Am 16. Mai 2020 wurde bei den Protesten gegen die vermeintliche Coronadiktatur eine neue Flugzeitschrift verteilt. Diese wird von „Demokratischer Widerstand“ herausgegeben und ist bereits Nummer 5. Diese Gruppe war bereits beim allerersten Protesten am Rosa-Luxemburg-Platz präsent und hat zur Teilnahme aufgerufen. Nach eigenen Angaben hat man jetzt diese 16-seitige Zeitung in einer Auflage von 500.000 (einer halben Million) drucken lassen. Die Zeitung erscheint seit dem 17. April grob im Wochenabstand und ist nach eigener Aussage mit einer Auflage von 100.000 gestartet. Woher das Geld dafür stammt, ist nicht ersichtlich. Hinter der Gruppe „Demokratischer Widerstand“ steckt federführend Anselm Lenz, welcher auch als erster Name auf dem Titelblatt genannt wird und den ersten Text beisteuert. Lenz hat eine illustre Karriere hinter sich und unter anderem für die taz und Die Welt geschrieben. Länger hat auch für die Junge Welt gearbeitet, dort ein Jahr als Redakteur im Inlandsressort. Der letzte Artikel für die taz ist vom 12.3.2020. Eine gute Darstellung seiner Vita ist diesem taz-Artikel zu entnehmen, die freie Tätigkeit dürfte beendet sein: https://taz.de/Selbstvermarkter-Anselm-Lenz/!5681197/ Interessanterweise hat Lenz noch in einem am 09.07.2017 veröffentlichten Interview mit Thilo Jung Aussagen getroffen, die eine verschwörungsfreie Analyse des Kapitalismus liefern und einen Text von Walter Benjamin empfohlen.
Die Zeitung selber wartet mit den üblichen Topoi auf, die man von den Schwurbeldemos heutzutage kennt. Lenz schreibt in seinem kurzen Einleitungstext:
„Es begann damit, dass Menschen wie du und ich Grundgesetze verteilen wollten. Unseren liberalen und überparteilichen Verfassungstext.
Seither schreibt ein fanatisiertes Kartell aus Regierungsfunktionären, Medien- und Konzernjunta eine Bedrohung von rechts- und linksaußen herbei. Die abstürzenden Machthaber deren Speichellecker fühlen sich in ihrem Burgfrieden, weil wir, die Leute, etwas wollen.“
Damit ist dann auch der Einstand in die weiteren Inhalte der Zeitung geliefert. Man zieht den wissenschaftlichen Forschungsstand in Zweifel, stellt Forderungen an Bill Gates, stellt sich als liberal und freiheitsliebend dar, schimpft über das diktatorische Regime, will die Leitmedien kontrollieren, ein Krisenmacher vor ein Corona-Tribunal stellen, was gegen die Machtgeilen unternehmen und ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen. Insgesamt stellt sich das Machwerk als unausgegorenes Zusammenwürfeln jeder Menge regressiver Bauchgefühle von Personen dar, die kaum in der Lage sind, dass politische Geschehen adäquat zu analysieren und zu beschreiben. So wird zum Beispiel mit den Todeszahlen in Deutschland argumentiert, die keine Auffälligkeit im Vergleich zu den Vorjahren aufweist. Dies ist auch richtig, allerdings ist die Sterblichkeit in den stark betroffenen Regionen Frankreichs, Italiens, Spaniens und in den USA weit höher als sonst. Der State of New York hat jetzt bereits eine höhere Todesquote auf die Gesamtbevölkerung als durch die saisonale Grippe.
Das Wahngebilde der gesteuerten und kontrollierten Mehrheit zieht sich durch das ganze Blatt. In einem Artikel wird jetzt schon eine mögliche zweite Corona-Welle als Fake bezeichnet. Immer wieder wird den Medien unterstellt, massiv gesteuert zu werden und bewusst Falschnachrichten im Sinne der Politik zu verbreiten, um damit der Bevölkerung gegenüber die Maßnahmen zu rechtfertigen. Auf der anderen Seite schreibt man sich selber auf die Fahnen: „In der Zwischenzeit spielt die undemokratische Regierung mit der Zwangsimpfung. Der Widerstand konnte dies abwenden.“ Auch gegen die Pharmaindustrie wird geschossen und in einem längeren Artikel werden unterschiedliche Menschenexperimente aus den letzten über 100 Jahren zusammengewürfelt und letztendlich das Bild von Big Pharma an die Wand geworfen und mit Bill Gates in Verbindung gesetzt. An diesen und seine Frau werden in Form der Stiftung dann auch Forderungen gestellt, die sich in das übliche Gewäsch aus verdummter Gesellschaftskritik und Begriffsumdeutungen einfügen.
Ebenso wird ein längerer Artikel dem Banken- und Zinssystem gewidmet und dieses grundlegend kritisiert. Dabei wird vor allem auf Zinsen und die Blasenökonomie eingegangen und das ist auch nicht alles grundfalsch. Im Zusammenhang mit dem Zielen auf die Pharmaindustrie, die USA, das Medien- und Konzernkartell und die Regierungsdiktatur Merkel skizziert man hier aber eine Version der durch die „Protokolle der Weisen von Zion“ popularisierten Version der (letztendlich jüdischen) Weltverschwörung. Abgerundet wird das Blatt durch Demoberichte aus dem Land und einem Leak aus dem Bundesinnenministerium. Auf dem rechten Portal Rubikon findet sich ein Papier, welches von einem Beamten des Bundesinnenministeriums erstellt worden sei und geleaked wurde. Dieses Papier dient als Kronzeugenpapier, da alle Maßnahmen als vollkommen überzogen und die Gefahr von Corona als maßlos übertrieben dargestellt werden. Die Existenz eines solchen Papiers ist nicht unwahrscheinlich, da es dutzende Papiere zu einer Situation wie Corona innerhalb der Ministerien und Behörden gibt.
Im Gesamteindruck hinterlässt diese Zeitung den zu erwartenden Eindruck. Die bekannten Thematiken der Coronaproteste werden mit teilweise lachhafter Argumentation und Schreibe aufbereitet. Dabei liegt nicht der Extremfall vor, wie ihn ein Attila Hildmann darstellt. Vielmehr liest es sich wie eine Version von Ken Jebsen auf Valium und folgt auch genau dessen Linie und Herleitungen. Aus antifaschistischer Sicht sollte man sich möglichst vieler dieser Zeitungen habhaft werden und sie möglichst schnell dem Altpapierkreislauf zuführen.
Die aktuelle Aktion macht wieder einmal Schlagzeilen und wird auch von Linken durchaus gut bewertet. Im Gegensatz zu vorherigen Aktionen ist das negative Echo dieses Mal aber deutlicher. Dies verwundert nicht, handelt es sich hier doch (erneut) um eine Instrumentalisierung des Holocausts ohne Einbindung der Opfer, deren Angehöriger und Interessenvertretungen. Ähnliches wurde bereits in abgeschwächter Form mit der Aktion bei Höcke mit den auf dem Nachbargrundstück platzierten Kopien der Stelen vom Holocaustmahnmal. Auch damals waren keine Opferinteressen in die Planung involviert, der Holocaust in Form seiner bundesdeutschen Gedenkpraxis (die man auch in vielen Punkten kritisch sehen muss) ist wieder nur ein Mittel zum Zweck, genutzt nach Belieben von Deutschen.
Hier wird damit kokettiert, Asche von Holocaustopfern in der Nähe des Reichstags platziert zu haben. Dazu hat man angeblich Bodenproben von diversen Stellen entnommen und testen lassen, um Holocaustüberreste nachzuweisen. Richtig ist, dass der Punkt der Weiterverwendung oder Entsorgung der menschlichen Überreste öffentich nicht bekannt ist und nicht verhandelt wurde. Ginge es dem ZPS aber darum, auf diesen Fehlstand hinzuweisen, hätte es beim Zentralrat der Juden, beim Auschwitzkomitee und in Yad Vashem angefragt, wie man zusammen darauf aufmerksam machen kann. Ohne Störung der Totenruhe, ohne über die Opfer hinweg zu entscheiden und ohne die Nachfahren mit so einer Aktion zu brüskieren. Denn beim Holocaust geht es um die Juden als Opfergruppe, die nichts zu entscheiden hatten. Deshalb sollte man ihnen zumindest heute die Möglichkeit der Mitgestaltung einräumen und nicht gegen ihren Sinn agieren. Wenn man es schafft, bei Götz Aly und Lea Rosch zu fragen, dann sollte man es auch schaffen, den Zentralrat der Juden und das Auschwitzkomitee zu fragen. Dabei hat das ZPS sowohl bei den Stelen für Höcke als auch jetzt kläglich versagt. Das hat das ZPS inzwischen auch selber einsehen müssen und sah sich gezwungen, eine Entschuldigung abzugeben.
Wiederaufarbeitung darf gerade bei den Verbrechen der Nazizeit nicht GEGEN die Opfer und ihre Angehörigen passieren. Hier haben die Nachfahren der Täter und Täterinnen schön die Füße stillzuhalten und müssen dann auch mal in den sauren Apfel beißen und hinnehmen, wenn ihre Vorstellungen NICHT als maßgeblich betrachtet werden. Für das ZPS mag das dann bedeuten, dass eine Aktion möglicherweise weniger schlagzeilenträchtig ist. Daher stellt sich nun die Frage, worum es dem ZPS im Kern geht. Ist das Aufsehen das Ziel, die Kunst nach eigenem Willen umzusetzen? Geht es um das Erreichen eines politischen Ziels um jeden Preis? Oder will man sich ernsthaft inhaltlich mit einem Thema auseinandersetzen und dieses möglichst nachhaltig bearbeiten?
Das es um das Aufsehen geht, dafür sprechen die behandelten Themen und die gewählten Aktionsformen und -orte. Auch die Darstellung der vergangenen Aktionen auf der Homepage spricht dafür, da sie insbesondere die Reaktionen von Presse, Staat und Gesellschaft ins Zentrum rückt. Um das Erreichen konkreter politischer Ziele jenseits von Aufregern und einer Woche medialer Debatte geht es nicht, denn was genau hat das ZPS erreicht? Dafür, das konkrete Forderungen gestellt werden, hat man keine einzige konkrete Durchsetzung von irgendwas im Kopf, zumindest sind diese nicht ersichtlich bzw. werden in den Handlungen nicht als primäres Ziel kenntlich. Und um in den jeweiligen Aktionsfeldern nachhaltige Aktionen geht es ganz offensichtlich auch nicht. Eigeninszenierung ist das Ziel, Skandalisierung das Mittel.
