsentativ sein anhand der Parameter Alter, Geschlecht, Bildungsniveau und sozio-kultureller Zugehörigkeit (wäre auch interessant, zu wissen, nach welchen Kriterien diese „sozio-kulturelle Zugehörigkeit erfasst wird und von wem. Vielleicht könnte man dazu noch was schreiben?) nach einem Zufallsprinzip, einem sogenannten „minipopulus“ festgelegt werden. (43)  Wie genau der Entscheidungsprozess für eine Mitgliedschaft in dieser BürgerInnenversammlung aussieht, bleibt offen. Für wie lange diese neuen politischen EntscheidungsträgerInnen bestimmt werden, bleibt ungewiss. Wenn XR mit ihrer Inhaltsleere konfrontiert wird, findet i. d. R. ein Verweis  darauf statt, dass es ja bereits genug Forschungsergebnisse zum Thema gäbe, woraus sich Handlungsoptionen ableiten ließen, nichtsdestotrotz sollten ihrer Auffassung nach keine WissenschaftlerInnen die Grundlage für politische Entscheidungen zum Klima bieten, sondern Laien. Die Kompetenzen und v. a. damit einhergehende Grenzen einer solchen Instanz sind nicht – wie könnte es auch anders sein – von XR nicht näher definiert. Zudem soll die BürgerInnenversammlung ausdrücklich von Laien gebildet werden. Aber wie sollen Menschen ohne die klima-fachlichen Hintergründe zu sinnvollen Entscheidungen über das Wohl des Planeten kommen?

Auf S. 33ff in der Broschüre von Extinction Rebellion unterstellt die Gruppe politischen EntscheidungsträgerInnen potenziell, einen ausgerufenen Klimanotstand per se zu unterlaufen, was neben den BürgerInnenversammlungen auf nationaler Ebene auch EinwohnerInnenversammlungen auf kommunaler Ebene erfordern würde. Auf diese Weise wird der von der Bevölkerung legitimierten Regierung per se ein Handeln wider den Bevölkerungsinteressen unterstellt. 

Nichtsdestotrotz fordern sie die Ausrufung des Klimanotstands, auch wenn dies ohnehin keine rechtsbindende Wirkung entfaltet.

Des Weiteren steht da: „Politiker*innen sind zudem dem Einfluss von Lobbyist*innen ausgesetzt. Dagegen sind Bürger*innenversammlungen ein kritisches Korrektiv. Sie erinnern die Regierungspolitik daran, dass Ordnungen erstarren und das Gemeinwohl aus dem Blick verlieren können, wenn sie nicht immer wieder verflüssigt werden, und zwar durch Veränderungen, die von Bürger*innen eingefordert werden.“ (44) Hier sollen politischen Institutionen und parlamentarische Strukturen ausgehöhlt werden und sich einer BürgerInnenversammlung unterordnen, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Ihre einzige Leitlinie ist, dass sämtliche ihrer Entscheidungen und ihr Handeln mit den Leitlinien von XR konform gehen müssen. Demokratische Prinzipien wie z. B. die Gewaltenteilung und die Verantwortlichkeit der Regierung würden damit außer Kraft gesetzt. 

Auf S. 34  bestätigt XR dies dann mit den Worten: „XR steht für die Erkenntnis, dass eine neue Klimapolitik nicht ohne neue politische Beteiligungsstrukturen möglich sein wird.“ Dass die Systemfrage nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch gestellt werden kann, steht aus linksradikaler Sicht außer Frage, doch bestimmt nicht durch die Ergänzung einer zusätzlichen Instanz, die nur XR untersteht, in ihrer Struktur und Wirkmacht nicht richtig durchdacht ist und sich jeglicher Wahl und Kontrolle entziehen kann.

 
 

9. Zusanmenfassung

 

XR hat das Potenzial, eine Massenbewegung zu werden, aber sie bleibt in ihren Zielen unkonkret und damit redundant gegenüber anderen Organisationen.
XR hat rechte Tendenzen bzw. ist zumindest rechtsoffen.
XR positioniert sich nicht ausreichend gegen Sexismus und Rassismus in konkreten Situationen.
XR schürt Ängste, emotionalisiert und verweigert bewusst einen rationalen Diskurs.
XR ist eine esoterische Organisation und wird das bleiben.
XR wurde von Beginn einer PR-Kampagne mit firmenähnlicher Struktur konzipiert und ist keine Graswurzelbewegung.
XR ist von Beginn an auf Kritikabwehr hin ausgelegt worden.
XR stellt unzureichende Forderungen und will keine Verantwortung übernehmen

Weitere Punkte wie z. B. der fahrlässige Umgang mit den Daten der AktivistInnen, die Anbiederung an die Polizei, die Entsolidarisierung von anderen KlimaaktivistInnen, die im ersten Text schon thematisiert wurden, kommen hinzu.

XR kann die Klimabewegung spalten, denn anstatt den Kapitalismus abzuschaffen, wird die Gruppe in ihn eingebettet.

 

 
[Sophie Rot; Laura Stern]
 
 
Quellen:
    
Hinweis: In der uns vorliegenden PDF des XR-Handbuchs sind die Seitenzahlen nicht immer korrekt formatiert, weshalb auch das Kapitel mitangegeben ist.
 
    (3)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 1 S. 23 
    (4)  ebd. Kapitel 11 S. 81
    (7)  Sternhell, Zeev (2019): Faschistische Ideologie. Eine Einführung; Verbrecher Verlag
    (9)  This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook Kapitel 10 S. 72
    (10)  ebd. Kapitel 11 S. 75
    (11) ebd. Kapitel 11 S. 77
    (12) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag
    (13) Mira Landwehr: Vier Beine gut, zwei Beine schlecht Zum Zusammenhang von Tierliebe und Menschenhass in der veganen Tierrechtsbewegung, konkret texte 77 (2019)
    (17) ebd.
    (20) ebd. S 45
    (21) Fischer, Louis (1950): The life of Mahatma Gandhi; Harper Collins Paperbacks; S. 348 (übersetzt) 
    (22) Wolpert, Stanley (2002): Gandhi’s Passion: The Life and Legacy of Mahatma Gandhi; Oxford University Press, S. 197 (übersetzt)
    (23) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 9 S. 68
    (26) ebd.
    (27) This Is Not A Drill: An Extinction Rebellion Handbook; Kapitel 13 S.98
    (30) Münkler, Herfried: Kriegssplitter, Kapitel 1, Abschnitt 7: Heroische und postheroische Gesellschaften
    (32) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 67ff
    (35) Bierl, Peter (2014): Grüne Braune Umwelt-, Tier- und Heimatschutz von Rechts; Unrast Verlag; S. 30ff
    (44) ebd.