Hier wurde bereits das Brüskieren der Holocaustopfer und ihrer Angehörigen angesprochen. Aber auch andere Aktionen zeugen nicht davon, dass man sich mit anderen AkteurInnen verständigt. Nehmen wir die Aktion Soko Chemnitz. Mit einer Hoax-Seite tat man so, als wolle man jetzt erstmalig die Nazis identifizieren und anprangern. Angeblich sammelte man dann die Suchergebnisse in der Website und kam so an die Daten von Rechten. Was nirgends während und nach dieser Aktion zur Sprache kam, ist, dass es zig Leute gibt, die ihre Aufgabe in der Nazirecherche sehen und daran arbeiten, Personen, Gruppen und Zusammenhänge zu identifizieren. Rechercheteams gibt es in jeder Region und sie sind ein wichtiger Teil antifaschistischen Aktivismus. Das ZPS hat aber nicht nur nicht auf tatsächliche Recherchetätigkeit verwiesen, es hat die Daten auch noch an die Polizei gegeben:
„“Soko Chemnitz“ leitete den Datenschatz des rechtsextremen Netzwerks mit allen relevanten Daten (Namen, IP-Adresse, Suchbegriffe, automatische Gewichtung) für die weiteren Ermittlungen an den Staat in Form der Polizei Sachsen, dem Bundesinnenministerium und dem LKA 532 Berlin (Staatsschutz Abteilung rechtsmotivierte Kriminalität) weiter. Als nicht relevant eingestufte Suchanfragen wurden direkt nach der Eingabe gelöscht.“
Anstatt mit den Daten tatsächliche Antifaarbeit zu unterstützen, kooperiert man mit den Behörden, die insbesondere in Sachsen mit Rechten durchsetzt sind. Wer ersthaft Vertrauen in Polizei und Verfassungsschutz hat, muss seit Jahrzehnten blind sein. Und man kooperiert mit den Behörden, die konsequente Antifaarbeit behindern und verfolgen. Das ZPS hat, faktisch gesehen, echter Antifaarbeit keinen Millimeter geholfen und stattdessen sich so inszeniert, dass es jetzt mal den Nazis so richtig an den Kragen zu ginge. Auf der Seite wird zudem stolz gezeigt, dass ein Arbeitgeber eine Person gekündigt hätte und es eine Anzeige wegen eines Hitlergrußes gab, die von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde. Beides sind keine Resultate, mit denen man sich sonderlich brüsten müsste. So etwas machen Menschen privat jeden einzelnen Tag. Wenn man seinen Aktionen aber den Anstrich von praktischer Relevanz geben will, muss man das vermutlich derart reißerisch präsentieren.
Alles in allem ergibt sich nach einigen Jahren anhand der Aktionen des ZPS das Gesamtbild, dass es hier vor allem um die Lautstärke geht, nicht um den Inhalt. Wie wenig man sich mit politischen Inhalten auseinandersetzt, zeigt die Einordnung der Aktionen gegen Rechts in die Kategorie „Widerstand gegen den Totalitarismus“. Damit bedient man sich eines der Begriffe, die symptomatisch für die deutsche Schuldabwehr nach Ende des Naziregimes stehen und mit dem darin enthaltenen Antikommunismus als weltanschaulichem Element die Wiedereingliderung der Nazis in sämtliche politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftichen Bereiche der BRD ideologisch den Weg bereitete. Wer vom Totalitarismus spricht, hat vom Faschismus offenbar wenig verstanden. Und das ZPS meint, damit dann auch gleich noch Politik machen zu wollen. Wenn man die aktuelle Aktion auch dort einordnen wird, kann man das als glatten Geschichtsrevisionismus bezeichnen. Denn es war der Nationalsozialismus, die die Jüdinnen und Juden umbrachten, kein überkommenes politiktheoretisches Konstrukt.
Gestern fand in Berlin der Marsch für das Leben der selbst ernannten LebenschützerInnen statt. Am Washingtonplatz vor dem Hauptbahnhof sammelten sie sich. Die Anzahl der TeilnehmerInnen belief sich auf bis zu 5000 Personen. Anzutreffen war das übliche Publikum solcher Veranstaltungen: religiös auf Abwege geratene Personen jeden Alters, jedoch mit einer Tendenz zu den älteren Semestern. Zu sehen, gab es auch mindestens einen Pullover der Identitären Bewegung und zwei Sweater mit „Deutschland“-Aufdruck. Ansonsten war thematisch jenseits des Kernthemas und ein wenig Homophobie nicht viel zu entdecken, die Anschlussfähigkeit zu rechtsradikalen Ideologien wie dem Faschismus wurde aber wieder einmal unter Beweis gestellt. Auf Schildern gab es Slogans gegen angebliche Euthanasie zu lesen, welche via PID in Abtreibungen gesehen wird. So verfälschen sie in ihrer Außendarstellung den Inklusionsbegriff. Darüber hinaus gab es auch ein Schild mit „Nie wieder unwertes Leben“, wodurch eine direkte Verbindung von nationalsozialistischer Rassehygiene zur körperlichen Selbstbestimmung von Frauen aufgemacht wird, verbunden mit dem eigentlich antifaschistischen „nie wieder!“.
Im Gegensatz zum letzten Jahr gab es weniger Jugendreisegruppen zu sehen. Wie immer war die Demo finanziell gut aufgestellt und organisiert, es wurden hunderte Schilder und Kreuze verteilt. Damit erreichte man nach außen hin ein einheitliches Erscheinungsbild und stärkte den Gruppenzusammenhalt. Von der Bühne gab es grauenhafte Musik von Bands wie „Könige & Priester“ aus der Nähe von Köln zu hören, die mit schlimmsten Texten und religiösem Schwachsinn akustische Umweltverschmutzung tätigten.
Von der Bühne wurden Grußworte verlesen, unter anderem von Kardinal Marx im Namen der katholischen Bischofskonferenz und von Volker Kauder, Fraktionsvorsitzender der CDU im Bundestag, welcher in der Vergangenheit bereits Sympathien zur evangelikalen Bewegung und der liturgischen Ausrichtung der katholischen Kirche zeigte. Zudem wurden namentlich diverse evangelische und katholische Bischöfe genannt. Der Antifeminismus vereint die religiösen Fundis über konfessionelle Grenzen hinweg. Gestört wurde die Auftaktkundgebung von einem antifaschistischen Gegenprotest am Rand und einigen Störaktionen wie beispielsweise lila Pyro inmitten der Fundis. Viele Personen fanden sich dort aber nicht ein.
Gegen 14:00 Uhr setzten sich die Demonstrierenden in Bewegung. In einer langen Route ging es über die Invaliden- und Oranienburger Straße Richtung Hackescher Markt und anschließend in einer Schleife über die Museumsinsel und das Paul-Loebe-Ufer zurück zu Hauptbahnhof. Um die Strecke herum gab es einige angemeldete Gegenkundgebungen: vom Bündnis Marsch für das Leben? What the Fuck, vom Berliner Clubbündnis und vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung.
Obwohl die Route an mehreren Stellen gute Möglichkeiten für Blockaden bot, gab es nur vereinzelt kleinere Versuche, die unmittelbar von den Cops gestoppt oder geräumt wurden. Eine konnte gehalten werden, jedoch fasste sie nicht ausreichend Personen, sodass der Marsch einfach daran vorbeigeleitet werden konnte. Erst ab Höhe der Museumsinsel gab es größeres Blockadepotential, die Polizei konnte jedoch auch hier ohne größere Anstrengungen intervenieren. Der Marsch konnte ungehindert seine Route zurück zum Hauptbahnhof laufen.
Letztlich ist festzuhalten, dass die katholischen Fundis nahezu ungestört ihre Botschaft durch Berlin tragen konnten. Ihre gesamte Selbstinszenierung war darauf ausgelegt, ihre frauenverachtende Ideologie progressiv darzustellen durch eine vermeintliche Inklusion von Ungeborenen, emanzipatorische Positionen in NS-Nähe zu stellen und dem Versuch, durch entsprechende AkteurInnen wie jugendnahe MusikinterpretInnen eine möglichst junge und vielfältige Klientel zu adressieren. Dabei wurde wiederholt betont, dass sie sich als überparteilich in ihrer Organisation und international verstehen. In diesem Sinne: „Herr vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“
Am 09. Juni findet erneut der Al Quds-Marsch im Westen Berlins statt. Der Marsch geht zurück auf einen Aufruf des islamistischen, antisemitischen und frauenverachtenden Mullahregimes im Iran aus dem Jahr 1979. Seit Jahrzehnten gehen jährlich von irantreuen Organisationen gesteuert Personen auf die Straße. In Deutschland gibt es enge Verbindungen zur islamistischen Hisbollah, teilweise gab es die Auflage deren Fahnen nicht zu zeigen. Letztes Jahr zogen an die 1000 antisemitisch eingestellte Personen über den Kurfürstendamm, vorbei an der jüdischen Gemeinde dort. Auf einer Zwischenkundgebung am Breitscheidplatz wurde die wahnhafte Position vertreten, dass der Terrorist Anis Amri von den USA, Israel und dem Westen gesteuert worden und der Anschlag mit 17 Toten daher deren Schuld sei. Der klar islamistische Hintergrund wurde geleugnet. Teilgenommen haben unter anderem notorische Antisemiten wie Martin Lejeune oder Usama Zimmermann, diverse Islamisten waren zugegen, Personen kleideten sich im Stil von Hamasterroristen.
Berlins Bürgermeister Müller hatte eigentlich vor Monaten angekündigt den Al Quds-Marsch dieses Jahr zu untersagen. Warum dies nicht passiert ist schleierhaft, ein deutliches Signal gegen eine solche höchstantisemitische Veranstaltung wäre in diesen Zeiten dringend notwendig. In den letzten Monaten sind diverse antisemitische Verfälle publik geworden. Am bekanntesten dürfte der Angriff im Prenzlauer Berg sein, als eine Person mit Kippa auf offener Straße angegriffen wurde. Ende letzten Jahres wurde der Besitzer eines jüdischen Restaurants in Berlin minutenlang von einem Mann antisemitisch beleidigt. Beide Videos fanden weite Verbreitung in den sozialen Medien und führten zu öffentlichen Debatten. Die Ankündigung der USA ihre Botschaft von Tel Aviv in die israelische Hauptstadt West-Jerusalem zu verlegen resultierte in antisemitischen Demonstrationen, bei denen teilweise tausende Personen auf die Straße gingen. Dabei wurden auch die Flaggen der PFLP, der Hezbollah, des Irans, der Türkei und der Hamas gezeigt. An diesen Demonstrationen war auch die Neuköllner Gruppe Jugendwiderstand beteiligt. Unter anderem wurden jüdische Personen am Brandenburger Tor bei der Einweihung des Hanukkah-Leuchters beschimpft. Der Jugendwiderstand zeigt sich auch für mehrere Angriffe auf Personen mit Davidstern verantwortlich. Erst am vergangenen Samstag wurde Jugendliche für das Hören von israelischer Musik antisemitisch beleidigt und angegriffen, sie mussten teilweise im Krankenhaus versorgt werden.
Die Zahl der antisemitischen Vorfälle ist in den letzten Jahren wieder angestiegen und wie bereits geschrieben kommt es dabei auch zu körperlichen Angriffen auf jüdische Personen – oder solche, die als jüdisch oder auch nur solidarisch mit dem Staat Israel gesehen werden. Seit dem Holocaust hat sich der Antisemitismus hier in Deutschland von einem offenen Judenhass in eine codierte Version in Form der angeblichen Ablehnung von Israel und israelsolidarischen Personen gewandelt. Antisemitismus wird sehr häufig als Rassismus gegen Juden verstanden und mit diesem Trick meint man dann dem Label „Antisemitismus“ entgehen zu können. Dabei ist Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus eine wahnhafte und geschlossene Welterklärung. Diese kann auch rassistische Elemente enthalten. Vor allem unter den Nationalsozialisten mit ihrem Rassenwahn wurde die Vernichtung der jüdischen Rasse quasiwissenschaftlich zu begründen versucht. Antisemitismus beruht auf verschwörungstheoretischen Zuschreibungen auf „die Juden“. Klassische Elemente sind die Steuerung der Welt durch geheime Mächte, ein parasitäres und zersetzendes Verhalten, Geld- und Machtgier, Hinterlistigkeit, Verschlagenheit und das Vergiften der Gesellschaft. Der Staat Israel hat für viele Personen die gleichen Eigenschaften, die man im klassischen Antisemitismus den Juden zugeschrieben hat. Vieles von dem, was unter Israelkritik firmiert, ist klassischer Antisemitismus. Es werden einfach die Juden durch den Staat Israel ersetzt und das Ganze dann „Antizionismus“ genannt.
Aus antifaschistischer Sicht ist ein Protest gegen den Al Quds-Marsch zwingend notwendig. Antisemitismus ist nichts, was man tatenlos auf offener Straße durch Berlin ziehen lassen kann. Wohin Antisemitismus im schlimmstmöglichen Fall führen kann ist uns allen bekannt – die Shoa bzw. der Holocaust. Das alltägliche Leben für jüdische Personen in Deutschland ist immer noch von Diskriminierungen, Beleidigungen und Angriffen geprägt, ein Blick in die Liste dokumentierter Vorfälle der Recherchestelle Antisemitismus (https://report-antisemitism.de/#/public) verdeutlicht dies neben den schon genannten Ereignissen eindringlich. Speziell in Deutschland ist es eine historische Verantwortung sich gegen jede Form des Antisemitismus zu stellen – egal von wem er geäußert wird. Der Al Quds-Marsch selbst ist ein islamistischer Aufmarsch, der nicht nur antisemitisch ist. Da er direkte Verbindungen zum islamistischen Mullahregime des Irans aufweist, ist er frauenfeindlich, antiliberal und homophob. Alles sehr gute Gründe um dagegen auf die Straße zu gehen. Daher rufen wir zum Protest gegen den Al Quds-Marsch in Berlin am 9.6.2018 auf. Wir sehen uns auf der Straße.
In Berlin-Moabit haben heute etwa 500 Menschen an einer antifaschistischen Gedenkdemo zum Jahrestag der Novemberpogrome teilgenommen. Nach eine Eröffnungskundgebung an der Gedenkstätte Levetzowstraße, wo eine der größten Synagogen Berlins stand, ging es über die Beusselstraße zu einer Zwischenkundgebung am ehemaligen Judenhaus in der Turmstraße 9 und von dort zum Endpunkt am ehemaligen Deportationsbahnhof Moabit, heute S-Bhf Westhafen.
Bei der Auftaktkundgebung wurde Klezmermusik dargeboten, es gab Redebeiträge von einem Holocaustüberlebenden und den VVN-DBA Berlin. Später hatte unter anderem die Gruppe Andere Zustände Ermöglichen einen Redebeitrag. Es wurde die Zerstörungswut der Novemberpogrome geschildert und anschaulich an den Kundgebungsorten dargelegt. Der Deportationsbahnhof war frei einsehbar und die zu Deportierenden wurden entweder per Laster gebracht oder zu Fuß über die Straße getrieben.
Die Demonstration wurde immer wieder von der Seite angepöbelt, für die Störungen zeigten sich palästinensische Nationalist*innen verantwortlich. In den Redebeiträgen wurde über den israelbezogenen Antisemitismus aufgeklärt, der sich leider in einigen linken Strömungen wiederfindet. Zudem wurde auf die aktuelle Gefährdung der Gesellschaft sowie des Andenkens und der Aufklärung über die NS-Verbrechen durch völkisch-resktionäre Gruppierungen, hauptsächlich der AfD, hingewiesen.
In Berlin gab es weitere Demonstrationen und Veranstaltungen zu den Novemberpogromen. So veranstaltete die Antifa Oranienburg eine Demonstration in Berlin-Orianenburg und in der Hufeisensiedlung in Britz wurde gegen die dortige Naziterrorserie und für die in den letzten Tagen gestohlenen Stolpersteine demonstriert. Der antisemitische BDS, der leider in einige linke Spektren anschlussfähig ist, hatte ab 15 Uhr am Potsdamer Platz eine Veranstaltung zur Delegitimierung Israels angemeldet. Am Jahrestag der Novemberpogrome. Unter dem Aufhänger des Mauerfalls wurde hier antisemitische Agitation versucht. Mehr als 20 Personen fanden sich aber nicht ein und es gab kaum Außenwirkung.
30 Jahre nach dem Selbstmord von Rudolf Heß im Naziknast in Berlin-Spandau wollten Faschos aus ganz Deutschland anreisen und einen „Gedenkmarsch“ abhalten. Angemeldet auf 500 Personen, war recht schnell klar, dass es eher doppelt so viele werden würden. Es wurde deutschlandweit mobilisiert, die revisionistische Legende um den angeblich guten Deutschen Heß zieht immer noch. In der Tat etwas verwunderlich ist, dass es keine Aufrufe und Gegenmobilisierung aus anderen Städten gab. Zur IB-Demo am 17.6. gab es gemeinsame Anreisen aus Leipzig und Hamburg, dieser knallharte Naziaufmarsch wurde dagegen Berlin allein überlassen. Die Antifa Nordost ließ sich nicht lumpen und hat dann auch mal eben einen der besten Mobiclips der letzten Jahre zusammengeschraubt.
Ein Tag voller positiver Überraschungen
Nach Spandau ging es eigentlich mit nicht so großen Erwartungen. Der rot-rot-grüne Senat hatte den Naziaufmarsch mit ein paar Auflagen erlaubt, was einzelne Abgeordnete nicht daran hinderte, sich vorher als große Naziaufmarschverhinderer zu inszenieren. Es wurden einige Gegenkundgebungen angemeldet, eine Demo zum Zusammenschluss wurde aber verweigert. Das Outfit wurde dieses Mal zivil gewählt, was sich in fehlenden Taschenkontrollen und generell weniger Aufmerksamkeit von Seiten der Cops bemerkbar machte. Auf dem Weg nach Spandau dann die erste gute Nachricht: Signalstörungen bei der Bahn. Irgendwer hatte einen Kabelbrand verursacht und etliche Faschos saßen im Zug fest. Hupsi.
Vor Ort ging es nach einem kurzen Blick auf Gegenkundgebung und Startpunkt der Nazis – jeweils auf der anderen Seite des Bahnhofs Spandau – auf die Strecke. Die Cops hatten massiv gegittert und nach zwei Querstraßen auf Höhe der Altonaer Straße alles mit Wannen dicht gemacht. Weiter sollten die Faschos später auch nicht kommen. Dann ein paar hundert Meter weiter die nächste positive Überraschung: Da ist ja schon eine Sitzblockade! Fotos, Pixeln, Tweet nach Support gesetzt – läuft. Wer auch immer die Idee hatte, sich über 20 Minuten vor offiziellem Beginn der Faschoveranstaltung auf die Straße zu setzen, dem sei hier noch einmal ausdrücklich gedankt! Denn um diese Blockade herum bildete sich stabil mit Zufluss und zweiter Reihe ein Knotenpunkt früh auf der Faschostrecke.
Und diese präsentierte sich als nächste positive Überraschung. Bis zur Stelle des abgerissenen Gefängnis war alles mit Plakaten, Graffiti, Adbusting und Transpis voll. Auf den Häuserwänden gab es Slogans wie „Nazis boxen“ oder“Klasse statt Rasse“ zu lesen, immer wieder hingen Transpis aus Fensters, irgendwer hatte die Werbeflächen an den Bushaltestellen umgestaltet und die PARTEI und die Jusos haben auf jede fucking Laterne Antinaziplakate gehängt, erstere natürlich die legendären „Hier könnte ein Nazi hängen“. Auch die Plakate der Gegenmobilisierung waren überall zu sehen. Auf Höhe des abgerissenen Gefängnis hatte Exit Deutschland dann auch noch mal plakatiert: Spandau hatte ganz offensichtlich keinen Bock auf Nazis.
In der Zwischenzeit hatte es sich eine weitere große Blockade kurz hinter der ersten gemütlich gemacht, auch weiter vorne sind noch Leute auf die Strecke gekommen. Der Aufmarsch der Faschos verzögerte sich ordentlich die Störungen im Bahnverkehr zwangen über 200 Nazis, vor allem aus dem Rheinland und dem Pott, in Falkensee auszusteigen und ein paar Mal im Kreis zu laufen, da sie nicht wegkamen. Aus Frust musste dann die Scheibe des örtlichen Grünenbüros dran glauben. Nachdem dann irgendwann der letzte Bus aus Sachsen eingetroffen war, ging es gegen 13:00 los – aber dank der Blockaden nicht weit. Nach kanpp 200 Metern war erst einmal Feierabend. Die große Frage jetzt war: Wird die Polizei durchknüppeln? Es gab mehrere Blockaden, die alle für sich genommen ok in der Größe waren. Kurz nach 13:00 hatten sich zudem 40 weitere Antifas hinter die letzte Blockade gesetzt. Es schwärmten dazu noch unzählige Kleingruppen umher, weitere Blockaden wären wahrscheinlich. Auf der anderen Seite standen um die 800 sehr mies gelaunte Nazis.
Die Entscheidung fiel dann eine halbe Stunde später. „Wir kommen jetzt mit 1000 Leuten!“ hieß es via Twitter. Ja ja, schon klar. Verarschen können wir uns selber. Wo sollen denn jetzt bitte 1000 Leute herkommen? Keine 10 Minuten später kamen dann aber tatsächlich von hinten hunderte Leute mit Fahnen, guter Laune und Kinderwagen im Gepäck. Irgendwer muss die ganzen Bezugsgruppen und interessierten Anwohner*innen unterwegs eingesammelt und Richtung Blockade gebracht haben. Und damit war klar: Dieser Aufmarsch ist blockiert.
Umso ziemlich genau 15 Uhr dann auf einmal Bewegung: Die Faschos werden umgeleitet. Und zwar ziemlich verwirrend: eine Runde um den Block, um dann über eine Brücke eine sehr lange Ausweichroute nehmen zu können. Nächste Überraschung: Nächste Blockade! Irgendwer hatte die Voraussicht, dass die Faschos so umgeleitet werden könnten und ist mit dutzenden Leuten die sehr lange Ausweichroute zu den Nazis gelaufen. Damit war der Tag endgültig gelaufen für die Faschos. Diese drehten dann um, machten noch eine Stunde Kundgebung am Bahnhof und verpissten sich dann in die Dreckslöcher, aus denen sie gekommen waren.
Was bleibt
Ein absolut positiver Blick auf den Tag. Anreise behindert, in Rathenow wurden zwei Faschos vor der Anreise ins Krankenhaus kritisiert, eine super präparierte Strecke, stabile Blockaden mit vielen Leuten aus der Gegend und angepissten Nazis, die eine Runde um den Block drehen konnten. Und das alles ohne großen Support von außerhalb. Nach der erfolgreich blockierten IB die zweite Naziblockade innerhalb von zwei Monaten. Danke Spandau, danke Berlin!
Am 17.06.2017 will die Identitäre Bewegung in Berlin ihre Hauptdemonstration durchführen. Beginn soll 14 Uhr am S-Bhf Gesundbrunnen sein, der Gegenprotest startet ab 12 Uhr am Leopoldplatz und will die IB blockieren. Organisiert wird der Gegenprotest vom Berliner Bündnis gegen Rechts, weitere Infos dazu findet ihr hier: https://berlingegenrechts.de/
Aus diesem Anlass haben wir ein Interview mit Mensch Merz geführt, eine Gruppe, welche sich auf die IB spezialisiert hat.
Im deutschsprachigen Raum hat sich die Identitäre Bewegung zuerst in Österreich etabliert. Wieso konnte dieses anfänglich reine Internetphänomen sich ausgerechnet dort real materialisieren? Haben die Anfangskader wie Markovics gute Arbeit geleistet oder lag das eher an glücklichen Umständen?
Eine kurze Anmerkung direkt zu Beginn: Ich wäre vorsichtig dabei rechtsextreme Gruppen & Einzelpersonen als „reine Internetphänomene“ zu fassen. Einerseits, weil hinter diesen „Internet-Phänomenen“ immer reale Personen & Personenzusammenhänge stehen, die sich vielfach eben auch real – wenn auch zu Beginn vielleicht klandestin – organisiert haben und von denen Seiten wie Facebook, Instagram & Co. eben nur der offensichtlichste Beweis der Existenz waren beziehungsweise sind.
Zum Anderen aber auch, da gerade viele deutsche Landesämter der Verfassungsschutz mit diesem Begriff noch hantierten, als die „Identitären“ schon längst unübersehbar im „realen Raum“ aktiv waren. Meiner Meinung nach wird dieser Begriff auch vielfach von Seiten der Behörden täuschend eingesetzt, um zu verbergen, dass sie wenig bis gar keinen Einblick in Strukturen haben. Und ja, vielfach suggeriert der Begriff „Internet-Phänomen“ auch, dass solche Gruppen weniger gefährlich sind. Das ist und war zu keinem Zeitpunkt der Fall.
Zurück aber zur Ursprungsfrage: Vor dem Aufkommen der „Identitären Bewegung Österreich“ war die neonazistische Szene in Österreich mit staatlicher Repression konfrontiert. Hervorzuheben ist hier sicherlich der Prozess um die Seite alpendonau und den Neonazi Gottfried Küssel, in dessen Umfeld sich auch Martin Sellner bewegte. Nach der Zeit der Repression konnten wir auch in Wien erleben, dass die Rechtsextremen mit verschiedenen Organisationsformen „experimentiert“ haben. So gab es z.B. auch kurzzeitig eine „Autononome Nationalisten“-Gruppe, die sich aus dem burschenschaftlichen Milieu speiste. Dazu muss man vielleicht auch erwähnen, dass seit derschwarz-blauen Regierung Anfang der 2000er Jahre Burschenschaften dezidiert nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Sie sind damit ein idealer Nährboden für Experimente jeder Art. Die „Identitäre Bewegung“ ist also keinesfalls spontan entstanden, und muss auch als – sehr erfolgreicher – Versuch verstanden werden, das in Österreich durchaus streng exekutierte Wiederbetätigungsgesetz zu umgehen.
Ein anderer Aspekt muss sich in Bezug auf Österreich immer wieder vor Augen gehalten werden: Die österreichische Gesellschaft lebt vom Mythos das „erste Opfer des Faschismus“ gewesen zu sein. Eine richtige Entnazifizierung und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erfolgte bis heute nur begrenzt. Mit der „FPÖ“ exsitiert seit langem eine – immer wieder große Mehrheiten auf sich vereinende – rechtsextreme Partei in Bundes- und Landesparlamenten, die vielen extrem rechten Akteuer*innen ein Zuhause bietet und hervoragend mit außerparlamentarischen rechtsextermen Organisationen und Einzelpersonen vernetzt ist. So schlimm dies klingt: Viele Forderungen der „Identitären Bewegung“, zum Beispiel die nach einer konsequenten Schließung der Grenzen oder ihre überbordenden Deportationsfantasien, sind Positionen, die in Österreich von der FPÖ bis zur ÖVP (Österreichische Volkspartei) mitgetragen werden und deswegen nie sonderlich „extrem“ wirkten.
Was aber ebensowenig zu bestreiten ist, ist die Tatsache, dass führende und zum großen Teil noch heute aktive Kader, allen voran Martin Sellner, extrem viel an persönlichen und materiellen Ressourcen in das Projekt „Identitäre Bewegung“ gesteckt haben. Grade auch unter teils vollkommener Aufgabe privater Bedürfnisse. Der Slogan der „Identitären“ von „der letzten Reihe“ in der „Rettung Europas“ manifestiert sich vielfach in diesem blinden Fanatismus der Kader. Und ja, diese „Vollzeitaktivist*innen“ haben in den letzten Jahren viel an Struktur aufgebaut und sind auch maßgeblich am Aufbau in Deutschland beteiligt. Wobei aber nie vergessen werden darf, dass die Entwicklung der „Identitären“ ohne das starke Milieu rechtsextremer Burschenschaften und deren Personal und Infrastruktur nicht so möglich gewesen wäre. Grade im Kontext des bürgerlich etablierten Rechtsextremismus stellte und stellt ihr „neu-rechter“ Aktionismus ein gewisses Novum dar, was eben auch zu der umfassenden medialen Beachtung führte.
Grade aber der persönliche Einsatz scheint schwer zu wiegen und umso schwerer scheint es sie eben auch aktuell zu treffen, dass das „identitäre Projekt“ nicht mehr so auf Kurs ist, wie Martin Sellner jüngst in einem Artikel auf „szession-online“ konstatierte.
Warum hat es in Deutschland länger gedauert? Entsprechende FB-Seiten gab es ja zeitgleich im gesamten deutschsprachigen Raum.
In Deutschland hat es auch vor der „Identitären Bewegung“ immer schon eine Vielzahl an unterschiedlichen rechtsextremen Gruppen und Zusammenhängen gegeben, in denen eins sich organisierten konnte. Einerseits würde ich hier einfach von „mangelndem Bedarf“ sprechen. Andererseits: Das die „Identitäre Bewegung“ in Deutschland vielfach von Personen geleitet wird, die schon langjährige Aktivist*innen in rechtsextremen Zusammenhängen sind, ist deswegen auch kein Zufall: Vielmehr können wir hier aktuell erleben, wie sich eine rechtsextreme Szene versucht in Teilen moderater zu geben, um dergestalt ein breite Masse an Menschen anzusprechen. Sie haben in Frankreich und Österreich sehen können, dass genau das – zumindest teilweise – doch ganz gut funktioniert.
Ich würde auch nicht davon sprechen, dass diese Entwicklung lange gedauert hat. Insgesamt gesehen ist die „Identitäre Bewegung“, gerade im deutschsprachigen Raum, eine sehr junge Form rechtsextremer Organisierung. Und in dieser Zeit haben sie durchaus schon viel an Struktur aufgebaut. Jedoch ist es meiner Meinung nach letztlich auch durchaus unsinnig die Entwicklungen in Deutschland stark von denen in Österreich abzukoppeln. Von Beginn an konnten wir einen regen Austausch erleben und gerade die aktuellen Ereignisse (z.B. der Versuch der „Blockade“ der CDU-Parteizentrale in Berlin [inzwischen zum Hashtag #ibsterblockade geworden, Anmerkung der Redaktion], ihre „Aktion“ im Mittelmeer oder die anstehende Demonstration in Berlin) zeigen, dass die „Identitäre Bewegung“ im deutschsprachigen Raum durchaus international gut vernetzt agiert und starke Synergien entfaltet.
Wie groß war der direkte Einfluss aus Frankreich? Sowohl Name als auch ideologische Basis stammen von dort. Gab es Kontakte und Aufbauhilfe? Im Gegensatz zu Österreich und Deutschland hat die Génération identitaire dort ja direkte Vorläuferstrukturen.
Klar, der Einfluss ist, gerade was das Corporate-Design angeht, unverkennbar. Auch ideologisch gibt es diverse Schnittmengen und die Auseinandersetzungen der Nouvelle Droite sind mit Sicherheit von extrem großer Bedeutung für die deutschsprachigen Ableger. Grade in der Verklausulierung ihrer ideologischen Agenden und einer (vermeintlichen) Abgrenzung hin zum deutschen Nationalsozialismus. Volker Weiß hat dies in seinem aktuellen Werk „Die Autoritäre Revolte“ ja sehr gut ausgeführt. Grade aber ideologisch hat die „Identitäre Bewegung“ in Österreich und auch in Deutschland über die Rezeption und Betonung von verschiedenen „Theoretiker*innen“ eine durchaus eigenständige „Identität“ entwickelt. Grade hieran ist aber auch vielfach zu merken, dass es sich bei ihnen doch um eine recht junge Organisationsform handelt, bei der viele unvereinbares (noch) parallel exsistieren kann und die keinesfalls über einen geschlossenen ideologischen „Kanon“ verfügt. Da trifft dann der harte, mit dem russischen Faschisten Alexander Dugin begründete, Anti-Universalismus eines Alexander Markovics auf den völkischen Rassismus eines Luca Kerbl und so weiter.
Verbindungen und Kontakte zu französischen Gruppen gab und gibt es immer wieder und seit Bestehen auch regelmäßig. Hervorzuheben ist hier sicherlich die Teilnahme vieler österreichischer und deutscher Kader an den französischen Sommer-Camps, sowie den sehr guten Verbindungen der deutschen Gruppe Kontra Kultur zu einzelnen Gruppen in Frankreich. Auch Martin Sellner nimmt hier wieder mit seinen guten französischen Sprachkenntnissen eine wichtige Rolle ein. An der ersten Demonstration der „Identitären“ in Wien 2014 nahmen überdies französische Aktivist*innen teil.
Einen großen Einfluss auf die IB hat ganz offensichtlich das Antifaspektrum gehabt. Aktionsformen, Präsentation, Auftreten, eigene Strukturen, Kongresse, Workshops, der Phalanxshop, jetzt auch noch ein Modelabel. Sellner verkauft in seinem letzten Artikel in der Sezession Einschätzungen aus unter anderem dem Antifaspektrum als seine. Eigentlich fehlt nur noch ein Musikfestival. Wie weit gehen eurer Meinung nach die Analogien, wie viel hat die IB geklaut?
Das Rechtsextreme Aktionsformen, Repräsentationsformen und auch Inhalte adaptieren, die eher „Linken“ zugeordnet werden, ist nichts, dass spezifisch für die „Identitäre Bewegung“ oder Rechtsextreme im Allgemeinen ist. Vielmehr lassen sich solche Prozesse der Adaptierung historisch vielfach nachweisen und aufzeigen – für diverse Gruppen und seit Organisation des historischen italienischen Faschismus in den 1920er Jahren.
Auch, dass Rechtsextreme zum Beispiel Kleidung verkaufen, um damit ihre Strukturen zu finanzieren, ist ja keineswegs etwas Neues. Es sei hier nur an Marken wie Ansgar Aryan erinnert.
Für die „Identitäre Bewegung“ ist aber sicherlich die Professionalisierung solcher Adaptionen und Integration in die eigenen politischen Agenden durch die Gruppe „Casa Pound“ in Italien von besonderer Bedeutung. Auch, wenn Casa Pound sich von Beginn an stramm neofaschistisch positionierte und nie versuchte, wie die „Identitären“, über ihre Gesinnung mit „weder Rechts noch Links“-Slogans hinwegzutäuschen.
Ich würde bezüglich der Frage sogar soweit gehen und die Hypothese aufstellen, dass die „Identitäre Bewegung“ gar nicht soviel Neues macht. Sie macht nur das, was sie macht, wesentlich professioneller.
Jedoch sollten wir an dieser Stelle auch festhalten, dass es den „Identitären“ zu keinem Zeitpunkt gelungen ist – auch trotz ihres professionellen Auftretens – den eigenen Anspruch eine „Bewegung“ zu sein, einzulösen. Grade aktuell können wir feststellen, dass die „Identitären“ sich vielmehr wieder auf klassische Strategien der extremen Rechten zurückbesinnen und ihre Gruppen viel stärker auf die führenden elitären Kader aufbauen. Ebenso aber auch, dass sie grade massiv versuchen eigene Infrastruktur zu schaffen, die nicht an das burschenschaftliche Milieu geknüpft ist oder sich im Privatbesitz führender Kader befindet. Und das ist eben eine doch sehr „alte“ Strategie.
Die Unterschiede zum Antifaspektrum (und anderen rechten Gruppierungen) liegt in der Nutzung der Medienkanäle. Via der nahestehenden Organisation Ein Prozent wird ganz offen Geld gesammelt, unter fast jedem Post und Beitrag prangt ein Spendenaufruf, es gibt Vlogs, mit Info-Direkt ein optisch und inhaltlich ähnlich gelagertes Nachrichtenportal, Sellner stellt regelmäßig Videos online. Die IB bietet individuelle Charaktere an und schafft so Identifikationsmöglichkeiten. Versucht die IB ein ganzheitliches Paket anzubieten und alle Lebensbereiche abzudecken?
Hier zuerst auch wieder eine Anmerkung: „Ein Prozent“ (Eigentlich: Ein Prozent für unser Land) und das Magazin „Info-Direkt“ sind keine Organisationen, die direkt unter dem Einfluss der „Identitären“ stehen, sondern eigenständige Akteuere des aktuellen Rechtsextremismus. „Ein Prozent“ ist untrennbar mit dem Institut für Staatspolitik in Schnellroda verbunden und auch „Info Direkt“ wird von gestandenen Akteueren des öst. Rechtsextremismus koordiniert. Auch, wenn diese Organisationen stark mit den „Identitären Bewegung“ kooperieren, haben sie doch auch beide ganz eigene Agenden, die vielfach auch über das, wofür die „Identitären“ stehen, hinausführen.
Es ist aber wohl symptomatisch, d. die verschiedenen Akteuer*innen der extremen Rechten im deutschsprachigen Raum gerade im letzten Jahr so eng miteinander agieren und kooperieren, dass hier leicht solche Fehlschlüsse entstehen können, sie wären eigentlich alles Ableger ein und derselben Gruppe. Besonders deutlich wurde dies zuletzt 2016 beim Kongress der Verteidiger Europas in Linz, den verschiedenen Organisationen der parlamentarischen und außerparlamentarischen Rechten im deutschsprachigen Raum gemeinsam austrugen.
Nun aber zur medialen Inszenierung der „Identitären“. Und auch hier möchte ich davor warnen, die Dinge überzubewerten. Wenn wir von der „medialen Inszenierung“ sprechen, dann meinen wir nur allzu oft die Inszenierung einzelner weniger Kader. Für den deutschsprachigen Raum erfüllen sicherlich Martin Sellners stundenlange und zumeist fast nur selbstreferenzielle Vlogs eine große Rolle in der Konstruktion der professionellen Außenwirkung. Jedoch: Außer Martin Sellner gibt es wenige Kader, deren mediales Auftreten derart stark rezipiert wird. Die Vlogs des Vorsitzenden der „Identitären Bewegung Österreich“, Patrick Lenart, erscheinen zum Beispiel nur äußerst selten und wirken immer unglaublich dilletantisch.
Auch in Deutschland hat es lange gebraucht, bis sich dem dem Format von „Laut-Gedacht“ etwas etablieren konnte, dass einen gewissen Grad der Eigenständigkeit besitzt und durchaus ungewöhnlich für extrem Rechte Organisationen war und ist.
Ansonsten aber begrenzt sich die Präsentation dieser „Identifikationsfiguren“ zumeist auf umfangreiche Instagram-Profile und Tumblr einiger weniger. Ich habe hier vielfach das Gefühl, dass gerade in der (bürgerlichen) medialen Rezeption einzelne Personen aus den Reihen der „Identitären“ größer und wichtiger gemacht werden, als sie eigentlich sind. Was hierbei dann fast immer in Vergessenheit gerät: Klar, solche Personen wie Melania Schmitz eignen sich hervorragend zur Bebilderung eines neuen Typus der rechtsextremen Aktivistin. Sie bleibt aber letztlich eine fanatisierte und gewaltbereite Rechtsextreme und die mediale (Re)-Inszenierung ist eben auch immer großes Wiederholen des selbstgeschaffenen Mythos. Hier gilt es meiner Meinung nach viel mehr Kritik zu leisten.
Vielleicht noch ein letztes Wort zu den Geldsammel-Aktionen: Ja, die „Identitäre Bewegung“ sammelt scheinbar viel Geld. Und es ist davon auszugehen, dass über kleinere Spenden von 5-10 Euro, die sicherlich diverse Menschen leisten, durchaus stattliche Summen zusammenkommen. Wir sollten aber auch hier immer im Auge behalten, dass die „Identitären“ und auch ihr nahestehende Organisationen, wie „Ein Prozent“ logischerweise ein großes Geheimnis um die genauen Ein- und Ausnahmen machen. Es kann hier sicherlich die Hypothese aufgestellt werden, d. viel von den gesammelten Gelder auch erstmal aus den eigenen Reihen fließt. In Anbetracht dessen, dass viele der Aktivist*innen eine großbürgerliche Herkunft aufweisen, darf es nicht verwundern, warum hier immer eine durchaus große Bereitschaft besteht, Geld in derartige Strukturen zu investieren.
Die angesprochenen Flickr- und Instagramm-Profile, allen voran von Wychera, bieten einen recht guten Einblick in das Selbstbild und -verständnis der einzelnen Protagonist*innen. Auffällig dabei ist ein starker Naturbezug und eine gewisse Melancholie. Die Präsentation erinnert oftmals an Werke der Romantik, zum Beispiel die Bilder Casper David Friedrichs. Der Mensch in mitten der großen Natur, hier oft noch verbunden mit der gedachten Traditionslinie von 1000 Jahren (Heimat)Geschichte. Ähnliche Bilder sind teilweise im Gothic- und Metalbereich zu finden. Woher kommt diese Sehnsucht?
Ja, beim Anblick dieser Profile wird schnell klar, d. die Stilepoche der deutschen Romantik zu einem der wichtigsten Dreh- und Angelpunkte gehört. Ebenso aber auch die deutsche Wandervogelbewegung und andere Lebensreformbewegungen zu Beginn des 20 Jahrhunderts. Auch die Beschäftigung mit frühen Formen bündischer Gruppierungen findet sich immer wieder. Ich will aber betonen, dass diese Beschäftigung hier doch ein eindeutig ideologischen Determination unterliegt: Da wird ein inszenierter und zum Mythos „verkitschter“ Naturraum gegen eine Vorstellung von Moderne in Stellung gebracht, die hier wiederum all das verkörpert, was die „Identitäre Bewegung“ ablehnt.
Diese „Inszenierung“ von Natur will hier natürlich Ideologie als etwas natürliches erscheinen lassen und es gilt, meiner Meinung nach, grade deswegen immer wieder darauf zu verweisen, dass diese Vorstellung von Natur letztlich primär Produkt reaktionärer Wunschträume ist.
Es kann deswegen auch nicht verwundern, dass sich diese Inszenierung ganz im Gestus von Carl Schmitt und dessen Vorstellung der Einheit von Ortung und Ordnung vollzieht. Der Idee nach ist eine konkrete gesellschaftliche Ordnung hier immer von einer konkreten, zumeist geographisch fixierbaren, Ortung abhäng.
Ich denke, es ist grade diese mythologische Verklärung des Naturraums, indem die „Identitären“ eigentlich am offensivsten ihr völkisches Gesicht zu Tage tragen.
Ich habe zu diesem Zusammenhang auf dem Blog vor einiger Zeit einen längeren Text unter dem Titel Weltschschmerz, Wälder, weiße Rasse geschrieben. Er weitet einige der obigen Argumente noch aus.
Ich würde deswegen auch nicht das Wort „Sehnsucht“ verwenden, denn vielmehr dazu übergehen, hier von einer klaren Position des „Hasses“ zu sprechen. Einem Hass auf die von ihnen als vollkommen zerstörerisch imaginierte „Moderne“.
Aber auch der, von dir bereits angesprochene, subkulturelle Bezugsrahmen ist hier sicher evident. Im Genre des „Gothic“ gibt es seit den 1980er Jahren eine Spielart die sich „Neofolk“ nennt. Viele Kader der „Identitären“ sind große Fans dieser Musik. Im Besonderen deren deutschen Vertretern. Immer wieder finden sich zum Beispiel umfangreiche Texte zu Musik und Musiker*innen oder Akteuer*innen der „Identitären“ versuchen sich in – zumeist eher schlechten – Covern dieser Musikstücke.
Das Genre des Neofolk ist eben auch primär nicht musikalisch für sie von Interesse, sondern weil in der Musik vieles an Ideologien verhandelt wird. Schon früh finden sich in der Musik Bezüge auf reaktionäre Denker wie Oswald Spengler, Yukio Mishima oder Ernst Jünger.
Grade die deutschen Interpret*innen fügten der Musik dann noch eine stark völkische Lesart hinzu. Hier findet sich dann wiederum par exellence die stark ideologisch kontaminierte Verklärung von Natur und einem scheinbar organischen „Heimatboden“, der unmittelbar die Existenz der Menschen prägt. Was natürlich ein völliger Unsinn ist. Beispiele für solche Bands, die auch von den „Identitären“ sehr stark rezipiert werden, sind zum Beispiel die deutsche Gruppe „Darkwood“, der Sänger „Falkenstein“ oder die Band „Forseti“.
Schaut man sich die Veröffentlichungen und Videos genau an, ist das Themenspektrum eigentlich nicht sonderlich umfangreich. Schlagworte werden immer wieder neu kombiniert und auf tagesaktuelle Thematiken angewendet, eine wirklich tiefgreifende Analyse ist selten zu finden. Martin Sellner glänzt vor allem in seinen Videos oft mit haarsträubend dummen Aussagen, wenn er sich inhaltlich explizit nicht von Neonazis distanziert, die IB aber als stärkste Kraft gegen den Rechtsextremismus bezeichnet oder behauptet, alle Journalist*innen und Historiker*innen wären kommunistisch. Wie ist das intellektuelle Potential der IB einzuschätzen?
Die „Identitäre Bewegung“ tut sich sowohl intern als auch extern durchaus schwer damit andere Themen abseits des „Großen Austauschs“ zu besetzen. Öffentlich wurde das sicherlich zuletzt bei der dilletantischen Aktion vor dem deutschen Justizministerium deutlich, die nicht nur unglaublich schlecht ausgeführt wurde, sondern vielmehr auch inhaltlich vollkommen undurchdacht erschien. Dass die „Identitären“ auf einmal „Innenpolitik“ betreiben wollten, erschien mehr als nur obskur.
Es gab in den letzten Jahren immer wieder Aktionen, bei denen „Identitäre Gruppen“versuchten auch andere Themen zu besetzen. Große Resonanz fanden diese aber nie.
Es ist die größte Stärke und Schwäche zugleich, dass die „Identitäre Bewegung“ sich auf ein Thema so stark fokussiert und auch zum Teil selbst reduziert. Einerseits bietet ihre wahnhafte Vorstellung eines sich gerade vollziehenden „Bevölkerungsaustauschs“, den es gilt mit allen Mitteln zu verhindern, eine starke Basis, auf die sich viele ihrer Aktivist*innen einigen können. Das ist sozusagen der Minimalkonsens.
Auf der anderen Seite aber, ist dieser Minimalkonsens vielfach auch das Einzige, auf das sich geeinigt werden kann. Grade in der österreichischen Gruppe waren diese ideologischen Differenzen so offensichtlich und groß, dass der ehemalige Leiter der „Identitären“, Alexander Markovics, erst in eine obskure Theorie-AG verbannt wurde, bis er gänzlich den Hut warf, um sich nun wieder in der studentischen Organisation der FPÖ zu engagieren. Dies war sicherlich ein persönlicher Konflikt, aber eben auch einer der viel damit zusammenhing, dass Markovics ideologisch immer viel umfassendere Agenden auf die Fahnen der „Identitären“ schreiben wollte, als zum Beispiel Martin Sellner.
Die „Identitäre Bewegung“ profitiert vielfach davon, dass sie als „Single-Issue“ Organisation wahrgenommen wird. Letztlich kann die Parole, dass sich erst um den „Großen Austausch“ gekümmert werden muss und um alles Andere danach im Anschluss, eben auch sehr gut darüber hinwegtäuschen, dass sich über dieses „Andere“ in den eigenen Reihen noch gar nicht soviel an Gedanken gemacht wurde, beziehungsweise gar Einigkeit besteht.
Die „Identitäre Bewegung“ produziert – und hier sollten wir uns nicht von den vielen Vlogs Sellners täuschen lassen – recht wenig an eigenen ideologischen Traktaten. Wichtigste Fixierpunkte sind hier immer noch die Texte des „IfS“ und dessen Autor*innen. Es ist gradezu frappierend, dass in ihren eigenen Traktaten oftmals eine krude und für Rechtsextreme doch sehr typische Mischung aus verschiedenen Verschwörungstheorien, antisemitischen Klischees und maskulinistischen Gewaltfantasien vorherrscht. Im Besonderen eben denen, die nicht von den im medialen Fokus stehenden Kadern aufgesetzt werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich das aus Deutschland stammende und geleakte Strategiepapier [hier der vollständige Download] der „Identitären Bewegung“, indem ja diese „Verschwörung der Stalinisten in der BRD“ und ähnliche Phantasmen eingestreut werden. Hier sind sie eben doch klassische „Kinder“ des Rechtsextremismus.
Ich möchte mich aber abschließend einer Position dezidiert verschließen, die meiner Meinung nach impliziert in der Frage nach dem „intellektuellen Potential“ der „Identitären“ mitschwenkt: Wir müssen ein für alle Mal mit dem Mythos brechen, dass es sich bei Rechtsextremen um scheinbar „minderbemittelte“ Personen handelt. Grade der Rechtsextremismus in Österreich war immer auch ein Phänomen, dass maßgeblich durch akademisch gebildete Eliten getragen wurde und wird. Auch die „Identitären“ verfügen – bedingt durch ihre burschenschaftlichen Netzwerke – über eine nicht geringe Anzahl von Aktivist*innen aus dem akademischen Milieu und mit hohem formalen Bildungsniveau. Dennoch: Sie vertreten letztlich eine Ideologie, die auf der Ungleichheit der Menschen beruht und daraus tödliche Konsequenzen zieht. Eine solche Ideologie kann „intellektuell“ begründet werden, sie wird dadurch aber nicht intellektuell, sondern bleibt letztlich nur Eines: Menschenverachtend.
Kommen wir zu den Kadern und der Struktur der IB. In Österreich hat nach außen ganz klar Sellner das Sagen, auch in Deutschland ist er immer wieder für Aktionen mehrere Tage in den entsprechenden Städten. Es gibt Regionalstrukturen wie zum Beispiel Kontrakultur/Halle. Teilweise kommen die Personen aus Kameradschaftsumfeldern, in Österreich gibt es Verbindungen zu Burschenschaften. Wie ist die IB strukturiert und wie funktioniert die Koordination?
Ich würde hier vor dem Fehlschluss warnen, Martin Sellner als „Führungsfigur“ zu verabsolutieren. Ja, Martin Sellner ist das mediale Gesicht der „Identitären“ und wird, grade auch abseits der eigenen Szene, medial als Sprecher der deutschsprachigen „Identitären“ inszeniert. Hier sind sich dann die Blaue Narzisse, über die Szession bis zum Spiegel auch alle einig. Obwohl es organisatorisch eine solche Funktion gar nicht gibt und Sellner in Deutschland selbst auch gar keine „offizielle“ Funktion bekleidet.
Auch, wenn vieles an Struktur und öffentlicher Inszenierung an die Person Martin Sellner gebunden ist, wäre es meiner Meinung nach falsch zu sagen, er allein „habe das Sagen“. Es gibt in Österreich neben ihm durchaus andere Kader, die alle gewisse eigenständige Einflussbereiche haben. Martin Sellner ist hier vielfach auch das Ergebnis der Arbeit dieser Kader und ihrer Gruppen. Zum Anderen aber gibt es grade im ländlichen Raum Österreichs Gruppen, wie zum Beispiel die IB Steiermark, denen es in den letzten Monaten gelungen ist, ein eigenständiges Profil innerhalb der „Identitären“ herauszubilden und ganz andere Personen und Personengruppen in die Organsaition einzubinden. In der Steiermark zum Beispiel bedient die „Identitäre Bewegung“ weitaus stärker völkische Klischees und ist strukturell abseits der Städte durchaus gut aufgestellt. Was auch daran liegt, dass sie hier mit dubiosen Heimatvereinen und anderen eher reaktionären Gruppen durchaus Synergien entfaltet hat. Das sind aber letztlich auch Strukturen, auf die Sellner nur begrenzt Einfluss hat.
In Deutschland würde ich vor allem die, von euch bereits erwähnte Gruppe „Kontra Kultur“ in Halle hervorheben, die mit ihrem viel subkulturell orientierten Auftreten ein eigenständiges Profil als Gruppe herstellen und verbreiten konnte. Es kann deswegen auch nicht verwundern, dass parallel zu Martin Sellner ein Kader aus Halle, Mario Müller, zur Zeit ein Buch über die „Identitäre Bewegung“ schreibt.
Grundsätzlich kann deswegen wohl festgehalten werden: Die „Identitäre Bewegung“ wäre ohne Personen wie Sellner derzeit nicht auf dem Stand der Entwicklung, den sie aktuell hat. Allerdings davon auszugehen, dass mit einem Wegfallen der Figur Sellner auch die „IB“ Geschichte wäre, halte ich allerdings für falsch.
In Deutschland hat das bereits von mir zuvor erwähnte Strategiepapier der „Identitären Bewegung“ einen recht umfassenden Einblick in ihren Aufbau gewährt. Ohne das jetzt in allen Details auszuformulieren: Für Wundern sorgte inhaltlich in diesen Papieren wenig. Die „Identitäre Bewegung“ ist straff hierarchisch organisiert. Alles, was irgendwie an die Öffentlichkeit gelangen soll, muss vorher groß mit führenden Kadern abgeklärt werden. Selbst kleinere Aktionen werden in dem Papier detailreich beschreiben und unterliegen wiederum in der Verantwortung einzelnen verdienten Kadern.
In Österreich gab es zuletzt die Versuche einzelne Bereiche des Aktivismus in verschiedenen „Arbeitsgemeinschaften“ auszulagern. Letztlich kann hier aber die Hypothese aufgestellt werden, dass diese Gruppen primär dazu dienten, „alten Kadern“ irgendwelche Posten zu verschaffen.
Das alles ist letztlich für eine rechtsextreme Organisation auch nichts Besonderes. Verwundert hätte hier eher, wenn die Neo-Faschist*innen auf einmal die Basisdemokratie für sich entdeckt hätten.
Was die Struktur der „Identitären“ aber dennoch besonders macht, ist der Moment, dass gerade auch ihre führenden Kader derzeit versuchen finanziell irgendwie aus dem Projekt Geld oder Prestige zu holen. Sei es der große Webshop Phalanx Europa, der weitaus kleinere IB-Laden oder das Veröffentlichen von Büchern, die die junge Bewegung retroperspektivisch verhandeln. Was oftmals lächerlich anmutet ist letztlich eben auch ein Moment der alte Kader an die Bewegung bindet.
Die IB versucht sich immer wieder nach ganz rechts abzugrenzen. Der III. Weg hat die IB in einem Artikel hart angegriffen, für die klischeehaften Stiefelnazis scheint sie nur bedingt interessant zu sein. Wie rechts ist die IB in diesem Kontext einzuordnen?
Ich tue mich schwer mit der Einordung, wie „Rechts“ die „Identitären“ sind, da eine dergestalte Einordung irgendwie eine Skalierung vorraussetzt, die wiederum so gelesen könnte, dass eine Organisation, die scheinbar „weniger rechts“ ist, als die Andere, zugleich auch weniger gefährlich sei. Ein Gleiches gilt für mich für den Begriff „Neurechts“, der zwar in Deutschland durchaus noch eine größere inhaltliche Tiefe besitzt als in Österreich, zugleich aber immer auch eine Skalierung zwischen scheinbaren Extremen nahelegt. Zumal ich vielfach im deutschsprachigen Diskurs das Gefühl habe, dass alles, was nicht direkt eine Mitgliedsnummer der NSDAP hatte, als „Neurechts“ gilt.
Die „Identitäre Bewegung“ in Österreich bedient sich klar faschistischer Ideologien, nimmt starken Bezug auf eben diese und preist sie prominent in Bildern, Stickern und allerlei anderen medialen Artefakten. Auch deswegen, aber nicht nur allein deswegen, würde ich für die „Identitäre Bewegung Österreich“ die Einordnung „Neofaschistisch“ vorziehen. Für deutsche Gruppen gestaltet sich das etwas schwieriger. Fakt ist aber, dass die „Identitäre Bewegung“ ganz eindeutig im Spektrum des gewaltbereiten außerparlamentarischen Rechtsextremismus zu verorten ist. Immer wieder haben sie in den letzten Jahren bewiesen, dass nicht nur ihre Ideologie der Gewalt frönt und huldigt, sondern ihre Kader immer wieder dazu bereit sind dem vermeintlich politischen Gegner*innen körperlichen Schaden zuzufügen. Ich würde deswegen an dieser Stelle auch stark dafür eintreten, nicht darüber zu diskutieren, wie vermeintlich „Rechts“ die „Identitären“ sind, sondern vielmehr diese stete ideologische und reale Bereitschaft zur gewaltsamen Entgrenzung betonen.
Und ja, dass Auftreten der „Identitären Bewegung“ hat unter anderen rechtsextremen Gruppen immer mal wieder für Unmut gesorgt. Ähnliche Anfeindungen lassen sich auf österreichischer Seite zwischen „Identitärer Bewegung“ und der eindeutig neonazistischen Gruppe Unwiderstehlich nachweisen. Ihre Abgrenzung zum historischen Nationalsozialismus ist eben logischerweise ein Moment, mit dem sie sich nicht nur Freund*innen im eigenen Lager machen.
Auf der anderen Seite und diese Diskussion halte ich für viel gefährlicher, können wir derzeit beobachten, wie vermeintliche Aketeur*innen des Konservatismus versuchen Momente reaktionärer Ideologien, wie sie sich zum Beispiel die „Identitären“ zu Nutze machen, gegen diese „verteidigen“. Hier wird dann vielfach als Distinktionsmerkmal eine vermeintliche Grenze zum völkischen gezogen, in der die „Junge Freiheit“ aus scheinbar logischen Gründen, wieder auf der Seite eines „guten Konservatismus“ steht, weil sie angeblich sich von den „Völkischen“ abgrenzt.
Egal, wie differenziert rechtsextreme Organisationen und Einzelpersonen sich geben, in den letzten Jahren haben wir vielfach beobachten können, wie der Hass und der Kampf gegen ein Ideal der Gleichheit der Menschen diese Akteuer*innen unter gemeinsamen Fahnen geeint hat. Da hat dann auch ein „ganz rechtsstehender“ Götz Kubitschek für die „Junge Freiheit“ lange Zeit schreiben dürfen.
Die Auseinandersetzung mit Rechtsextremen darf und kann meiner Meinung nach nicht in einer Skalierung eben dieser bestehen, sondern kann nur fundamentale Kritik an der sie einenden Ideologie sein.
In Österreich und inzwischen auch in Deutschland sind immer mehr Parteikontakte zu FPÖ bzw. AfD dokumentiert. Wie ist das zu werten und welche Rolle spielen die Pateien und die IB in den Augen der jeweils anderen?
Obwohl sowohl „FPÖ“, als auch „AfD“ immer wieder mit durchaus gemischten Statements Stellung zu den verschiedenen „identitären“ Gruppen nehmen, sind die Verbindungen, personellen Überschneidungen und Netzwerke wohl unübersehbar. Seien es die diversen Kader aus Deutschland, die zugleich in der „Identitären Bewegung“ und der „AfD“, beziehungsweise der Jungen Alternative tätig sind. Gerade auch durch die sich überschneidenden Netzwerke zwischen den rechtsextremen Parteien, rechtsextremen Burschenschaften und der „Identitären Bewegung“ werden diese Verbindungslinien nochmal umso deutlicher. Grade in Österreich zeigte der aktuelle Wahlkampf der Österreichischen Höcherschlüer*innenschaft, dass ein Engagement in der „Identitären Bewegung“ nicht das Ende einer rechtsextremen Karriere ist, sondern vielfach eher ihr Anfang. Ich spreche hiervom vorher erwähnten Wechsel Markovics zur studentischen FPÖ-Vorfeldorganisation RFS (Ring Freiheitlicher Studenten).
Grade für die „AfD“ sind die von „Ein Prozent“ mit Unterstützung „identitärer“ Aktivist*innen durchgeführten „Wahlbeobachtungen“ ein nützliches Mittel, um gezielt Stimmung gegen eine parlamentarische Demokratie, wie die Bundesrepublik Deutschland eine darstellt, zu machen. Und auch im österreichischen Bundespräsidentenwahlkampf zeigte sich, dass „Identitäre“, wie Alexander Markovics gerne helfend anpacken dürfen.
Auch dem bereits erwähnten rechtsextreme Vernetzungskongress in Linz wurde maßgeblich politisch von der FPÖ der Rücken gedeckt und ihr Generelsekretär, Herbert Kickl, trat sogar als Gastredner in Erscheinung. Der parlamentarische und außerparlamentarische Rechtsextremismus arbeiten hier grade aktuell mehr als gut zusammen. Am Rande sei hier auch noch bemerkt, dass der Kongress nur mit Unterstützung der christlich-konservativen ÖVP stattfinden konnte, deren studentischer Ableger AG (Aktionsgemeinschaft) zuletzt durch antisemitische und antimuslimische Verhetzungen auffiel.
Und letztlich muss ich hier ein Argument vom Beginn dieses Interviews nochmals ausweiten: Anders als zum Beispiel dezidiert neonazistische Gruppen geht es der „Identitären Bewegung“ nicht um einen völligen Umwurf gesellschaftlicher Ordnung. Vielmehr um eine Stärkung rechtsextremer Ideologie im Rahmen der bestehenden herrschaftlichen Ordnung. In diesem Sinne sind sie dann letztens auch mehr als gute Verbündete.
Nicht unerwähnt bleiben darf und muss an dieser Stelle aber eben auch, dass rechtsextreme Parteien immer schon einen Rückzugsraum für außerparlamentarische Aktivist*innen darstellen. Fraktionen und deren Abgeordnete konnten Jobs verschaffen und dergestalt Existenzen sichern, die es so sicherlich, auch wegen ihrer rechtsextremen Karriere, arbeitstechnisch äußerst schwer hätten. In Österreich nimmt die FPÖ seit langem diese Position ein. In Deutschland können wir grade mit dem Aufkommen und der Etablierung der „AfD“ eben ähnliches feststellen. Eine „AfD“-Fraktion im Bundestag wird hier sicherlich nochmal sehr spannend in der Analyse.
Sellner und andere sind immer wieder im „Institut für Staatspolitik“ bei Götz Kubitschek in Schnellroda zu Gast und bekommen dort Schulungen und Unterstützung. Wie sieht seine Position aus und wie viel Einfluss hat er?
An das „Institut für Staatspolitik“ („IfS“) waren auch schon vor dem großen medialen „Hype“ um die „Identitäre Bewegung“ Personen angeschlossen, die für die Entwicklung der „Identitären Bewegung“ im deutschsprachigen Raum von enormer Bedeutung sind. Allen voran sicherlich Martin „Lichtmesz“ Semlitsch der schon seit Jahren für die „Sezession“ schreibt und für das „IfS“ aktiv war und der, grade auch durch seinen Umzog von Berlin nach Wien bedingt, sicherlich einer der wichtigsten Stichwortgeber und Übersetzer für die „Identitäre Bewegung“ ist und auch starken Einfluss auf sie als Organisation hat.
Auf der anderen Seite finden sich aber auch schon früh beim „IfS“ solche Akteure, wie Nils Wegner und Felix Menzel, die mittlerweile ja am besten unter dem durchaus flappsigen Begriff „Identitäre-Fan-Boys“ zusammengefasst werden können.
Die Position von Götz Kubitschek ist in diesem Netzwerk sicherlich eine, die am schwierigsten zu bewerten ist. Wahrscheinlich auch deswegen, weil Kubitschek mit seiner „Konservativ Subersiven Aktion“ schon Jahre vor Aufkommen der „Identitären“ versuchte mit ähnlichen Methoden für Aufmerksamkeit zu sorgen und hier mehr als kläglich scheiterte. Wie sehr Kubitschek mit Formen rechtsextremer Organisation hardert, die nicht ihn als großen Denker anerkennt, wird gerade in dem Gesprächsband Tristesse Droite sehr deutlich.
Dennoch ist das Verhältnis von Götz Kubitschek und Martin Sellner sicherlich die wichtigste und interessanteste Verbindung. Hier ist es letztlich zwei narzistischen Persönlichkeiten gelungen in Zusammenarbeit etwas zu erschaffen, dass größer ist, als die Summe der einzelnen Teile.
Es war Sellner, der Kubitscheks Unternehmen und Auftreten in die Welt der Vlogs, des digitalen Marketing und Co. überführte, und eben auch Sellner, der maßgeblich dafür sorgte, dass das „IfS“ als wichtigster Schulungsort der „Identitären Bewegung“ im deutschsprachigen Raum etabliert wurde. Es muss an dieser Stelle nicht sonderlich groß erwähnt werden, was das primäre Resultat dieser Entwicklungen war: Mehr Kundschaft für den Geschäftsman Kubitschek. Aktuelle Videos von „Akademien“ in Schnellroda zeigen deswegen auch meiner Meinung nach immer primär Eines: Was für ein großes Geschäft diese Akademien für Kubitschek sind.
Auf der anderen Seite ermöglichte Kubitschek der „Identitären Bewegung“ schnell und unkompliziert Vertriebs-und Publikationswege, auf denen die sie eine, für eine solche junge Gruppe durchaus ungewöhnlich große, Anzahl an Menschen erreichen konnten.
Dennoch bleibt eines: Kubitschek konnte sich, trotz seiner Bemühungen sich zum großen Akteur der außerparlamentarischen Rechten aufzuschwingen, nie vollends zur großen Führungsfigur generieren. Ein Briefwechsel mit Armin Nassehi und ein paar übertrieben seiner eigenen Inszenierung huldigende Print- und Fernsehreportagen mochten zwar kurzzeitig darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei Kubitschek um einen geistigen Zwerg handelt, gebracht hat ihm dies, außer einer treuen Schar „Identitärer Jünger“, aber letztlich reichlich wenig.
Es ist deswegen umso logischer, dass Kubitschek sich in seinem Narzismus denen zuwendet, von denen er weiß, dass sie keine Widerworte für ihn haben: Den „Identitären“.
Was funktioniert gegen die IB? Wie kann gegen sie vorgegangen werden? Ideologisch ist sie ja schon vielfach analysiert und angegriffen worden.
Auf solche Fragen kann und will ich hier keine scheinbar endgültige Antwort geben. Die Auseinandersetzung und das Engagment gegen rechtsextreme Organisationen und Akteuer*innen hängt meiner Meinung nach immer auch maßgeblich mit lokalen Gegebenheiten zusammen. Ich denke und ich weiß, dass es hier in Deutschland und Österreich grade aktuell sehr viele Gruppen und Personen gibt, die hervorragende Arbeit leisten. Und ich kann hier nur sagen: Seit solidarisch zueinander und unterstützt euch, damit diese Arbeit weitergehen kann!
Welches Potential hat die IB? In Teilen macht es den Eindruck, dass sie – überspitzt formuliert – nur eine rebellische Phase um die 20 abgreift. Wenn die Leute dann aber in den Ernst des Lebens kommen, keine Zeit mehr haben, da die Miete irgendwie reinkommen muss.
Ich halte es für einen grundsätzlichen Fehler Rechtsextremismus als ein Phänomen der Jugend zu begreifen. Etwas, dass sich sozusagen „auswächst“. Ja, Menschen, die irgendwann eine Familie versorgen müssen, tun sich vielleicht schwerer damit jedes Wochenende in einer Stadt auf eine Demonstration zu fahren. Ihre Gesinnung aber ändert sich letztlich nicht! So kommt es dann, dass sie sich vielleicht im zunehmenden Alter im Wahlkampf für Björn Höcke einsetzen oder doch lieber den jungen Aktivist*innen der „Identitären“ einen Teil des Monatslohns spenden. Wie gut eben so was funktioniert, zeigt sich in Österreich wohl recht exemplarisch an den rechtsextremen Burschenschaften.
Statistisch gesehen sind Ideologien, die maßgeblich auf der Ungleichheit der Menschen gründen, im zunehmenden Alter sogar verbreiteter und vor allem verfestigter. Ich würde auch deswegen immer dazu übergehen Rechtsextremismus als ein gesamtgesellschaftliches und alle Schichten, Altersgruppen und dergleichen zutiefst prägendes Konglomorat an Ideologien zu definieren. Rechtsextremismus bleibt in seinem Moment der autoritären Rebellion auch keine Rebellion gegen „vermeintlich“ Ältere, denn vielmehr einen gesellschaftlichen Status Quo und diese vermeintliche Rebellion eint. Eben auch, weil sie als Eintrittskarte nicht das Tickt „Jugend“ bedarf, denn vielmehr das Ticket des Hasses.
Noch irgendetwas, dass in der Betrachtung der IB zu kurz kommt?
Es gibt sicherlich vieles, was interessant ist sich anzuschauen und sicherlich auch ganz viele Dinge, die ich hier trotz der Ausführlichkeit meiner Antworten vergessen haben. Deswegen würde ich gerne etwas anbieten und zwar: Liebe Leute, die ihr diesen Text bis hierhin verfolgt habt. Ich würde mich über Fragen, Erweiterungen, Anmerkungen, Kritik, Einwände und Dergleichen sehr freuen! Entweder bei twitter.com/menschmerz oder Mail vonnichtsgewusst@gmx.at
Wie viele Leute werden es in Berlin sein?
Ich bin leider kein Hellseher. Da die Demonstration in Berlin aber für die deutschsprachige „Identitäre Bewegung“ das einzige große und internationale Event ist, muss leider davon ausgegangen werden, dass sie dieses Jahr mehr Menschen mobilisieren werden können, als bei ihrem ersten Versuch in Berlin eine Demonstration durchzuführen. Sicherlich werden diverse Personen aus Österreich und andere Kader aus dem benachbarten Ausland anreisen. Hierfür spricht auch, dass sich einzelne Gruppen der „Identitären Bewegung“ im Vorfeld durchaus exzessiv international vernetzt haben. Auch wird das Event in Berlin wohl das Ereignis für alle neuen und alten deutschen Gruppen sein. Und leider sind diese ja in den letzten Jahren nicht gerade weniger geworden. Ich würde an dieser Stelle also davor warnen, ihr Mobilisierungspotential zu unterschätzen, allerdings auch nicht ihren eigenen Lügen auf den Leim zu gehen. Mit mehreren tausenden werden sie wohl nicht durch Berlin spazieren.